Helga Bögl

Ella - Braves Mädchen - Wegwerf-Frau


Скачать книгу

in der Tschechoslowakei Damenschneiderin gelernt, und so wurde sie bald bei verschiedenen Bauern eingeladen, um Kleidung auszubessern oder auf Hochzeiten zu helfen, die Braut zu schmücken. In dieser Zeit musste Ella immer auf ihren kleinen Bruder aufpassen und nach dem Mittagessen das Geschirr spülen. Sie hasste das als Kind, und auch heute noch mochte sie es nicht, Geschirr abspülen zu müssen. Ihre Mutter half auch sehr oft bei den Bauern, die Aussteuer für die Braut herzurichten, und Ella konnte sich mit Schmunzeln noch daran erinnern, wie da geschummelt wurde. Im Aussteuer-Schrank wurde hinter die Wäsche Zeitungspapier gestopft, die Wäsche dann mehrmals gefaltet und von hinten mit dem Zeitungspapier gestützt, damit es von vorne so aussah, als hätte die Braut ganz viel Wäsche im Schrank. Es war ja Brauch, dass die Hochzeitsgäste sich die Mitgift der Braut ansehen durften.

      Ihre Mutter war überhaupt sehr geschickt. Sie konnte so vieles, was man sich heute gar nicht mehr vorstellen kann. Sie machte selbst Bier. Es war zwar sehr dunkel, aber es schmeckte toll. Natürlich hatte Ella heimlich genascht, sonst hätte sie ja nicht gewusst, wie es schmeckt. Damals legte man für den Winter Vorräte an, denn frisches Gemüse gab es im Winter nur, wenn man vorgesorgt hatte. Ellas Mutter hatte eine Kiste im Schuppen, vollgefüllt mit Sand. In diese Kiste wurde Gemüse für den Winter eingegraben, das heißt, mit Sand zugedeckt, damit es frisch blieb. Am schönsten aber war es, wenn Ellas Mutter zu Weihnachten Schokolade machte. Sie verrührte Kakao und Zucker in einer Schüssel. Dann schmolz sie etwas Kokosfett und rührte dieses in die Kakao-Zuckermasse, bis ein gleichmäßiger Brei entstand. Das Ganze füllte sie dann in kleine Förmchen aus Aluminium. In eine bereits vorbereitete große Schüssel, die mit Schnee gefüllt war, legte sie diese Förmchen. Durch die Kälte des Schnees gefror die Kakao-Masse. Die Förmchen wurden dann aus der Schüssel mit dem Schnee herausgenommen, umgedreht und gestürzt. Ella und ihr Bruder freuten sich jedes Jahr schon vor Weihnachten auf diese wundervoll schmeckende Schokolade. Ihre Mutter konnte sogar Seife selbst herstellen. Oder sie schichtete Eier in ein großes Glas mit Kalkbrühe, damit die Familie jederzeit Eier hatte im Winter, wenn die Hühner nicht so viele Eier legten. Ellas Vater half zu der Zeit als Maurer in einer kleinen Baufirma im Dorf. Statt Geld brachte er oft Speck, Brot, ja sogar Hammelfleisch oder Milch mit nach Hause, manchmal auch Eier oder Fleisch von einem Kaninchen.

      Als Kind musste Ella oft bei Bauern im Nachbardorf abends zur Stallzeit, wenn die Kühe gemolken wurden, mit der Milchkanne vorbeikommen, um Milch abzuholen, die ihr Vater als Lohn für seine Arbeit bekommen hatte. Auf einem dieser Wege hatte sie ein Erlebnis, das sie nie vergessen konnte. In dunkler Nacht musste sie zu einem etwa vier Kilometer entfernten Bauernhof in den Nachbarort gehen. Ganz allein über Wiesen und Felder, vorbei an Büschen und umzäunten Viehweiden. Hinter jedem Busch hätte da jemand lauern können, und sie hatte furchtbare Angst. Es gab in dem Ort einen Schafhirten, der etwas behindert war. Alle nannten ihn den „Zucker-Spitz-Franzl“ und machten sich über ihn lustig, wenn er mit seiner Schafherde über die Felder zog. Er redete nie und hatte immer nur ein Grinsen im Gesicht. Als Ella an diesem Abend durch die finstere Nacht lief, stand dieser plötzlich neben ihr. Sie hatte ihn nicht bemerkt. Er war da, wie aus dem Nichts. Sie erschrak fürchterlich, und eine panische Angst überkam sie. Sie fing an zu laufen, und ihre Schritte wurden immer schneller. Grinsend lief er neben ihr her. So richtig sprechen konnte er nicht, er lallte etwas, das Ella nicht verstand. Sie blickte zur Seite und bemerkte, dass sein Hosenschlitz offen war, und er hielt seinen Penis in der einen Hand und mit der anderen freien Hand zeigte er darauf und grinste. Ella lief schneller, ja sie rannte geradezu, solche Angst hatte sie, und der Franzl rannte immer neben ihr her und lallte. Der Hof des Bauern, zu dem Ella musste, befand sich gleich am Ortsanfang, und als sie in den Vorgarten einbog, war dieser Franzl plötzlich verschwunden. Weinend fiel sie der Bäuerin um den Hals, doch diese lachte und sagte: „Aber du weißt doch, das ist der Depp, und der tut dir doch nichts.“ Sie bekam ihre Milch, und die Bäuerin begleitete sie noch ein Stück auf dem Nachhauseweg. Aber zu Hause erzählte sie von ihrem Erlebnis natürlich nichts.

      Als Ella so dasaß in ihrem Apartment und in Erinnerungen schwelgte, merkte sie gar nicht, wie schnell die Stunden vergangen waren. Es war schon spät, und das Wochenende war auch schon vorbei. Es wurde Zeit, dass sie zu Bett ging, denn am nächsten Morgen musste sie wieder zur Arbeit. In der Firma war gerade nicht das beste Betriebsklima, und sie war froh, als endlich der Arbeitstag zu Ende ging. Als sie dann wieder heimkam, nahm sie ihr altes Fotoalbum zur Hand und fing an, darin zu blättern.

      Da war zum Beispiel ein Klassenfoto von 1948, zwei Jahre nachdem sie in das Dorf gekommen waren. In der Tschechoslowakei durften die deutschen Kinder nicht zur Schule gehen, und so wurde sie erst im Dorf eingeschult, als sie schon fast acht Jahre alt war. Damals gab es noch die Zweiklassenschule, denn in dem Dorf waren nicht so viele Kinder. Im Umland waren lauter kleinere Dörfer oder Höfe verstreut, deren Kinder auch in die Schule in Ellas Dorf gehen mussten, und oft einen langen Schulweg vor sich hatten. In jedem Klassenzimmer waren zum Beispiel zwei Reihen Bänke. Eine Reihe galt für die erste Klasse. Die zweite Bankreihe für die zweite Klasse. Nachdem aber in der Reihe für die erste Klasse kein freier Platz mehr war, wurde Ella ein Platz in der zweiten Reihe, die eigentlich für die zweite Klasse war, zugewiesen.

      Überhaupt sah es in den Klassenzimmern ganz anders aus als heute. Es gab mehrere lange Tischreihen auf jeder Seite mit jeweils drei Sitzmöglichkeiten auf einer davor stehenden langen Bank. Jeder dieser Tische war leicht schräg in Richtung zu den Kindern. Am oberen, höheren Teil befand sich eine Rinne, in der man seine Stifte ablegen konnte. Für jedes der Kinder war dann im Abstand von etwa fünfzig Zentimetern eine Mulde in diesem Tisch mit einem integrierten Tintenfass, in das man bei Bedarf seine Schreibfeder, die an einem hölzernen Federkiel befestigt war, eintauchen konnte. Wenn die Feder etwas zu sehr beansprucht wurde, spaltete sie sich vorne und die Schrift wurde manchmal zu dick, und oft entstand auch ein Tinten-klecks auf dem Schreibblatt. Dann bekam man entweder zu Hause Schelte oder gleich in der Schule, denn der Lehrer war sehr streng. Er wollte, dass aus seinen Schülern tüchtige Menschen wurden.

      In den ersten Jahren nach dem Krieg gab es nicht viel zu essen, und die Kinder in den Dörfern freuten sich jedes Mal auf die Pause in der Schule. Da gab es manchmal eine Schulspeisung, gespendet von den Amerikanern. Zuweilen gab es eine Tasse Kakao und dazu ein Stück Gebäck, und darauf freuten sich alle schon die ganze Woche. Dann gab es auch ab und zu eine Haferschleimsuppe. Weil diese immer so sämig über den Löffel tropfte, gaben ihr die Kinder einen Spitznamen. Sie nannten sie „Rotzglocken-Suppe“. Sie schmeckte nicht so besonders, aber weil es ja so wenig zu essen gab, war man sogar über diese Gabe froh.

      Einmal als der Lehrer krank war, hatten die Kinder eine Aushilfslehrerin, die von den Jungen immer geärgert wurde. Manchmal wusste sie sich nicht mehr zu helfen, dann nahm sie einfach einen Teppich-Klopfer, stieg dann auf die Tischreihe, ging dort entlang und schlug jedem Jungen, egal ob schuld oder nicht schuld, mit diesem in den Rücken. Dieses Bild hatte Ella noch heute vor Augen. Wenn auch diese Schläge nichts halfen und die Buben nicht aufhörten, Unsinn zu machen, rannte sie über den Hof hinüber zum Pfarrhof und holte den Pfarrer. Doch wenn der dann endlich prustend und nach Luft ringend ankam, waren die Buben schon längst durch das Fenster geklettert und über einen Anbau, der am Schulgebäude war, auf und davon. Als das neue Schuljahr anfing und die Zweitklässler in die dritte Klasse kamen, wurde Ella in die dritte Klasse mitversetzt und keiner merkte es, denn sie hatte ja immer bei den Aufgaben für die zweite Klasse mitgemacht. Sie kam also in die nächste Klasse, in dem die Dritt- und Viertklässler in einem Raum waren. Danach folgten die fünfte und die sechste Klasse.

      Auf dem Land waren die Kinder damals nicht so flott mit dem Lernstoff wie in der Stadt. Ella kam deshalb erst nach der sechsten Klasse auf das Gymnasium. Eigentlich wollte sie gar nicht auf ein Gymnasium gehen, aber ihr Vater bestand darauf. Er wollte mit seiner Tochter vor den Leuten im Dorf angeben, denn Ella war das einzige Mädchen aus diesem Dorf, das auf ein Gymnasium ging. Die tägliche Fahrt dorthin war zu dieser Zeit nicht einfach. Schulbusse gab es keine und Autos schon gar nicht. Alle Wege wurden mit dem Fahrrad bewältigt, doch die Straßen waren nicht einmal ausgebaut, es gab nur aufgeschüttete Schotterwege. So musste sie jeden Tag eine Strecke von acht Kilometern zur Schule hin und acht Kilometer von der Schule nach Hause mit dem Fahrrad zurücklegen. Sie musste auf ihrem Schulweg über einen ziemlich steilen Hang fahren und durch einen langen Wald. Doch meistens fuhr sie nicht allein, es fuhren noch fünf Jungens aus dem Dorf mit ihr,