Helga Bögl

Ella - Braves Mädchen - Wegwerf-Frau


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Nachbarschaft, meines Bruders und sogar meines Mannes bauten wir ein kleines Holzhaus in den Garten, das wir hübsch möblierten. Wir legten einen Zaun um das Grundstück, pflanzten Gemüse und säten Blumen an. Jedes der Kinder bekam ein kleines Beet, um es selbst zu bearbeiten und zu bepflanzen, um so das Interesse für die Natur zu wecken. So oft es irgendwie möglich war, verbrachte ich die Zeit mit meinen Kindern im Garten. Doch wenn das Wetter nicht so schön war, blieben wir alle zu Hause, und Nick beschäftigte sich besonders gerne mit Tobias. Er weckte sein Interesse für die Technik und bastelte mit ihm, was dem Jungen dann später zugutekam.

       Jedes Wochenende erhofften wir uns schönes Wetter, um in unser Paradies, wie wir es nannten, zu fahren. Mein Mann wollte manchmal nicht mit, und so sah es nach außen hin so aus, als wären Nick und ich mit den Kindern eine Familie. Es sah zwar so aus, aber die Leute wussten ja nicht, dass wir nur Freunde waren. Aber immer öfter zog ich Vergleiche zwischen den beiden Männern, und auf einmal merkte ich, dass ich mich in Nick verliebt hatte. Nie vorher hatten mich jüngere Männer interessiert, mein Interesse weckten immer nur Männer, die viel älter waren als ich. Doch bei Nick war das alles anders. Es störte mich nicht, dass er jünger war, und seine Ansichten und Einstellungen zum Leben gaben den Anschein, als sei er schon viel älter. Wir waren beide verliebt, doch es kam nie zu irgendwelchen sexuellen Kontakten, nein, wir liebten uns nur rein platonisch. Immer mehr begann ich zu grübeln. Warum konnte mein Mann nicht so sein? Hatte ich vielleicht etwas falsch gemacht in unserer Ehe? War ich schuld, dass er keinerlei sexuelles Interesse zeigte? Aber er gab mir doch immer wieder zu verstehen, dass er von Sexualität nichts hielt. Er hätte kein Bedürfnis danach, ließ er durchblicken. Sex war für mich sehr wichtig. Ohne Sex gäbe es ja keine Menschen, und ohne Sex zu leben, dafür war ich noch zu jung. Ich war oft so verzweifelt und hungerte nach Liebe, weinte oft in der Nacht, doch Paul fragte mich nicht ein einziges Mal, warum ich weinte. Er nahm es einfach nicht zur Kenntnis.

       Ich wünschte mir so sehr eine glückliche Familie und einen guten Vater für meine Kinder. Von einem Vater hatte ich bestimmte Vorstellungen. Schon als Kind hatte ich mir immer einen Vater gewünscht, der mich in die Arme nahm, der mich tröstete, wenn ich Kummer hatte. Deshalb litt ich besonders, nachdem ich merkte, dass auch meine Kinder solch einen Vater nicht hatten. Wäre da nicht Nick gewesen, der ihnen ein bisschen den Vater ersetzte, wer weiß, was aus ihnen geworden wäre. Vielleicht habe ich diese Vater-Sehnsucht auf meinen Mann übertragen, ich weiß es nicht. Ich hatte eben eine bestimmte Vorstellung, ich wollte mich anlehnen können an einen Mann, seine Zärtlichkeit spüren, auch ohne dass es gleich zum Sex kam. Schon das hätte mir genügt. Ich litt unsagbar an diesem Zustand, aber an Scheidung dachte ich nie. Im Gegenteil, immer wieder versuchte ich, in meinem Innersten Paul für sein Verhalten zu entschuldigen. Man konnte alles von ihm haben, wenn man ihn nur in Ruhe sein Leben leben ließ. Er gab sein ganzes Geld zu Hause ab, und ich bemühte mich sehr, allen ein schönes Heim zu bieten. Ich dachte an die Sicherheit der Kinder und daran, dass man sie mir vielleicht im Falle einer Scheidung wegnehmen würde. Es gab zu der Zeit keine staatliche Unterstützung für Alleinerziehende, und auch das Kindergeld gab es noch nicht.

      Die Kinder

       Vor den Kindern gab es nie Streit zwischen meinem Mann und mir. Sie waren ahnungslos. Im Gegenteil, ich versuchte alles, um ihnen eine schöne Kindheit zu ermöglichen. Ich sorgte dafür, dass sie glücklich heranwuchsen, und ich hatte mit keinem von ihnen in der Kinderzeit größere Schwierigkeiten, also Schwierigkeiten, die mich ratlos gemacht hätten.

       Da gab es nur einen Vorfall zwischen den Kindern, der mir damals Kummer bereitete. Es war in der Vorweihnachtszeit. Jedes der Kinder bekam von mir zum Nikolaus einen Adventskalender mit Süßigkeiten. Jedes durfte täglich ein Türchen öffnen und die Süßigkeit herausnehmen. Eines Tages beschwerte sich Anna, denn aus ihrem Türchen war die Süßigkeit bereits entfernt worden. Auf meine Frage, wer das war, bekam ich keine Antwort. Jeder behauptete, er sei es nicht gewesen. Ich hatte meine Kinder oft darauf hingewiesen, immer die Wahrheit zu sagen, darauf legte ich großen Wert. Nachdem es also angeblich niemand war, verlor ich die Geduld. Einer musste es ja gewesen sein, und so versohlte ich beiden Buben den Hosenboden. „So“, sagte ich, „jetzt werdet ihr beide bestraft, denn einer von euch beiden muss es ja gewesen sein!“ Beide Jungen schluchzten, und sie taten mir auch leid, doch ich wusste mir nicht anders zu helfen. Nach ein paar Tagen bemerkte ich, dass Tobias so merkwürdige Zuckungen mit dem Kopf machte, etwa so, als ob er den Kopf schütteln und versuchen würde, etwas krampfhaft hinunterzuschlucken. Es sah aus, als ob ihn etwas würgen würde. Ich ging mit ihm zum Kinderarzt, denn das merkwürdige Zucken hörte nicht auf. Nach kurzer Untersuchung und unter Beobachtung des Arztes meinte dieser: „Tobias hat vergrößerte Rachen-Mandeln, die ihm wahrscheinlich Schwierigkeiten machen, und es wäre besser, man würde diese Mandeln entfernen!“ Ein paar Tage später kam er dann ins Kinderkrankenhaus, und seine Mandeln wurden entfernt, doch das merkwürdige Zucken hörte nicht auf. Ganz zufällig arbeitete in dieser Klinik ein Kinderpsychologe, den ich um Hilfe bat. Er beobachtete den Jungen und schlug mir vor, ihn auf seine Station zu nehmen und einige Zeit zur Beobachtung dort zu behalten. Es könnte ein psychisches Problem sein, und er würde dem gerne auf den Grund gehen. Tobias war eigentlich gerade erst eingeschult worden, und ich hatte Angst, er würde längere Zeit in der Schule fehlen. Der Psychologe beruhigte mich und erklärte mir, dass es in der Klinik auch eine Schule gäbe, die der Junge besuchen könnte, und so würde er nichts versäumen, was die Schule betraf.

       Ich besuchte meinen Sohn jeden Tag, und es wurde ein Aufenthalt von einem halben Jahr, bis er wieder nach Hause durfte. Das war für mich eine schlimme Zeit, und ich war voller Sorge und machte mir Vorwürfe, als ich zu einem Gespräch mit dem Psychologen gebeten wurde. Er zeigte mir Bilder, die der Junge gemalt hatte, und durch dieses Malen mit den Fingerfarben malte sich der Junge den Kummer, den er hatte, von der Seele. Wahrscheinlich nahm er sich die Schläge, die sein Bruder damals mit ihm bekam, so zu Herzen, weil er wohl derjenige war, der die Süßigkeit aus dem Kalender von Anna genommen hatte. Es dauerte noch einige Zeit, bis das Zucken, das Tobias noch manchmal hatte, so nach und nach verschwand. Nur eines blieb: Sobald er als Kind nicht die Wahrheit sagte, fing er sofort an, mit dem Kopf zu zucken, doch der Arzt meinte, das würde sich nach der Pubertät verlieren, und so war es dann auch. Weil ich mit Tobias diese Probleme hatte und mich deswegen verstärkt mit ihm beschäftigte, behaupteten meine anderen beiden Kinder immer, er sei mein Lieblingssohn, und das muss ich heute noch des Öfteren hören.

       Auch Anna hat mir als Kind einmal einen schönen Schrecken eingejagt. Wir wohnten damals in einem Wohnblock über einem Supermarkt. Sie balgte sich vor der Haustüre mit dem Sohn meiner Nachbarin. Einer schob den anderen hin und her, dabei rutschte Anna aus und fiel mit dem Gesicht genau in die Glasscheibe der Eingangstüre. Das Glas zersprang und verletzte sie im Gesicht. Die linke Augenbraue war eingerissen und musste geklammert werden, und auch der linke Nasenflügel war verletzt. Sie blutete sehr stark und schrie so laut, dass das Personal aus dem Supermarkt angelaufen kam, um zu sehen, was passiert war. Ich hatte noch keinen Führerschein, so dass sich ein junger Mann von dem Personal sofort bereit erklärte, uns zum Arzt zu fahren, wo sie behandelt wurde. Gott sei Dank ist nur eine kleine Narbe von der Klammerung an der Augenbraue zurückgeblieben, und wenn man es nicht weiß, fällt es nicht auf.

       Anna hatte nicht nur eine Narbe an der Augenbraue. Im Kindesalter hatte sie ein Erlebnis, das auch auf ihrer Seele eine kleine Narbe hinterließ. Als sie etwa zehn Jahre alt war, fing ein Vorderzahn an zu wackeln. Der Gang zum Zahnarzt wurde notwendig. Schon als wir die Praxis betraten, klammerte sie sich voller Angst an mich. Das grelle Pfeifen des Bohrers aus einem Nebenraum war nicht zu überhören und verstärkte noch zusätzlich ihre Angst. Als sie den strengen Blick des Zahnarztes wahrnahm, während er ihr den Weg zum Stuhl wies, war es mit ihrer Beherrschung vorbei. Sie weigerte sich, den Mund auch nur ein kleines Stück zu öffnen und biss trotzig die Lippen zusammen. Wiederholtes gutes Zureden des Zahnarztes half nichts und so verlor er die Geduld und gab Anna eine schallende Ohrfeige. Als ihr ein entrüstetes „Aua“ entfuhr, ergriff der Zahnarzt blitzschnell den wackelnden Zahn und zog ihn heraus. Der Zahn war gezogen, aber die panische Angst vor dem Zahnarzt ist ihr bis heute geblieben.