Helga Bögl

Ella - Braves Mädchen - Wegwerf-Frau


Скачать книгу

streng war Vater, wenn sie alle bei Tisch saßen. Der Teller musste immer leer gegessen werden, und um das durchzusetzen, stand der Teppichklopfer stets griffbereit. „Vielleicht ist das ja so, wenn man älter wird, dass man dann viel an die Zeit von früher denkt“, ging es ihr durch den Kopf. Sie hatte schon einmal gehört, dass Menschen, wenn sie älter wurden, sehr oft in der Vergangenheit leben, und schließlich war sie ja bereits etwas über fünfzig. Vielleicht gehörte sie auch schon dazu, weil sie so viel an früher dachte und so viel grübelte?

      Erinnerungen an die Kindheit

      Ja früher, das war eben eine andere Zeit. Eine Zeit, die man sich heute gar nicht mehr vorstellen kann. Damals, nach dem Krieg, war sie mit ihren Eltern, es war 1946 im Mai, aus der Tschechoslowakei ausgewiesen worden. Sie war knapp acht Jahre alt. Deutsche Kinder hatten es in den Jahren 1945/46 nicht leicht. Sie durften nicht zur Schule gehen und so versuchte Ellas Oma, dem Kind ein bisschen Lesen und Schreiben beizubringen.

      Viele Begebenheiten aus ihren Kindertagen hatten sich in Ellas Gedächtnis festgebrannt. So konnte sie den Tag nie vergessen, an dem sie mit ihrer Mutter und ihrem Bruder, der damals noch ganz klein war, in den Luftschutzkeller geflüchtet war, der ein paar Häuser weiter zur Verfügung stand. Die Sirenen heulten, und die Menschen liefen alle aufgeregt durcheinander. Jeder versuchte, ein paar seiner Habseligkeiten in den Keller mitzunehmen. Ihre Mutter stellte plötzlich fest, dass sie das Sparbuch vergessen hatte. Sie ließ die beiden Kinder in dem Keller allein, um nochmals schnell nach Hause zu laufen und das Sparbuch zu holen. Ella umklammerte ihren kleinen Bruder und hatte furchtbare Angst, dass Mutter nicht wiederkommen würde. Es war ein solches Stimmengewirr und Durcheinander, und viele Leute drängten eilig in den Keller. Sie spürte große Erleichterung und klammerte sich ängstlich an die Mutter, als diese wiederkam.

      Auch der gefangene Soldat, der durch das Fenster um Brot bettelte, fiel Ella wieder ein. Die damalige Wohnung ihrer Eltern war in einer langen Gasse gegenüber einem Gefängnis. Oft hörte Ella Schüsse, die durch die Mauern drangen, und manchmal auch Schreie. Als sie einmal mit den Nachbarskindern auf der Straße spielte, klopfte ein Mann von innen an das Gefängnisfenster. Das Fenster ragte nur halb aus der Erde, es musste dort der Keller gewesen sein. Der Mann deutete mit der Hand an den Mund und machte Zeichen, als ob er Hunger hätte. Ella rannte zu ihrer Mutter und erzählte ihr, was sie gesehen hatte. Die Mutter gab ihr einen halben Laib Brot, den Ella dann dem Mann durch die Gitterstäbe am Fenster durchsteckte, und der Mann verschwand dann eilig mit dem Brot.

      Und an die Zeit der Zwangsausweisung konnte sich Ella noch ganz genau erinnern. Die Leute in dem kleinen Dorf, in dem sie geboren wurde, wurden zusammengetrieben wie eine Viehherde und in ein Auffanglager gesteckt. Sie konnte sich noch an eine große Halle mit Betonfußboden entsinnen, auf dem Stroh ausgelegt war, und dort schliefen viele Menschen. Es waren vor allem Frauen mit Kindern und viele alte Leute. Mutter besaß einen Blechnapf, mit dem Ella zum Essenholen geschickt wurde. Ihre Mutter musste bei Ellas kleinem Bruder bleiben, der zu dieser Zeit krank war. Alle Leute mussten vor dem Ausschank in der Suppenküche in einer langen Reihe anstehen, und jeder wartete geduldig, bis er an der Reihe war und ein wenig zu essen bekam. Es gab wirklich nur wenig, meistens nur ein bisschen Suppe mit einigen Kartoffelstückchen, manchmal gab es auch etwas Tee und eine kleine Scheibe Brot. Was sonst noch in dem Lager geschah, hatte sie gedanklich irgendwie verloren. So sehr sie sich auch zu erinnern versuchte, es war nichts mehr da, es war wie ausgelöscht. Nun ja, sie war auch ein sehr verträumtes Kind und hatte vielleicht alles nur verdrängt und konnte sich deshalb an viele Vorkommnisse nicht mehr erinnern.

      Die Verladung auf dem Bahnhof, als alle in die vielen Waggons gezwängt wurden, konnte sie sich wieder ins Gedächtnis rufen. An der Grenze nach Deutschland mussten alle aussteigen. Alle mussten in einen großen Waschraum gehen und sich ausziehen, und zwar nackt. Dann kamen irgendwelche Leute und besprühten die Menschen zuerst mit einem weißen Pulver, um sie dann abzuduschen. Es hieß, es sei wegen der Läuse und Flöhe, die sonst eingeschleppt werden könnten. Alle mussten zurück in die Waggons, und die Fahrt ging dann weiter. Unvergessen war Ella noch der Bahnhof, an dem einige Leute aussteigen mussten. Bauern standen dort mit Traktoren und Anhängern. Ganz plötzlich war auch ihr Vater da. Mutter fiel ihm in die Arme. Während alle auf die Anhänger verladen wurden, erzählte Vater, wie er sie gefunden hatte. Er berichtete auch, dass er aus dem Gefängnis ausgebrochen war und sich bis zur Grenze versteckt halten musste. Es war ein großes Durcheinander auf dem Bahnhof. Keiner wusste, was man zu erwarten hatte. Als alle Leute aus den Waggons auf die Traktoren und Hänger verteilt waren, ging die Fahrt weiter. Vorher hatte noch jeder vom Roten Kreuz, das auf dem Bahnhof anwesend war, eine Zahnbürste mit Zahnpasta bekommen. Dazu erhielt jeder eine warme Decke und einen Becher mit heißen Tee. Zusätzlich bekam von den Erwachsenen jeder ein aufklappbares Feldbett. Das wusste Ella noch genau. Viele Jahre danach hatte Vater dieses Bett immer noch, und wenn er von der Nachtschicht nach Hause kam und das Wetter war schön, legte er sich mit diesem Feldbett in den Garten.

      Am Bahnhof musste Ella noch zur Toilette. Sie staunte, denn da war eine richtige Toilette mit Kloschüssel, und ein Waschbecken war auch da. Es war nicht wie im Waggon, wo in der Mitte ein Loch im Boden war, und wenn einer „musste“, breiteten ein paar Leute ihren Mantel aus, standen mit dem Rücken zum Loch, und mit ausgebreiteten Mänteln verdeckten sie die Blicke, so dass die Notdurft verrichtet werden konnte. Auch bei Großmutter gab es kein solches Klo. Da gab es ein kleines Häuschen hinten im Stall. Man setzte sich auf ein Brett, das über einem Loch befestigt war, und zum Säubern nahm man altes Papier. Wenn man einmal nachts musste, nahm Großmutter einen Nachttopf, ein sogenanntes „Potschamperl“ unter dem Bett hervor, das dann am Morgen ausgeleert wurde.

      Ella wusste noch, dass sie damals auch die Großmutter und den Großvater aus einem der Waggons aussteigen sah, und die Tante, die Schwester ihrer Mutter, war auch mit dabei. Auch sie wurden alle auf einen Anhänger verladen. Die Fahrt ging über holprige Straßen, durch einen dichten Wald und über einen Feldweg. Dann waren sie plötzlich im Hof bei einem Bauern, und es kamen zwei Frauen, die beim Absteigen behilflich waren.

      Jede Familie wurde bei einem anderen Bauern abgeladen, alle aus den Waggons wurden auf die umliegenden Dörfer verteilt. Großmutter und Großvater und auch die Tante wurden bei einem Bauern im gleichen Dorf wie Ella und ihre Eltern abgeladen, und Ella freute sich, dass sie alle beisammen waren. Nur ihre beiden Onkel, die Brüder ihrer Mutter, fehlten noch. Die seien immer noch in Kriegsgefangenschaft in Russland, so hatte sie einmal gehört, als die Erwachsenen sich unterhielten. Sie liebte ihre Großmutter sehr, denn sie hatte ja die ersten fünf Jahre bei ihr auf dem Bauernhof verbracht. Sie war ein „lediges Kind“, wie man damals sagte, und ihre Eltern heirateten erst, als Vater von der Front heimkam. Das war genau an ihrem ersten Geburtstag. Das Häuschen, das Ellas Familie zugewiesen bekam, war vorher ein sogenanntes Austragshaus gewesen. Das ist ein kleines Häuschen neben einem Bauernhof, in welches üblicherweise der Bauer oder die Bäuerin einzogen, falls eines der Kinder den Hof übernehmen würde. Meistens war das der ältere Sohn. Aber in diesem Falle gab es auf dem Bauernhof keinen männlichen Erben. Es waren nur drei heiratsfähige Töchter da, und die älteste davon hatte ein verkürztes Bein und hinkte. Die Bäuerin mit ihren Töchtern war nicht gerade erfreut, weil sie Ella und ihre Familie aufnehmen mussten. Das Häuschen, das nun ihr neues Heim werden sollte, stand lange Zeit leer und wurde vorübergehend als Unterkunft für die Schweine genutzt. Es war zwar saubergemacht und notdürftig hergerichtet, aber der Geruch der Schweine hing noch in der Luft. Die Wände waren noch eine Handbreit über dem Boden ganz feucht und schmutzig. Es waren zwei kleine Räume. Man ging durch den einen Raum in den anderen, das war bei Ella noch sehr präsent. Vor ihrem geistigen Auge sah sie ihren Vater vor sich, wie er mit einer Kelle den feuchten und stinkenden Mörtel vom unteren Rand der Mauern kratzte und neuen Mörtel aufzog. Ihre Mutter schrubbte den Bretterboden mit einer Wurzelbürste und murmelte: „Hauptsache, wir haben ein Dach über dem Kopf.“ Die erste Verpflegung bekam die Familie von der Bäuerin. Etwas Milch und etwas Brot, und am Abend wurde die ganze Familie beim Bauern zu einer Brotsuppe eingeladen. Nie im Leben hatte ein Essen so gut geschmeckt. Es gab gekochte Kartoffeln, die mit einem Löffel aushöhlt wurden, und dieser Inhalt wurde zur Brotsuppe gegessen, in die man noch vorher etwas Milch gegossen hatte.

      Ellas Mutter arbeitete von da an als Magd