Erich Szelersky

Das Quaken der Frösche


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für eine neue Existenz in der Türkei brauchten, zogen ihre Familien nach. Ihr Traum von der gesicherten Existenz in Anatolien war für die meisten zerplatzt. Für die in der Türkei Zurückgebliebenen waren sie durch ihre Zeit in Deutschland Fremde geworden und in ihrer neuen Heimat waren sie weiterhin Ausländer. In dieser Lebenslage zwischen Baum und Borke arrangierten sie sich so gut es ging mit den Verhältnissen. Manche lernten schnell die deutsche Sprache und erzogen ihre Kinder wie die Deutschen, andere lösten sich nicht von ihrer Tradition und versuchten, so viel wie möglich von ihr zu erhalten.

      Sie zogen mit ihren Familien in Wohnungen in der Hüttensiedlung. Viele Deutsche zogen daraufhin weg. Die Matuschaks waren geblieben. Sie kamen mit den beiden türkischen Familien in ihrem Haus gut zurecht. Sie sprachen miteinander und manchmal trafen sie sich sogar. Dann erzählten die Türken von ihrer Heimat am Schwarzen Meer.

      Irgendwann wollten Gerd und seine Frau einmal die fremde Stadt sehen, von der sie so viel gehört hatten und flogen für zwei Wochen dorthin. Das war die größte Reise in ihrem Leben gewesen. Es sollte nicht die letzte sein; das hatten sich die beiden fest vorgenommen, doch das Schicksal ließ keine weitere Reise mehr zu. Gerds Frau Helga erkrankte an Krebs. Anfangs hatten sie noch Hoffnung gehabt, die Chemotherapie könnte sie heilen, doch nach zwei Jahren voller Hoffen und Bangen wurde den beiden bewusst, dass ihr gemeinsames Leben bald ein Ende nehmen würde. Ihr Zustand wurde immer schlechter. Zuletzt lag sie nur noch im Bett und bekam von ihrem Hausarzt dreimal am Tag Tramal gespritzt. Kurz bevor sie starb wurden die Schmerzen so schlimm, dass sie sich schon eine Stunde vor der Zeit, zu der ihr Arzt kam, um ihr die Spritze zu geben, vor Schmerzen wandte, und trotz der antidepressiven und anxiolytischen Wirkung des Medikaments fiel sie immer wieder in einen Zustand tiefster Depressionen und Angstzustände. Gerd stand ihr bei, saß oft die ganze Nacht an ihrem Bett. Das langsame Dahinsiechen seiner Frau belastete ihn seelisch sehr stark, aber ins Krankenhaus brachte er sie nicht. Das konnte er nicht.

      Als sie dann für immer die Augen zumachte wusste er nicht, ob er ihren Tod als Erlösung betrachten sollte. Er sagte sich, dass sie nun keine Schmerzen mehr zu erleiden hätte und tröstete sich damit ein wenig über die Trauer hinweg.

      Seine Tochter Ingrid fing ihn auf. Sie wohnte mit ihrem Mann und ihrem Sohn in einem benachbarten Stadtteil in einem Reihenhaus. Gerd Matuschak zog zu ihnen. Er war sehr froh darüber, nicht allein in der Wohnung bleiben zu müssen, in der er mit seiner Frau so viele Jahre gelebt hatte und er dachte auch, dass die Kinder das Geld, das er ihnen jeden Monat für Kost und Logis gab, gut gebrauchen konnten, um das Haus abzuzahlen.

      6

      Gerhard Matuschak hatte Helga Reselski beim Tanzen kennengelernt.

      Der Tag, an dem sie sich zum ersten Mal begegneten, war eigentlich ein Samstagabend wie jeder, an dem Gerd nicht arbeiten musste. Gegen Abend war er in seine Stammkneipe gegangen. Dort traf er sich mit seinen Freunden, alles Jungs aus dem Viertel. Die meisten von ihnen arbeiteten auch auf der Hütte. Einige spielten ebenso wie Gerd in der Fußballmannschaft vom DFV 08.

      In der Gaststube roch es nach Bierdunst und dem kalten Qualm von Millionen Zigaretten, die hier im Laufe vieler Jahre in die Luft gepustet worden waren. Die jungen Männer spielten am Kickerautomat und tranken Bier.

      Aus einer Musikbox dröhnte Musik. Eine neue Zeit war angebrochen und der Rock‘n‘Roll drückte das Lebensgefühl der jungen Leute aus. Raus aus der miefigen Schnulzenumgebung ihrer Eltern.

      Der Wirt hatte sich rechtzeitig darauf eingestellt und im Keller der Wirtschaft ein Tanzlokal eingerichtet. Nach dem Namen der Wirtin nannten sie den Tanzschuppen Elisenburg. Anfangs kam die Musik nur aus Musikboxen, doch schon bald spielten Bands nach dem Vorbild von Bill Haley. Wenn die Musik von unten heraufdröhnte war das das Signal für den Aufbruch. Gerd und seine Freunde gingen hinunter.

      Helga war vorher noch nie in der Elisenburg gewesen. Eine Freundin hatte sie überredet, mit ihr zu kommen, denn sie hatte sich mit einem jungen Mann in dem Lokal verabredet.

      Als Gerd Matuschak Helga sah verschlug es ihm den Atem. Sie trug ein weites Kleid mit Petticoat und um den Hals ein dünnes, lässig gebundenes Halstuch. Er forderte sie zum Tanzen auf. Sie war überwältigend, hatte schwarzes Haar und perlweiße Zähne. Wenn sie lachte, und sie lachte gerne, strahlte sie.

      Gerd Matuschak war lustig und brachte sie immer wieder zum Lachen. Vielleicht gab das den Ausschlag dafür, dass sie sich in Gerhard verliebte. Sie verabredeten sich für den Tag darauf. Das war ein Sonntag und Gerd spielte mit seiner Mannschaft Fußball. Er schlug vor, sie sollte zum Fußballplatz kommen und anschließend könnten sie noch etwas unternehmen. Sie kam. Es war das erste und letzte Mal, dass sie auf einem Fußballplatz war. Als er sie am Spielfeldrand stehen sah gab er sich besonders große Mühe, gut zu spielen.

      Nach dem Spiel gingen sie in ein Eiscafe und Gerd spendierte ihr einen riesigen Eisbecher. Als er sie nach Hause brachte haben sie sich zum ersten Mal geküsst.

      Zwei Jahre waren sie befreundet, trafen sich so häufig wie möglich. Wenn er keine Mittagschicht hatte, holte er sie am Nachmittag von der Textilfabrik, in der sie als Schneiderin arbeitete, ab. Meistens gingen sie zu ihr nach Hause und ihre Mutter kochte für die beiden.

      Nach zwei Jahren fragte er sie, ob sie mit ihm in Urlaub fahren würde. Sie musste ihre Eltern fragen, obwohl sie schon zwanzig Jahre alt war. Etwas ängstlich hatte sie bei ihrer Mutter vorgefühlt, doch ihre Eltern stimmten zu. Sie mochten Gerhard und konnten sich ihn als zukünftigen Schwiegersohn gut vorstellen.

      Als der Tag der Abreise gekommen war, brachten sie Gerhard und Helga zum Hauptbahnhof. Mit dem Alpen-See-Express fuhren sie nach Ruhpolding. Von dort würde sie der Vermieter ihres Zimmers in einer kleinen Frühstückspension abholen. Der Zug war brechend voll und sie saßen mit vier anderen, ihnen fremden Personen in einem Liegewagenabteil, das der Reiseveranstalter Touropa für sie reserviert hatte. Ihre Eltern hatten den beiden ein Paket mit Butterbroten, ein paar hartgekochten Eiern und einigen Frikadellen vorbereitet. Aus einer Thermoskanne tranken sie Kaffee. Sie waren glücklich, befreit und ausgelassen wie es nur zwei Menschen sein können, die sich lieben.

      Gegenüber ihrem Vermieter, einem Herrn Bichlmaier, gaben sie sich als Herr und Frau Matuschak aus. Das reichte Herrn Bichlmaier und er sagte auch weiter nichts, als nach einer Woche eine Postkarte für Helga Reselski ankam. Die Karte lag einfach nur auf dem Doppelbett, als Gerd und Helga von einer Bergwanderung abends zurück in die Pension kamen.

      Die meiste Zeit verbrachten sie damit, auf die umliegenden Almen und Berge zu steigen, und als sie den Gipfel des höchsten Berges dieser Gegend nach fünfstündigem Aufstieg erklommen hatten und das herrliche Panorama vom Gipfelkreuz aus genossen, fiel er plötzlich auf seine Knie und fragte sie, ob sie seine Frau werden wollte. Helga hatte nur gelacht und war ihm in die Arme gefallen.

      Ihre Eltern waren überrascht, als sie ihnen eröffneten, verlobt zu sein. Ein Jahr später heirateten sie und ein weiteres Jahr später wurde Ingrid geboren. Das war neunzehnhundertsechzig.

      In der Nähe der Hüttensiedlung gab es einen Kleingartenverein. Dort kauften sie eine Parzelle mit einer kleinen Laube. Im Sommer verbrachten sie jede freie Minute in dem Garten, zogen ihr eigenes Gemüse und genossen das Grün, das sich von der Industrie ringsherum nicht verdrängen ließ.

      Dieser Kleingartenverein spielte in Gerhard Matuschaks Leben eine große Rolle. Viele Jahre war er Vorsitzender des Vereins und verteidigte die grüne Oase gegen alle Bestrebungen der Industrie und der Stadt, das Gelände für andere Zwecke zu nutzen und die Kleingärtner umzusiedeln. Dabei erwies er sich als sehr geschickter und kompetenter Verhandler. Es war seinem Engagement zu verdanken, dass die Kleingartenanlage nicht angetastet wurde und das honorierten die anderen Kleingärtner, in dem sie ihn jedes Jahr wiederwählten. Obwohl Gerd Matuschak es nicht wollte, betrachteten alle ihn dort als so etwas wie den König des Kleingartenvereins „Feierabend“.

      Gerhard Matuschak war schon über siebzig, als er den Vorsitz an einen Jüngeren abgab. Er verkaufte seine Parzelle, da er die Arbeit im Garten nicht mehr machen konnte. Zum Abschied schenkten ihm seine dankbaren Gärtnerfreunde ein Bild mit dem Vereinswappen und einem Porträt von ihm und Helga in Acrylfarbe auf Leinen.

      Dieses