Helga Bögl

Ella - Braves Mädchen - Wegwerf-Frau


Скачать книгу

tat ihr unendlich leid, weil es doch eigentlich ihre Schuld war.

      Im nächsten Winter, der besonders kalt war, stand im Waisenhaus leider gerade kein freies Bett zur Verfügung, und so gab ihr Vater in der Zeitung eine Anzeige auf mit dem Wortlaut: „Arme Schülerin sucht Unterkunftsmöglichkeit für den Winter!“ Das bekamen natürlich ihre Mitschülerinnen mit, denn sie wussten, das konnte nur sie sein. Zur damaligen Zeit gingen aus den umliegenden Dörfern nur Jungen auf ein Gymnasium, und es wusste in einem kleinen Landkreis jeder über jeden Bescheid, und Ella wurde in der Schule ausgelacht, weil sie eine „arme Schülerin“ war. Aber sie hatte Glück. Ein älteres Ehepaar meldete sich auf diese Anzeige, und sie durfte im Winter zusammen mit einer anderen Schülerin aus einer höheren Klassenstufe in einem kleinen Zimmer bei diesen Leuten während der kalten Jahreszeit wohnen. Diese Leute waren sehr nett und immer freundlich. Der Mann war der Direktor einer Kreissparkasse, die Frau war Hausfrau. Sie hatten ihren einzigen Sohn im Krieg verloren, und die Frau hatte diesen Schmerz immer noch nicht überwunden, und so schenkte sie ihre ganze Liebe den beiden Mädchen, sie sah sich als deren Pflegemutter. Ella hatte ein sehr gutes Verhältnis zu ihr, und auch noch in späteren Jahren, als sie bereits verheiratet war, schickte sie ihrer Pflegemutter immer am Muttertag einen schönen Blumenstrauß.

      Beim weiteren Blättern im Fotoalbum entdeckte sie ein Bild ihres Großvaters. Es war das einzige Foto, das sie von ihm hatte, und sie konnte sich auch nur noch sehr vage an ihn erinnern. Sie hatte nur noch das Bild ihres Großvaters vor sich, als er aufgebahrt im Flur von Großmutters Wohnung lag. Er war 1947 ganz plötzlich gestorben. Er sei ganz ruhig eingeschlafen, so hatte Großmutter erzählt. Damals war Ella noch viel zu klein, um zu begreifen, was Sterben überhaupt bedeutet! Sie konnte sich nicht einmal daran erinnern, wie seine Stimme klang, nur daran, dass er sie oft schweigend mit seinen blauen Augen angeschaut hat, und immer ein Lächeln im Gesicht hatte.

      Sie versuchte, sich sein Bild in Erinnerung zu rufen, und das fiel ihr gar nicht leicht, denn eigentlich hatte sie ihn ja überhaupt nicht gekannt. Einen schwarzen Schnauzbart hatte er, das wusste sie noch, und sie erinnerte sich, dass er meistens nach Feierabend auf der Bank am Kachelofen in der Wohnstube saß und seine Pfeife rauchte. So eine Pfeife mit einem Teil aus Porzellan, in das er dann seinen Tabak stopfte. Anschließend zog er genüsslich an seiner Pfeife, blies den Rauch in die Luft, so dass es danach immer so gut roch. Er starb viel zu früh. Er hatte es einfach nicht überwunden, dass er seinen Hof und die vielen Tiere im Stich lassen musste. Ella seufzte, als sie an die damalige Zeit dachte. „Nun, Großmutter hat ihn noch um viele Jahre überlebt!“, murmelte sie. „Aber sie musste ganze vier Jahre furchtbar leiden, sie siechte so richtig dahin, bis sie dann starb!“ Der Sohn eines benachbarten Bauern hatte mit seinem Luftgewehr nach Vögeln geschossen. Großmutter putzte da gerade die Außentreppe, die zum Hauseingang führte. In diesem Moment traf sie ein Querschläger genau in das Steißbein. Sie spürte zwar den Schmerz, aber sie merkte nicht, dass diese Kugel im Knochen stecken geblieben war. Einen Arzt gab es in dem kleinen Dorf und auch in den angrenzenden Dörfern nicht, und Großmutter dachte, das würde schon wieder werden. Doch es kam anders. Sie bekam eine Bleivergiftung, und bevor das überhaupt festgestellt wurde, war sie schon bettlägerig, und man konnte ihr nicht mehr helfen. „Das weiß ich noch, als wäre es gestern gewesen“, entfuhr es Ella. „Meine Tante nahm Großmutter zu sich und pflegte sie.“ Großmutter war immer eine stattliche Frau, und als sie nach langem Leiden starb, war sie nur noch ein winziges kleines Bündel.

      So war das mit der Heirat

      Ella war vor lauter Grübeln und Erinnern eingeschlafen. Als sie erwachte dachte sie an ihr zuhause und was die beiden jetzt wohl ohne sie machen würden. Niemand wird sich jetzt um sie kümmern und schon wieder hatte sie ein schlechtes Gewissen. Sie verscheuchte ihre Gedanken und musste plötzlich an ihre Mutter denken. Mutter hatte sie immer wieder gewarnt, diesen Mann zu heiraten. Aber welcher Jugendliche macht das schon, auf seine Mutter hören. Wenn man jung ist und verliebt, lebt man doch in einer Traumwelt und man sieht alles nur noch durch eine rosarote Brille. Ella bekam bei einem Besuch in seinem Elternhaus schon mit, wie Paul von seiner Mutter verwöhnt wurde und sie fand es eher belustigend wenn sie sah, dass ihm seine Mutter die Banane schälte und dass er Nüsse nur aß wenn seine Mutter sie ihm knackte. Kirschen aß er überhaupt keine, denn da hätte man ja die Kerne ausspucken müssen und das war ihm zu umständlich. Das alles hätte ihr eine Warnung sein müssen, aber es heißt ja nicht umsonst, dass die Liebe blind macht.

      So richtig kennen gelernt hat sie Paul erst als sie schon verheiratet waren. Heute ist das alles viel einfacher, man zieht erst einmal zusammen. Doch damals wäre das unmöglich gewesen. Die Leute hätten mit Fingern auf uns gezeigt und Mutter wäre vor Scham nicht mehr aus dem Haus gegangen.

      "Ach" seufzte sie, "hätte ich doch nie geheiratet denn damit hat mein ganzes Unglück angefangen!" Ja, dachte sie, damit fing alles an und sie wusste plötzlich wie sie ihre Geschichte beginnen sollte und fing an zu schreiben:

       Warum ich geheiratet habe? Warum wohl? Natürlich weil ich schwanger war. Aufgeklärt hatte mich niemand, und fragen traute ich mich nicht. So wusste ich nur, was man so auf der Straße mitbekam oder hinter vorgehaltener Hand geflüstert wurde. Eine richtige Freundin hatte ich nicht und auch keine Vertrauensperson, mit der ich sprechen konnte, wenn mich etwas bedrückte. Es fehlte mir überhaupt jemand, mit dem ich als Frau reden konnte, und wenn man niemanden zum Reden hat, ist es schön, wenn man die richtigen Worte zum Schreiben findet. Aber leider bekommt man vom Papier keine Antwort und auch keine Kritik. Kritik aber ist für mich wichtig, weil man daraus lernen kann, und so habe ich jetzt beim Schreiben das Gefühl, ich spreche mit den Blättern. Irgendwie konnte ich schon in meiner Jungmädchenzeit nichts mit gleichaltrigen Jungen anfangen. Sie waren mir zu kindisch. Ich schwärmte immer nur für Ältere, das war schon fast eine fixe Idee, und ich fühlte mich auch immer zu Älteren hingezogen. Ich hatte mich auch schon auf einen bestimmten Typ festgelegt. „Er“ musste aussehen wie Errol Flynn, der Schauspieler. Während ich das schreibe, denke ich, dass ich damals in einer richtigen Traumwelt gelebt habe. Ich habe mir mein zukünftiges Leben in den schönsten Farben ausgemalt. Dass es im Leben auch Sorgen gibt oder Probleme, daran habe ich überhaupt nicht gedacht. Ich habe immer nur die schönen Dinge gesehen. Obwohl ich mitbekam, dass mein Vater ein großer Schürzenjäger war, und ich Mutter oft weinen sah, hat es mich nicht betroffen gemacht oder gar interessiert. Ich suchte nach meinem Typ Mann. Männlich musste er sein, vielleicht auch wie Clark Gable. So verglich ich jeden Jungen, den ich kennenlernte, mit diesem Typ Mann.

       Paul, meinen Mann, lernte ich in einer Jugendgruppe kennen. Wir waren damals bereits in die nächstgrößere Stadt umgezogen, wohin mein Vater beruflich versetzt wurde. Ich besuchte nach dem Umzug das Gymnasium. Es war eine kleine Pfarrei, zu der wir gehörten, und der Besuch der dortigen Jugendgruppe war für mich die einzige Möglichkeit, überhaupt Kontakt zu anderen zu bekommen, denn meine Eltern waren sehr streng. Meine Mutter versuchte dauernd, Kontakte zu Jungen zu verhindern. Ich durfte auf der Straße nicht einmal mit einem Jungen sprechen. Wenn meine Mutter manchmal sah, dass ich trotzdem mit einem Jungen sprach, schrie sie mich dann zu Hause an und sagte: „Wenn du ein Kind bekommst, erschlage ich dich!“ Aber wovon ich eigentlich ein Kind bekommen sollte, das sagte mir keiner, und so fühlte ich mich wieder einmal alleingelassen.

       Meine Mutter war immer sehr streng, und heute kann ich das gut verstehen, warum sie so war. Sie lebte immer in der Angst, es könnte mir genauso ergehen wie ihr damals. Sie war noch nicht einmal achtzehn Jahre alt, als sie mich zur Welt brachte. Paul war ein ruhiger Typ. Er war sieben Jahre älter als ich, war Ministrant, spielte Tischtennis und Theater in der Jugendgruppe, und er interessierte sich überhaupt nicht für mich. Genau das reizte mich. Jungen, die mir nachliefen, interessierten mich nicht. Immer, wenn er irgendwo mitspielte, war ich in der Nähe und sah zu. Unsere Blicke trafen sich immer öfter. Immer mehr kam ich zu der Überzeugung, dass er der richtige Mann für mich war. Er kam meinem Traumidol am nächsten. Er war schlank und groß, hatte ein Bärtchen wie Clark Gable und schwarze Haare. Er konnte sagenhaft gut tanzen, und ich tanzte furchtbar gerne. Die einzige Möglichkeit, einmal tanzen zu dürfen, war, in die Jugendgruppe zu kommen. Mit viel Betteln hatten meine Eltern endlich erlaubt, dass ich dort hingehen durfte, und das auch nur, weil es