Helga Bögl

Ella - Braves Mädchen - Wegwerf-Frau


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nach Hause oft alleine zurücklegen. Im Winter war es immer schon früh finster und sie fürchtete sich oft sehr. Die Wege waren so schlecht, dass es nicht selten vorkam, dass Ella mit einem Loch im Fahrradschlauch nach Hause kam. Vater wurde diese Flickerei im Laufe der Zeit zu dumm, und er zeigte ihr, wie man einen Fahrradschlauch flickte. Manchmal musste sie mitten im Wald ihr Flickzeug auspacken, um das Loch im Fahrradschlauch zu reparieren. Deshalb kam es dann vor, dass sie später nach Hause kam, oft erst am Nachmittag. Manchmal traf sie hungrig zu Hause ein, und dann kochte ihre Mutter einen Grießbrei, weil doch die Essenszeit schon vorüber war. Auch kam es vor, dass ihr die Mutter, wenn sie beim Bauern bei der Ernte half, den Grießbrei schon vorher gekocht hatte und über dem Wasserschiffchen am Herd warm hielt, dann war dieser Brei oft schon ganz eingetrocknet. Aber er schmeckte auch so, wenn man Hunger hatte.

      Ella war ein verträumtes Kind und kam oft von der Schule spät nach Hause. Auf dem Heimweg gab es doch so viel zu sehen und zu entdecken. Im Frühling zum Beispiel die Buschwindröschen oder die Maiglöckchen, die am Waldrand wuchsen und so wunderbar dufteten. Sie kannte viele Pflanzen und Pilze. Einmal sah sie im hohen Gras ein kleines Bambi liegen, das sie so gerne gestreichelt hätte. Doch sie hatte in der Schule gelernt, dass man Jungtiere nicht anfassen sollte. Ella liebte Tiere sehr. Menschen gegenüber war sie jedoch immer voller Misstrauen. Eines Tages entdeckte sie bei ihren Streifzügen durch die Natur versteckt zwischen zwei Wiesen ein kleines Rinnsal. Rund um dieses Bächlein wuchsen viele Dotterblumen. Ella war ganz hingerissen von den gelben Blumen, die da in der Sonne leuchteten. Sie kannte ja viele Blumen mit Namen, das hatte sie von ihrer Großmutter gelernt, und sie wusste, dass diese Blume so hieß, weil sie so gelb war wie der Dotter eines Eies. Sie kannte den Klatschmohn und die blauen Kornblumen, die ihre Köpfe zwischen den Ähren auf den Kornfeldern in den Himmel streckten. In den Wiesen wuchsen Grasnelken, Vergissmeinnicht, Löwenmaul und Löwenzahn. Auch eine Pflanze, die Sauerampfer hieß, wuchs dort, und man konnte die Blätter sogar essen, und das taten die Kinder oft. Dazwischen der Gewürzkümmel, den sie mit der Großmutter oft gesammelt hatte. Doch keine der Pflanzen, fand Ella, war schöner als die Dotterblume, und so wurde dieser Platz zwischen den Wiesen an dem kleinen Bächlein der Lieblingsplatz von ihr. Am schönsten war es, wenn sie hier im Gras lag und dem Gezirpe der Grillen zuhörte. Sie bildete sich sogar ein, wenn sie mit einem Ohr ganz nah am Boden lag, das Gras wachsen zu hören. Verträumt schaute sie dann in den Himmel, und entdeckte in den Wolken die unterschiedlichsten Gesichter, so dass sie oft die Zeit vergaß. Sie berührte das Zittergras, das neben ihr wuchs und wunderte sich, wenn die kleinen Herzchen im Wind hin und her wiegten. Sie verfolgte das Auf- und Abschweben der Feldlerche und war ganz fasziniert von ihrem wunderschönen Gesang. So kam es immer wieder vor, dass sie verspätet nach Hause kam und das Essen dann kalt war.

      Ella verriet nie jemandem ihren Lieblingsplatz, aber zum Muttertag pflückte sie immer für ihre Mutter einen kleinen Strauß von diesen Dotterblumen, denn Blumenläden, so wie man sie heute kennt, gab es damals noch nicht. Oft merkte ihre Mutter gar nicht, dass es schon spät war, wenn Ella nach Hause kam, denn sie half hin und wieder beim Bauern auf dem Feld bei der Ernte. Es kam auch vor, dass ihre Mutter den kleinen Bruder mit auf die Wiesen nahm, die gemäht wurden. Der freute sich dann und saß jauchzend auf dem heimfahrenden Heuwagen. Morgens zur Schule fuhr Ella meistens mit den Jungen, aber am Nachmittag hatte sie oft noch zusätzlichen Unterricht. Manchmal war es Handarbeit, manchmal war es Sport oder Chorsingen. So war sie auf dem Nachhauseweg oft allein. Mit fortschreitender Jahreszeit war es am Spätnachmittag, wenn sie heimfuhr, meistens schon dunkel. So passierte es einmal, dass in dem Wald, den sie ungefähr zwei Kilometer zu durchfahren hatte, Amerikaner, die in der Nähe stationiert waren, Manöver abhielten. In der Schule war es wieder einmal spät geworden, und als sie durch den Wald heimradelte, stand plötzlich ein Amerikaner mitten auf der Straße, und es sah so aus, als ob er sie anhalten wollte. Ella bekam es mit der Angst zu tun. Sie sah sich um, als ob sie Hilfe erwarten würde. Erleichtert stellte sie fest, dass einer der Jungen, die mit ihr aufs Gymnasium gingen, hinter ihr in der Ferne zu sehen war. Auch der Amerikaner sah das, und er verschwand ganz plötzlich wieder im Wald. Ella erwähnte das Vorkommnis mit keinem Wort zu Hause.

      Eigentlich hatte sie kein besonders gutes Verhältnis zu ihren Eltern und war als Kind auch nicht glücklich in ihrem Elternhaus. Sie war ja „nur“ ein Mädchen. Ihr Bruder, der war als Junge das Ein und Alles ihrer Eltern, das bekam sie oft zu spüren. Immer, wenn er etwas angestellt hatte, wurde sie dafür bestraft, weil sie angeblich nicht genügend auf ihn aufgepasst hatte. Ihr Bruder war vier Jahre jünger als sie und das „Herzibinkerl“, wie Oma immer sagte. Er bekam auch immer alles, was er wollte, und sie nicht. Er hatte einen Fußball, er hatte ein Luftgewehr und er hatte Schlittschuhe. Das traf sie am meisten, denn sie hätte so gerne auch Schlittschuhe gehabt. Wenn sie wenigstens einen Schlitten gehabt hätte, denn es gab in ihrem Dorf einen kleinen Hügel, wo die anderen Kinder Schlitten gefahren sind. Doch wo sollten sie einen Schlitten hernehmen? Sie hatten ja kein Geld. Und weil auch ihr Bruder sich so sehr einen Schlitten wünschte, ging ihr Vater in den Wald, hielt nach einem Baum Ausschau, der dick genug war, fällte ihn, und in der Scheune beim Nachbarn zimmerte er daraus einen Schlitten.

      Ella musste grinsen. Dieser Schlitten steht noch heute in ihrem Haus im Keller. Einen von Hand geschnitzten Schlitten, wer hat das heute noch? Überhaupt waren zur jetzigen Zeit Sachen aus früheren Zeiten sehr begehrt. Es gab Sammler, die für solche alten Sachen viel Geld ausgaben, und obwohl dieser Schlitten schon ganz gebrechlich aussah, wollte sich Ella nicht von ihm trennen. Um die Schlittschuhe beneidete sie ihren Bruder sehr, und einmal hatte sie es gewagt, sich die Schlittschuhe des Bruders heimlich zu nehmen. Dann ist sie mit einer Freundin auf den zugefrorenen Dorfweiher gegangen. Sie schnallte sich die Schlittschuhe auf ihre einzigen Schuhe, die sie hatte, an. Damals hatten Schlittschuhe noch Krallen, die man an den Schuhsohlen einhängen musste, und wenn man keine stabilen Schuhe hatte, konnte es passieren, dass eine Schuhsohle auch schon mal abgerissen wurde. Genau das passierte Ella, und sie traute sich nicht nach Hause, sie wusste genau, was passieren würde. Sie würde Prügel vom Vater bekommen, doch ihre Freundin wusste Rat. Sie nahm Ella mit zu ihrem Vater, der Sattler war, und dieser nagelte die Schuhsohlen wieder an.

      Ihr Bruder wurde immer bevorzugt, und das nagte an ihr. Besonders, nachdem Ella ja jede freie Minute, die sie hatte, arbeiten musste. Nach der Schule ging sie als Kindsmagd zum Nachbarn, der war Metzger, und so fiel immer etwas zu essen ab, das sie dann nach Hause brachte. Besonders oft bekam sie einen Topf voll mit Kesselsuppe, das war eine Suppe, in der der Metzger seine Innereien und Würste kochte, und die immer so stark gerochen hat. Vor dieser Suppe graute ihr noch heute, und wenn sie die Augen schloss und sich diese vorstellte, stieg ihr dieser scheußliche Geruch immer noch in die Nase.

      Besonders in den Herbstferien gab es für Ella viel zu tun, nämlich Gänsehüten beim Bauern. Eine ganze Gänseschar musste sie zu einem kleinen Weiher am Ende des Dorfes treiben, sie im Weiher baden und auf der angrenzenden Wiese grasen lassen. Schlimm war es, wenn ein Gewitter im Anzug war. Da wurden die Gänse unruhig und fingen ein Stückchen über dem Boden aufgeregt zu fliegen an. Ella hatte dann alle Hände voll zu tun, sie beisammenzuhalten, und da wurde der Gänserich manchmal böse. Er fauchte und biss nach ihr, wenn sie ihn in der Gänseherde halten wollte. Vollzählig musste sie die Gänseherde am Abend beim Bauern wieder ins Gatter treiben, und dafür gab es dann ein Stück Speck und etwas Brot, das Ella dann nach Hause brachte. Es gab nicht viel in dieser Zeit. Sie erinnerte sich, wenn sie als Kind Durst hatte, machte Oma immer ein Gemisch aus Zucker, Wasser und einem Schuss Essig, und das war dann schon etwas ganz Besonderes. Limonade gab es erst viel später. Oma nannte es „Kracherl“, weil es beim Öffnen der Flasche immer so zischte.

      Wenn Ella an ihre Kinderzeit dachte, daran, dass sie oft Schläge bekam und manchmal nicht einmal so richtig wusste warum, wurde sie ganz traurig. Manchmal schlug Vater sie nicht, er hatte dann eine andere Strafe. Er ließ Ella auf einem kantigen Holzscheit in der Ecke der Wohnstube niederknien, und das tat dann besonders weh, und man spürte den Schmerz im Knie noch ziemlich lange danach.

      Große Freude hatte sie mit einem Hund, den ihr Vater nach Hause brachte. Sie nannte ihn Lumpi und sie streichelte ihn jeden Tag, wenn sie an seiner Hundehütte vorbeiging. Er durfte nie frei herumlaufen, war immer an einer viel zu kurzen Kette angebunden. Das war so üblich, man sah keine Hunde auf der Straße herumlaufen. Einmal erlaubte ihr Vater nach vielem Betteln, dass sie Lumpi mitnehmen durfte,