Helga Bögl

Ella - Braves Mädchen - Wegwerf-Frau


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überhaupt nichts. Wir alle wussten, dass die Jugendstunde um neun Uhr beendet sein würde und gingen zu dieser Zeit wieder zurück. Woran wir nicht dachten war, dass die Leiterin der Jugendgruppe uns vermisste, und auch nur deshalb, weil sie selbst, was ich nicht wusste, ein Auge auf Paul geworfen hatte. Meine Mutter stand, als ich nach Hause kam, schon vor der Haustüre und wartete auf mich. Die Gruppenleiterin war in der Zwischenzeit bei ihr gewesen, und hatte uns angeschwärzt. Zu einer Erklärung kam ich erst gar nicht, sie schlug mir links und rechts ins Gesicht und schrie wieder ganz hysterisch: „Wenn Du ein Kind bekommst, erschlag‘ ich dich!“ Ich wusste schon, dass ich etwas Verbotenes getan hatte, aber was hatte das mit einem Kind zu tun? Von da an ließ sie mich nicht mehr weggehen. Und wenn sie mich mit einem Jungen auf der Straße auch nur sprechen sah, bekam ich zu Hause gleich eine Ohrfeige.

       Abends durfte ich nie mehr aus dem Haus, und wenn überhaupt, dann nur am Sonntagnachmittag und auch nur mit einer Freundin ab und zu ins Kino. Ich hatte das Zimmer zusammen mit meinem Bruder, und musste jeden Tag um halb neun Uhr im Bett sein. So traf ich mich mit Paul immer heimlich. Wir sahen uns ja jeden Tag morgens in der Straßenbahn, aber das wusste meine Mutter ja nicht. Wenn ich nachmittags Schule hatte und über die Mittagspause in der Stadt blieb, verabredeten wir uns heimlich, gingen in der Stadt händchenhaltend spazieren, und ich weiß es noch wie heute, am 21. März, es war Frühlingsanfang, da hat er mich das erste Mal geküsst. Er wohnte ja in unmittelbarer Nachbarschaft, und so blieb es natürlich nicht verborgen, dass zwischen uns etwas war. In einer Gegend, in der alles stinkbürgerlich war und jeder alles von jedem wusste, sprach sich so etwas schnell herum, und meine Mutter war stets besorgt um ihren guten Ruf. So war es ein großes Entgegenkommen, wenn ich Paul zu uns nach Hause mitbringen durfte, natürlich nur in ihrer Anwesenheit. Seiner Mutter passte das jedoch gar nicht, sie drohte ihm mit Enterbung, ihm, ihrem einzigen Sohn. Auch meine Eltern versuchten mit allen Mitteln, mir Paul auszureden. Sie versuchten, ihn in meinen Augen lächerlich zu machen. „Schau ihn dir an“, spottete mein Vater, „wie der schon läuft, wenn er um die Ecke kommt, der hat ja einen Gang wie Charlie Chaplin!“ Paul hatte wirklich einen etwas schlaksigen Gang, aber das störte mich nicht.

       Über Aufklärung oder gar Sex wurde in unserer Familie nie gesprochen, das war ein großes Tabu. Ich hatte oft so viele Fragen, hatte auch so manchen Kummer, doch ich hatte niemanden, mit dem ich über solche Dinge sprechen konnte. Mit einer Schwester, wenn ich eine gehabt hätte, hätte ich bestimmt über alles reden können. Zu der Zeit schwor ich mir, dass ich bei meinen Kindern, wenn ich welche haben würde, alles ganz anders machen würde.

      Ella rieb sich die Augen, sie hatte für heute genug geschrieben, und als sie noch kurz ihre kleine Wohnung aufräumte und das Fotoalbum, das sie von zu Hause mitgenommen hatte, zur Seite legte, fiel ein Bild heraus, das sie zusammen mit ihrem Bruder zeigte. Er hielt die kleine Anna im Arm und Ella stand daneben. Sie war damals bereits mit dem zweiten Kind schwanger, doch man merkte davon noch nichts. Ihr Bauch wurde erst so im siebten Monat richtig sichtbar. „Darüber werde ich dann morgen schreiben“, dachte sie, und ging an diesem Abend ziemlich früh schlafen.

      Am nächsten Tag, gleich nach der Arbeit, hatte sie es eilig. Sie hatte den ganzen Tag dem abendlichen Schreiben entgegengefiebert, und so fing sie gleich damit an.

       An die Zeit, als ich das zweite Mal schwanger war, kann ich mich noch genau erinnern. Ich habe nie vergessen, wie unglücklich ich bei der zweiten Schwangerschaft war. Ich hatte mir damals vorgenommen, meiner Mutter zu erzählen, wie es in mir aussah, doch immer, wenn ich ihr dann gegenüberstand, verließ mich der Mut. Ich hätte jemanden zum Reden gebraucht, und ich fühlte mich einsam. Paul war immer so abweisend und zusammengeschlafen hatten wir auch schon lange nicht mehr. Ich hätte ihr so gerne erzählt, wie erniedrigt ich mich fühlte, wenn ich um Liebe betteln musste, denn Paul hatte da immer die üblichen Ausreden parat wie zum Beispiel: „Heute habe ich Kopfschmerzen“, oder „Ich bin heute furchtbar müde“, oder „Ich glaube, ich habe heute etwas Schlechtes gegessen, mir ist gar nicht gut“, und ähnliches. Doch auch wenn man nur ganz selten mit einem Mann schläft, einmal genügt, um schwanger zu werden, und so war es auch bei mir.

      Ella legte sich auf das Bett und starrte zur Decke. Dann dachte sie an die Zeit, als das zweite Kind kam. So etwas vergisst man nicht, auch nicht nach so vielen Jahren.

      Die Witwe, die Ellas Schwiegervater geheiratet hatte, besaß ein Sechs-Familien-Haus. In diesem Haus hatten sie eine Wohnung bekommen. Doch als der Schwiegervater in Rente ging und nur noch zu Hause war, fing er immer mehr an, sich in ihre Angelegenheiten einzumischen. Er fing an, Ella zu bevormunden, er war der Meinung, sie sei noch zu jung, um Kinder großzuziehen, und bestand darauf, sie müsste deshalb mehr auf seine Vorschläge über Kindererziehung eingehen. Es ging sogar so weit, dass er Anna, wenn sie manchmal weinte, aus dem Babykorb nahm, zu sich in die Wohnung holte, und sie nach ein paar Stunden wiederbrachte, wenn sie eingeschlafen war. Doch wenn Ella dies am Abend ihrem Mann erzählte, stand er ihr kein bisschen zur Seite.

      Irgendwie lebte er in einer ganz anderen Welt. Er merkte manchmal gar nicht, wie viel Arbeit ein kleines Kind machte, und es interessierte ihn auch nicht, ob Ella Ärger hatte oder nicht, ob es ihr gut ging oder ob sie Kummer hatte. So fraß sie alles in sich hinein, und als das zweite Kind, Pit, gerade mal sechs Wochen alt war, bekam sie ihre Tage nicht. Mit niemandem konnte sie darüber reden, mit ihrer Mutter schon gar nicht. Sie dachte nur: „Lieber Gott, bitte nicht schon wieder ein Kind!“ In einer Zeitschrift hatte sie einmal einen Artikel über Abtreibungen gelesen, und sie hatte davon eine vage Vorstellung. In ihrer Verzweiflung und in dem Glauben, sie sei schon wieder schwanger, nahm sie eine Stricknadel, führte diese in die Scheide ein und durchstach sich den Muttermund. Sofort bekam sie höllische Schmerzen. Sie versuchte noch, zu ihrer Mutter, die ein paar Straßen weiter wohnte, zu gelangen, brach jedoch auf offener Straße bewusstlos zusammen. Als sie wieder zu sich kam, lag sie in einem Bett im Krankenhaus, und man erzählte ihr, dass man an ihr eine Ausschabung vorgenommen hatte. Die schlimmste Information war dann, als sie bei der Arztvisite erfuhr, dass sie gar nicht schwanger gewesen war.

      Tief glitten ihre Gedanken in die Vergangenheit. Die Erinnerungen an diese unschöne Zeit musste sie dann aber auch niederschreiben.

       Zu der Zeit gab es eine Möglichkeit, nicht mehr schwanger zu werden, indem man sich die Eierstöcke abbinden ließ. Die Pille war ja noch nicht auf dem Markt, und das Unterbrechen beim Akt war eine ganz unsichere Sache. Als am nächsten Tag Visite war, fasste ich mir ein Herz, und bat den Chefarzt um ein Gespräch. Es fiel mir nicht leicht, über solch ein Thema zu sprechen, doch der Arzt kam mir zuvor. Er wollte wissen, warum ich diesen Selbstversuch gemacht hatte, und ich erzählte ihm, dass ich dachte, wieder schwanger zu sein. Verzweifelt bat ich den Arzt, mir zu helfen und meine Eierstöcke abzubinden, doch der Arzt weigerte sich, und meinte, ich sei doch noch viel zu jung. „Vielleicht möchten sie ja später doch noch ein Kind?“, sagte er. Soviel ich ihn auch bat, ihm meine Lage erklärte und ihm erzählte, dass ich wirklich kein Kind mehr wollte, er blieb hart und lehnte eine Abbindung der Eierstöcke ab. Meine Mutter kümmerte sich in dieser Zeit um die beiden Kinder, und mein Mann fragte nicht einmal nach dem Grund meines Krankenhausaufenthaltes. Hätte es damals alle diese Möglichkeiten, nicht ungewollt schwanger zu werden, schon gegeben, vielleicht wäre mein Leben ganz anders verlaufen.

      Es lockt die Liebe

      Ella überfiel eine große Traurigkeit, und sie wurde müde, aber die Gedanken liefen trotzdem wie ein Film weiter. Sie dachte daran, wie einsam sie sich in dieser Zeit fühlte. Von ihrem Mann unverstanden und vom Schwiegervater bevormundet, kapselte sie sich immer mehr ab. Nur zu dem jungen Geschwisterpaar, das im gleichen Haus wohnte, einer jungen Frau und ihrem Bruder, hielt sie Kontakt. Sie besuchten sich im Haus gegenseitig und unternahmen viel zusammen. Und so kam es, dass Ella in ihrer Einsamkeit ein Verhältnis mit dem jungen Mann anfing. Zuerst war es nur ein Flirt, doch dann wurde bald mehr daraus. Ella hatte überhaupt kein schlechtes Gewissen. Der junge Mann hieß Sunny, und immer wenn ihr Mann in der Arbeit war und es sich ergab, schliefen beide miteinander.

      Dann wurde Paul von seinem Chef nach Karlsruhe in die Meisterschule geschickt, die ein halbes Jahr dauern sollte, und er kam immer nur