Helga Bögl

Ella - Braves Mädchen - Wegwerf-Frau


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Bauern geschenkt bekommen. Mit diesem begleitete Ella sie auch oft in den Wald, um Holz und große Tannenzapfen für den Winter zu sammeln. Auch Tannenreisig, das getrocknet auf dem Waldboden lag, wurde gesammelt. Die Tannenzapfen schüttete Großmutter in einen großen Sack. Damit konnte man im Winter schon eine ganze Weile heizen. Von ihrer Großmutter lernte Ella auch, wie der Gewürzkümmel als Pflanze aussah. In den nahen Moorwiesen wuchs diese Pflanze. Großmutter schnitt sie ab und bündelte sie. Zu Hause hängte sie diese Bündel an den Gartenzaun in die Sonne, damit sie trocknen konnten. Waren sie dann endlich getrocknet, schüttelte Großmutter dann diese Bündel über einer Zeitung ab und sammelte die abgefallenen Kümmel-Körnchen in einer Tüte. Man brauchte diese Körnchen zum Würzen von Speisen, zum Beispiel zu gerösteten Kartoffeln oder Gurkensalat. Für alle Speisen, die etwas schwer bekömmlich waren, konnte man das Gewürz verwenden.

      Einmal konnte Ella sogar beim Torfstechen zusehen. Torf war damals ein begehrtes Heizmaterial. Mit einer rechteckigen eisernen Schaufel, die ungefähr die Form eines Kohlebriketts hatte, wurden Teile aus dem Moorboden gestochen. Diese Teile wurden dann zum Trocknen aufgeschichtet und im Winter zum Heizen verwendet. Heute wird so etwas nicht mehr gemacht, weil die Moore unter Naturschutz stehen, fiel ihr in dem Augenblick ein. Von ihrer Großmutter hatte Ella in ihrer Kindheit viel gelernt. Leider starb sie viel zu früh, und sie war damals unendlich traurig.

      Ella war mit zwölf Jahren noch nicht aufgeklärt. Solche Themen waren bei ihr zu Hause einfach tabu, und sie getraute sich auch nichts zu fragen, denn ihre Mutter sagte dann immer nur: „Das verstehst du nicht!“ In dem Fotoalbum, in welchem Ella gerade blätterte, fand sie neben dem Bild ihrer Großmutter noch das Bild von dem Haus, in das sie in dem Dorf später umgezogen sind. Sie bekamen zwei Zimmer, eines im Dachgeschoss und eines, es war eine Wohnstube, im Parterre. Ella und ihr Bruder mussten in dieser Wohnstube schlafen, und ihre Eltern schliefen im zweiten Zimmer im Dachgeschoss, denn dort war es im Winter immer sehr kalt, es gab keine Heizung unterm Dach. Unten in der Wohnstube gab es noch ein Sofa, auf dem Ellas Vater oft schlief, wenn er von der Nachtschicht nach Hause kam und bald wieder zur nächsten Schicht aufbrechen musste. Ihr Vater hatte nämlich in der Zwischenzeit eine Arbeitsstelle bei der Bundespost bekommen und musste jeden Tag mit dem Fahrrad in die nächste Kreisstadt zum Bahnhof fahren, von da dann mit dem Zug weiter, und er musste im Schichtdienst arbeiten. So kam es oft vor, dass er, wenn er Nachtdienst hatte, tagsüber schlief, und Ella und ihr Bruder mussten dann besonders leise sein. Die Kinder mussten auch am Abend sehr früh ins Bett, um ausgeschlafen zu sein wegen der Schule. Da die Betten von Ella und ihrem Bruder in der Wohnküche direkt an der Wand standen, sagte der Vater, wenn Besuch kam, jedes Mal: „Dreht euch zur Wand, und jetzt wird geschlafen. Ich will keinen Mucks mehr von euch hören!“ Aber Ella spitzte natürlich die Ohren.

      Meistens am Mittwochabend lagen beide Eltern im Winter zusammen auf dem Diwan in der Wohnstube. Sie hatten das Licht gelöscht, obwohl es noch nicht Zeit zum Schlafen war. Ella war noch munter, und sie hörte ihre Eltern oft tuscheln und stöhnen. Vater stellte dann immer das Radio an mit der Sendung von Fred Rauch: „Sie wünschen und wir spielen.“ Und trotzdem bekam Ella das Flüstern und Stöhnen mit, und sie schämte sich. Sie hatte ja so eine Ahnung, was da vor sich ging, aber Genaues wusste sie natürlich nicht.

      Zu der Vermieterin, der „Hausherrin“, hatte Ella ein besonders gutes Verhältnis. Sie mochte sie. Nur manchmal wunderte sie sich. Es hatte den Anschein, als hätte diese Frau ein Geheimnis. Mehrmals im Monat bekam sie Besuch von einem Herrn, von dem Ella wusste, dass er in der Nachbargemeinde wohnte und verheiratet war. Immer wenn dieser Herr zur Hausherrin kam, schloss diese alle Fensterläden, und das fand Ella sehr merkwürdig.

      In dem Haus gab es auch ein Badezimmer, und wenn man zur Toilette wollte, musste man zuerst durch das Badezimmer gehen. Als Ella wieder einmal dorthin ging, bemerkte sie, dass sie zwischen den Beinen blutete. Sie erschrak fürchterlich und dachte, sie sei krank. Zu ihrer Mutter traute sie sich nicht, und so ging sie zur Vermieterin, die immer nett zu ihr war, und vertraute sich ihr an. Diese lächelte nur, und von ihr wurde Ella erklärt, was eine Menstruation ist und was da im Körper einer Frau vor sich geht.

      Auf der nächsten Seite des Albums entdeckte Ella ein altes Klassenfoto. „Mein Gott, das waren noch Zeiten“, dachte sie, lächelte und murmelte: „Was wohl aus allen geworden ist?“ In der Grundschule, die damals einfach Volksschule hieß, hatte Ella denselben Lehrer, den schon ihre Mutter in Böhmen hatte. Er war zufällig im gleichen Dorf wie sie gelandet, und unterrichtete in der fünften und sechsten Klasse. Ella war seine Lieblingsschülerin. Sie war die beste in der Klasse und konnte sehr gut auswendig lernen. Immer, wenn in dem kleinen Dorf eine Festlichkeit stattfand, bekam Ella die ehrenvolle Aufgabe, ein Gedicht aufzusagen. Ob es nun eine Fahnenweihe oder die Einweihung eines Ehrendenkmals war oder auch eine Weihnachtsfeier. Ella lernte immer brav ihr Gedicht. Aber als sie dann auf das Gymnasium ging, wurde alles ganz anders. Ihre Noten wurden schlecht, und in der Schule gefiel es ihr nicht. Der Schulweg war weit, und im Winter war sie oft gezwungen, zu Fuß zu gehen, und sie kam manchmal ganz nass in der Schule an, weil sie durch ganz hohen Schnee stapfen musste.

      Zwei Klassen höher gab es einen jungen Mann, der sie, wenn sie sich in der Pause begegneten, immer anlächelte. Er kam aus einem kleinen Dorf, das genau entgegengesetzt zu dem Dorf von Ella lag. Manchmal, wenn er zur gleichen Zeit Schulschluss hatte wie sie, wartete er vor der Schule. Dann begleitete er sie ein Stück auf ihrem Heimweg. Dadurch hatte er dann einen doppelt so langen Schulweg wie sie, weil er ja den ganzen Weg wieder zurück musste, um in sein Dorf zu kommen. Ella wollte das gar nicht, dass er sie ab und zu begleitete, aber er ließ sich nicht davon abbringen, er schwärmte für Ella. Sein Vater war in dem kleinen Dorf, in dem er wohnte, der Bürgermeister, und er bekam von zu Hause immer Taschengeld. Von ihm bekam sie ihre erste Orange. Sie hatte noch nie eine Orange gesehen, denn in ihrem Dorf gab es nur einen Metzger und einen Bäcker. Beim Bäcker konnte man außer Brot und Semmeln auch noch Mehl, Zucker, Nudeln und Sonstiges für den Haushalt kaufen. Wenn man Gemüse und Obst brauchte, hatte man das im eigenen Garten. Äpfel und Birnen wurden in einer Grube unter der Erde frisch gehalten, und das Gemüse in kleinen Kisten im Sand eingelegt. Salat wurde in altes Zeitungspapier eingewickelt und im Keller gelagert, und so hatte man immer frisches Obst und Gemüse. Orangen aber waren in dem Dorf nicht bekannt, und so freute sich Ella ungemein über diese erste Orange. Ein anderes Mal versuchte er, ihr Karamellbonbons, die mit Schokolade überzogen waren, zu schenken, die sie aber nicht annehmen wollte. Da steckte er ihr diese Bonbons einfach in die Kapuze ihres Anoraks. So versuchte er mit allen Mitteln, sie als Freundin zu gewinnen. Einige Jahre später, als Ella mit ihren Eltern bereits weggezogen war, stand plötzlich ein junger Mann vor dem Wohnblock, in dem sie jetzt wohnten. Er hatte sich so viel Mühe gemacht, um sie zu finden. Er wollte sie unbedingt besuchen und wissen, wie es ihr geht, doch zu dieser Zeit hatte sie sich bereits in Paul verliebt. Oft in späteren Jahren hat sie an diesen Jungen gedacht und sich gefragt, was wohl aus ihm geworden ist.

      Über einen Bekannten hatte ihr Vater erfahren, dass in der Stadt, in der sie das Gymnasium besuchte, manchmal im Waisenhaus ein Platz frei war, um zu übernachten. Vater sah ein, dass es für Ella nicht gut war, so einen weiten Weg im Winter gehen zu müssen. Denn manchmal musste sie eben zu Fuß gehen, wenn der Schnee besonders hoch war. Er fragte dort an, und sie bekam für die Wintermonate ein Bett zugewiesen. Das Waisenhaus wurde von katholischen Ordensschwestern geführt. Es lebten dort Waisen-Kinder aller Altersgruppen, ob im Babyalter oder bereits über zehn Jahre alt. Die Schwestern waren sehr streng. Diejenigen, die schon zur Schule gingen, mussten als erste am Morgen aufstehen, Zähne putzen, dann gab es Frühstück. Zwei der Schwestern kümmerten sich in der Zwischenzeit um die Kleineren. Es waren Kinder dabei, die nachts ins Bett machten, und zu denen waren die Schwestern ganz besonders streng. Um zu verhindern, dass diese Kinder nachts einnässten, bekam jeden Tag eines der größeren Kinder einen Wecker unter das Bett, der auf Mitternacht gestellt war. Derjenige, der den Wecker unter seinem Bett hatte, musste dann aufstehen und die Kleineren aufs Töpfchen setzen. Es gab aber auch ein Zwillingspaar, zwei Mädchen, die beide schon zwölf Jahre alt waren und trotzdem immer noch ins Bett machten. Auch diese beiden mussten geweckt und zur Toilette geschickt werden. Eines Tages traf es auch Ella, sie war an der Reihe und musste sich nachts um die Bettnässer kümmern. Den Wecker hatte sie überhört, sie schlief ganz tief, und am folgenden Morgen hatten alle, die Kleinen und die Zwillinge, ins Bett gemacht. Die Schwestern