Martin Scherbakov

Ein russisches Wintermärchen


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zweimal mehr als Russische, also wenn dich mal jemand nach deiner Nationalität oder dergleichen fragt, antwortest du nur stur mit: „Schto?“

      Hast du es verstanden?“

      „Schto?“ (=Was?) wiederholte Paula.

      „Perfekt!“

      Langsam verstand Paula, dass ihr Opa hier überflüssig sein würde. Sie teilte ihm, wie versprochen, ein Datum und einen Ort mit, wählte das erstere jedoch so, damit es für Alfred so gut, wie ausgeschlossen wäre, rechtzeitig zu kommen. Sie schrieb ihm also eine kurze SMS:

      „Morgen um 12:00 vor dem Kreml, danach fliegen wir nach Sibirien!“

      Paula fühlte bereits, dass sie morgen wahrscheinlich schon wieder einen seltsamen Tag in der russischen Hauptstadt verbringen würde. Besonders nachdem Petrov sagte:

      „Morgen sehen wir die Lenin-Mumie!“

      Vor dem Schlaf dachte sie noch einmal an Petrovs Satz:

      „Russland ist anders!“

      Morgens um 9 rief Petrov sie zum Frühstück. Es gab Grießbrei.

      „In Russland heißt es „Manka“ und auf jeden Fall gehört hier Heidelbeermarmelade hinein, selbstgekauft!“ schmunzelte Petrov.

      „Also Ma-, Manka“, wiederholte Paula.

      „Exakt!“

      „Ich brauch ab heute unbedingt einen Sprachführer!“ fügte Paula hinzu.

      „Du lernst doch Russisch in der Schule, oder nicht?“

      „Ja, aber…“ sprach Paula unsicher bis Petrov sie unterbrach:

      „Aber lernen tust du dort nicht sonderlich viel, nicht wahr?“

      „Doch, ich kann einigermaßen die Zukunftsformen!“ sagte Paula stolz.

      „Wenn du die ganze Zeit in der Zukunftsform reden wirst, bringt dich das nicht sonderlich weiter!“

      „Du hast eigentlich immer noch nicht meine Frage beantwortet!“ Paula wollte Petrov wieder auf ihre Bitte hin aufmerksam machen.

      „Ja, irgendwas hätte ich da für dich!“ Petrov erhob sich langsam und bewegte sich schlendernd zu dem in dem Wohnzimmer stehenden Wandschrank. Nachdem Paula zum ersten Mal diesen Wandschrank sah, dachte sie sich gleich:

      „Der muss wohl aus dem vorletzten Jahrhundert stammen!“

      Durchaus hatte dieser Schrank schon vieles erlebt, darüber erzählte Petrov seiner einzigen Zuhörerin am Vorabend:

      „Dieser Schrank wurde noch im 19. Jahrhundert gebaut, erstklassige Arbeit eines wahren Schreinermeisters. Diesen Schrank besaß noch meine Uroma, danach meine Oma, meine Mutter und jetzt steht er hier! Er erlebte schon den Sturz der russischen Monarchie, die beiden Weltkriege, den Zerfall der Sowjetunion! Dieser Schrank ist, in der Tat, wirklich großartig!“

      Gewissermaßen sah man den eigentlichen Schrank gar nicht: Zahlreiche alte Bücher, von denen Paula Angst hatte, einen Asthmaanfall zu bekommen, Bildbände aus früheren Zeiten, irgendwelche Boxen und zentimeterdicke Schichten Staub taten alles, um den aus Eichenholz gefertigten Schrank von den neugierigen Augen ausländischer Touristen zu verbergen. Petrov näherte sich also diesem Schrank und hatte sich vorgenommen, das unmögliche zu vollbringen: Einen Deutsch-Russischen Sprachführer zu finden, der sich irgendwo in den Tiefen der Kommode befand. Petrov begann, richtige Ausgrabungsarbeiten durchzuführen. Er fand schließlich, vielleicht unter dem Schrank, eine Gasmaske, wahrscheinlich aus dem zweiten Weltkrieg, die er zu seinem Schuss vor den Unmengen an Staub anzog. Paula jedoch nieste pausenlos, ohne einen einzigen Atemzug machen zu können.

      „Du niest wie eine Katze von einem Schrottplatz!“ meinte Petrov zu den Geräuschen, die von Paula kamen.

      „Danke, sehr nett von…!“ und schon musste Paula wieder fünfmal hintereinander niesen.

      Nach einer guten halben Stunde war es endlich geschafft. Mittlerweile war der Detektiv umgeben von Türmen an Fotoalben, Bergen an Taschenbüchern und Mauern von Bildbändern.

      „Ich hab es!“ jubilierte Petrov.

      Mit einem triumphierenden Gesichtsausdruck überreichte Petrov seinem „Schrottplatzkätzchen“ den Sprachführer.

      „Der ist aber Russisch-Deutsch und nicht Deutsch-Russisch!“ erwiderte Paula.

      „Was Anderes habe ich nicht!“ Petrov wirkte etwas unglücklich nachdem Paula das von ihm lang gesuchte Werk ablehnte.

      Petrov trank noch seinen, mittlerweile kalt gewordenen Tee und Paula inspizierte den Sprachführer:

      „1978! Sehr interessant! Und dabei fehlen noch die letzten 30 Seiten! Nicht so tragisch! Dort wurde eh nur die Speisekarte erklärt! Den Mäusen hat es wahrscheinlich ziemlich gut geschmeckt!“ nuschelte Paula vor sich hin.

      Ihr fiel kurz darauf der Sprachführer aus Versehen auf den Boden, als sie ihn jedoch versuchte aufzuheben, gelang ihr dies nicht ganz: Der Sprachführer zerfiel einfach in zwei Hälften, davon blieb eine am Boden liegen.

      „Ehm, ich habe hier ein kleines Problemchen!“ flüsterte Paula Petrov zu.

      In diesem Moment atmete der Detektiv schwer aus, klappte sein Notebook zu, an dem er in dieser Zeit arbeitete und sagte bloß:

      „Lass uns hier verschwinden!“

      Petrov fuhr aus seiner Garage wieder seine alte „Kopejka“ heraus, doch noch bevor Paula einstieg, hörten beide ein stumpfes „Bumm“ und als Petrov die Vorderhaube öffnete, sah er den daraus steigenden Dampf und Rauch und rief:

      „So, das Auto ist im Arsch! Fahren wir mit der Metro!“ Petrov rieb seine Handflächen an seinem Gesicht ab.

      „Verdammt!“ schrie Petrov zum Schluss und fügte noch etwas auf Russisch bei, das besser nicht übersetzt werden sollte. Paula sagte lieber gar nichts. Sie blieb in einer Stockstarre stehen und konnte sich nicht vom Fleck bewegen. Erst nachdem Petrov an ihr rüttelte und ihr ausdrücklich ins Ohr schrie, dass sie immer noch eindeutig am Leben seien und das eigentlich gar nichts passierte, begann Paula allmählich wieder aufzutauen. Wie nach einem schweren Autounfall bewegten sich die zwei Überlebenden zur Metrostation. Zur der jedoch war es ein weiter Weg: Zuerst fuhren sie einige Stationen mit dem Trolleybus, es war ein Samstag, deshalb konnten sie sogar zwei von den heißbegehrten Sitzplätzen erwischen. Die Tickets erhielt man an Bord, jedoch nicht beim Busfahrer, sondern bei einer speziellen Person, die durch den Bus in einer roten Warnweste immer hin und her hastete, um jedem einzelnen Fahrgast die allgegenwärtigen Fahrkarten zu bescheren. Das System war gut ausgelegt, dachte sich Paula, es könnte dabei eigentlich keine Schwarzfahrer geben.

      An der Metrostation angelangt, mussten sich die beiden unglücklichen Autofahrer neue Tickets besorgen, da die alten nur für eine Fahrt mit dem Trolleybus galten. Dieses System gefiel Paula schon weniger, dagegen war sie von den langen Rolltreppen beeindruckt.

      „Und das nennst du lang?“, Petrov lachte kurz auf.

      „Du warst noch nicht in Sankt-Petersburg! Dort gibt es nämlich die längste Rolltreppe der Welt! Man braucht ganze vier Minuten, um an die Oberfläche zu gelangen!“

      „Macht bestimmt Spaß!“ meinte Paula.

      „Nicht, wenn du dich beeilen musst!“ Petrov lächelte.

      Im Zentrum angekommen, begaben sich die beiden auf Entdeckungstour. An der Kasse zum Kreml sah Paula einen Souvenirmünzenpressautomaten. Sofort wollte sie eine Münze pressen, denn sie besaß schon eine bemerkenswerte Kollektion solcher gepressten Münzen aus allen möglichen Ecken Deutschland und auch aus einigen großen Hauptstädten Europas. Paula warf erwartungsvoll die benötigten Münzen in die dazu vorgesehenen Schlitze und begann an der Kurbel zu drehen. Doch diese drehte sich nur durch. Paula lief sofort zu ihrem Schutzpatron, um sich zu beklagen, in welch auswegloser Situation sie stecke. Petrov agierte sofort, rief jemanden von dem Servicepersonal bei und fragte ihn, wieso