Helga Bögl

Ella - Braves Mädchen - Wegwerf-Frau


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von Ochsen gezogen wurden, oder Handkarren. Doch genau an dem Tag, als Ella mit ihrem Lumpi zum Bäcker ging, kam ein Hochzeitsauto um die Ecke und überfuhr ihren Hund. Weinend lief Ella nach Hause, und ihr Vater holte den Hund und begrub ihn, nicht, ohne ihr fürchterliche Vorwürfe zu machen. Tagelang trauerte Ella, und noch lange Zeit danach pflanzte sie Blumen an die Stelle, an der ihr Lumpi begraben war.

      Mit Tieren hatte sie in ihrer Kinderzeit kein Glück. Sie hatte später dann eine Katze, die auch qualvoll starb, weil sie auf dem angrenzenden Feld eine vergiftete Maus gefressen hatte. Nur Hansi, der zahme Rabe, den ihr Bruder eines Tages nach Hause brachte, der lebte etwas länger. Als ganz kleiner Jungvogel wurde er von ihrem Bruder heimgebracht und mit Würmern hochgepäppelt. Er wurde handzahm und war der beste Freund der Kinder. Immer, wenn sie von der Schule nach Hause kamen, saß er auf dem Zaun vor dem Haus, in dem sie wohnten, flog sofort, wenn man ihn rief, auf den Arm desjenigen und kletterte dann auf die Schulter. So lieb begrüßte er die Kinder, doch eines Tages, als ihr Bruder von der Schule nach Hause kam, lag Hansi tot vor dem Eingang zum Grundstück. Dort waren gerade Vermessungsbeamte damit beschäftigt, das Nachbargrundstück zu vermessen. Sie erzählten, sie dachten, es sei ein wilder Vogel und hatten ihn erschlagen. Beide Kinder waren wochenlang unendlich traurig, aber auch Trauer und Schmerz vergehen mit der Zeit.

      Schon als Kind hatte sie sich so oft danach gesehnt, auch einmal in den Arm genommen zu werden wie ihr Bruder, doch sie konnte sich nur an eine einzige Umarmung von der Mutter erinnern. Das war, als sie mit etwa zwölf Jahren in den großen Ferien zum Hopfenzupfen bei einem Bauern war. Zwei Wochen harte Arbeit, zerschundene, grüne Hände, und dann verlor sie auf dem Weg nach Hause das ganze Geld, das sie verdient hatte. Sie war eine kurze Strecke mit einem Bus gefahren, und wahrscheinlich war ihr dann das Geld aus der Tasche ihres Kleides gerutscht. Sie war so furchtbar unglücklich und weinte den ganzen Weg nach Hause. Mutter war gerade beim Wäscheaufhängen im Hof, und Ella fiel ihr schluchzend um den Hals. Sie hatte sich so gefreut, mit dem Geld etwas zum Haushalt beisteuern zu können. Das war das einzige Mal, an das sie sich erinnern konnte, dass Mutter sie in den Arm genommen und ihr tröstend übers Haar gestrichen hatte. Wegen Kleinigkeiten, so war sie heute noch der Ansicht, bekam sie oft vom Vater Schläge. Sie erinnerte sich an einen Tag, da war es für sie besonders schlimm. Ihr Bruder war mit dem Fahrrad verunglückt und lag bewusstlos im nahen Kreiskrankenhaus. Die Eltern waren voller Sorge und machten einen Bittgang zur Statue der heiligen Muttergottes, um für die Genesung ihres kranken Sohnes zu bitten, das war damals bei besonderen Sorgen so üblich. Ellas Vater hatte ihr verboten, während der Abwesenheit der Eltern das Haus zu verlassen. Sie erinnerte sich noch sehr genau, dass es ein wunderschöner Mai-Sonntag war. Ein paar Häuser weiter war eine Dorfschänke, und dort wurde wie jedes Jahr im Monat Mai ein Maifest gefeiert. Es gab Tanz und Musik, die weithin zu hören war. Auch Ella hörte die Musik und wurde sogleich in ihren Bann gezogen. Sie wusste, dass sie das Haus nicht verlassen durfte, aber der Klang der Musik machte sie neugierig, und sie näherte sich langsam der Schänke. Sie beobachtete die Tänzer durch das Fenster, sah das lustige Treiben und vergaß darüber die Zeit. Erschrocken fiel ihr ein, dass sie schon längst hätte zu Hause sein müssen, denn die Eltern wollten bis um sieben Uhr am Abend wieder da sein. So schnell sie konnte, rannte sie zurück, doch als sie näher kam, sah sie bereits ihren Vater, der schon auf sie wartete. Sie wusste, der Vater war sehr jähzornig, er verlangte unbedingten Gehorsam. Er packte sie bei den Zöpfen, warf sie zu Boden, schlug auf sie ein und schrie: „Habe ich dir nicht verboten, das Haus zu verlassen?“ Er zerrte sie hoch, schleifte sie über den Hof bis zur Haustüre. Dann stieß er sie mit dem Kopf gegen die Türe, so dass ihr das Blut aus der Nase floss. Erst als er das merkte, ließ er von ihr ab. Das war nicht das einzige Mal, dass sie Prügel bekam, aber dieser Tag ist in ihrem Gedächtnis heftig haften geblieben. Dass sie jemals Schläge von ihrer Mutter bekommen hätte, daran konnte sich Ella nicht erinnern.

      Eines Nachmittags, als Ella wieder einmal nach der Schule Gänse hütete, kamen fahrende Zigeuner an den Weiher. Sie machten dort Station und wuschen ihre Wäsche. Von der anderen Seite des Teiches, an dem sie ihre Gänse hütete, konnte sie alles beobachten. Sie wusste noch, sie trug das blaue Kleid aus Perlon, das ihre Mutter genäht hatte. Ein Kleid aus Perlon war nach dem Krieg die neueste Mode, und Mutter nähte ihr dauernd irgendwelche Kleider und sorgte dafür, dass sie immer hübsch aussah, denn Hosen, wie sie heute auch von den Mädchen getragen wurden, gab es noch nicht. Plötzlich stand einer von diesen Zigeunermännern vor ihr. Er hatte sich so angeschlichen, dass sie ihn gar nicht kommen hörte. Er lächelte sie an und wollte sie überreden, mit ihm in das an den Weiher angrenzende Kornfeld zu gehen. Er meinte, er würde ihr dort etwas zeigen. Doch sie war Fremden gegenüber immer voller Misstrauen, und als sie nicht mitging, verschwand der Mann gleich wieder.

      Auch von der Schule aus wurden die Kinder manchmal beschäftigt und zu Arbeiten eingeteilt, wie zum Beispiel zum Kartoffelkäfersuchen. Die Kartoffelkäfer seien Schädlinge, so erzählte der Lehrer, sie würden ganze Kartoffelernten vernichten. Die gesamte Klasse wurde ausgesandt, um diese Käfer von den Pflanzen abzusammeln. Auch deren Larven mussten gesammelt werden. Wenn man die Käfer auf der Hand betrachtete, hinterließen sie große orange-gelbe Flecken auf der Handfläche. Alle Kinder hatten dadurch ganz gelbe Hände, und diese Flecken waren auch sehr schwer wieder zu entfernen. Aber so eine Käfersuche war oft ganz lustig und machte allen Spaß. In der Erntezeit erlaubten die Bauern das sogenannte Nachernten auf den Feldern. Zum Beispiel auf dem Kartoffelfeld. An den Feldrändern wurden oft Kartoffeln übersehen oder vom Pflug nicht erfasst. Die durfte man dann abernten und mit nach Hause nehmen. Da kam schon so manches Mal ein ganzer Sack zusammen, und wenn man fleißig war, konnte man sogar den Vorrat für den Winter zusammenbekommen. Am schönsten war es jedoch, wenn alle Kinder nach der Kartoffelernte auf dem Feld zusammenkamen und ein Kartoffelfeuer entzündeten. Es gab dann gebratene Kartoffeln, die im offenen Feuer geröstet wurden. Auch wenn diese manchmal richtig schwarz verkohlt waren, schmeckten sie trotzdem wunderbar und so manches der Kinder hatte ganz schwarze Hände und einen verschmierten, schwarzen Mund. Aber Schmutz machte den Dorfkindern nichts aus. Meistens liefen sie sowieso barfuß, und es kam nicht selten vor, dass sie in Kuhfladen oder Gänsedreck traten. Da wischte man die Füße ganz einfach im Gras wieder ab, und keiner dachte sich etwas dabei.

      Vater hatte immer eine Arbeit für Ella, denn nichts tun, war in ihrer Familie nicht üblich. Wenn das Korn auf den Feldern heranreifte, konnte man an den Ähren zwischen den Körnern dunkle Klümpchen entdecken, das sogenannte Mutterkorn. Es war zwar giftig, aber in den Apotheken sehr gefragt und wurde zu Medikamenten verarbeitet. Man konnte die dunklen Körnchen aus den Ähren herauszupfen, sammeln und in die Apotheken bringen. Dafür gab es dann Geld. Ella sammelte also, ihr Vater brachte die Körnchen zum Verkauf in die Apotheke in der nahen Stadt und bekam dafür Geld. Alle waren froh über so einen zusätzlichen Verdienst.

      Beim Umblättern im Fotoalbum sah Ella ein Bild von ihrer Großmutter. Ja, Großmutter war die einzige, der sie vertraute, und sie hatte sie auch sehr geliebt. Noch heute stand das Bild von Großmutter daheim in ihrer Vitrine. Wenn es irgendwann doch einmal die Zeit erlaubte, ging Ella als Kind zu ihrer Großmutter. Sie war gerne mit ihr zusammen. Sie war eine stattliche Person mit weißgrauen Haaren, die im Nacken zu einem Knoten zusammengebunden waren, aber wenn sie aus dem Haus ging, trug sie immer ein Kopftuch. Was Ella nicht vergessen konnte war, dass Großmutter immer mehrere Röcke übereinander trug, und sie trug niemals Unterhosen, daran erinnerte sie sich noch ganz genau. Wenn Großmutter zum Wasserlassen musste, blieb sie nur stehen, hielt ihre Röcke weit weg von den Beinen, so dass es aussah, als wären diese ein Ballon. Dann ließ sie einfach da, wo sie gerade stand, das Wasser laufen, und dann ging sie weiter, als sei dies das Normalste von der Welt. Als Kind sah Ella alles als ganz normal an und dachte sich nie etwas dabei. So war Großmutter eben, und sie hatte für Ella immer Zeit. Sie kannte viele alte Geschichten, und sie unternahm immer etwas mit Ella. Manchmal gingen sie beide in den Wald, um Pilze zu suchen, und so lernte sie die guten von den giftigen Pilzen zu unterscheiden. Sie lernte auch, welche Beeren man essen konnte und welche giftig waren. Es gab Himbeeren, Brombeeren und sogar Preiselbeeren. Sobald der Juli in Sicht war, gingen beide zum Schwarzbeerenpflücken. Großmutter nahm eine alte Milchkanne mit und für jeden einen kleinen Becher. Zuerst wurde der Becher voll gepflückt und dann immer in die Kanne gekippt, bis diese voll war. Zu Hause gab es dann einen frischen Schwarzbeeren-Kuchen. Außer Großmutter konnte niemand solch einen guten Kuchen backen.