Herman Old

Der Mann, der den Teufel zweimal traf


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zu. Der Schlag ging knapp daneben, die Wespe flog davon. Kurz darauf kamen gleich zwei Wespen und umschwirrten den Salat. Jorge schlug zu, als die erste landete. Daneben. Er schlug erneut zu, und wieder daneben. „Ja, sage mal, bin ich jetzt schon zu dämlich eine Wespe zu treffen?“ Sagte er sauer. „Halt still, du...“ Den Zusatz „Mistviech“ hatte er schon auf den Lippen, bremste sich aber wegen den Kindern. Er schlug noch weitere vier Male zu, ohne einen Treffer zu landen. Er konnte es nicht fassen. Dann schaute er in die Gesichter seiner Familie. Elena saß kreidebleich und wie versteinert da und beobachtete Carmen, Mia schluchzte leise, und Carmen saß mit weit aufgerissenen Augen da und schaute ihren Vater durchdringend an. Ihr Blick schien ihn hypnotisieren zu wollen. Er brannte regelrecht. Eine Wespe krabbelte jetzt auf der Decke genau auf ihn zu. Er sah es aus den Augenwinkeln. Er schaute zu ihr, nahm die Klatsche in die rechte, die Wespe aufs Korn, und schlug zu. „Volltreffer, aber hallo“, dachte er innerlich grinsend, doch der Schlag ging in Wirklichkeit daneben. Daneben? Er schlug zu, wieder und wieder. Daneben, daneben, daneben, daneben. Nach fünf vergeblichen Schlägen in Richtung krabbelnder Wespe gab er es endlich auf. Die Wespe erhob sich und flog nach einer Umkreisung der Familie davon. Jorge war genauso bleich wie Elena. „Was, zum Henker war das?“ Fragte er. Er schaute Elena direkt ins Gesicht und sagte zu ihr. „Hast du das auch gesehen?“ Sie nickte stumm. Carmen stand auf und griff vorsichtig mit spitzen Fingern nach einem der dunklen Flügel der toten Wespe. Sie ging mit ihr zum toten Seepferdchen und legte sie dazu. Dann setzte sie sich in den Sand und schaute stumm zu den beiden toten Tieren. Mia kam zu ihr, setzte sich neben sie und legte den Arm um sie. Elena und Jorge waren erschüttert. Am frühen Nachmittag, als alle wieder im Auto saßen und die Mädchen sofort in ihren Kindersitzen eingeschlafen waren, sagte Jorge zu Elena. „Ich glaube, diese Geschichte behalten wir wohl besser für uns, die nimmt uns nämlich keiner ab. Wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, würde ich es auch nicht glauben, dass uns so was passiert ist.“ Elena sagte. „Das war richtig gruselig, wie sie dich angesehen hat. Ich hatte auf einmal eine Angst, das kannst du dir gar nicht vorstellen.“

       Carmen II

      Im Laufe der Jahre stellten Elena und Jorge fest, das mit Carmen tatsächlich irgendwas nicht stimmte. Sie benahm sich zwar meistens wie alle anderen Kinder, war aber nach diesem Urlaub ruhiger geworden und manchmal schien sie sogar in eine Art Trance zu versinken. Das konnte zwischen ein paar Sekunden und teilweise zwei Minuten geistiger Abwesenheit bedeuten. Wenn eins der Elternteile sie dabei beobachtete und hinterher ganz unauffällig fragte, was sie gerade gemacht hätte, dann antwortete sie stets. „Ich habe geholfen.“ Wem oder wobei sie geholfen hatte, sagte sie nicht, wenn man nicht ausdrücklich fragte. Die Jahre vergingen. Es waren merkwürdige Dinge und Vorkommnisse, mit denen sie manchmal auffiel. Ihre Lehrerin war mit der Klasse eines Tages im Harz auf Klassenfahrt, als sie den Kindern im Wald unter einem uralten, morschen Baum bei Zorge etwas zeigen wollte. Plötzlich erklang ein grässliches Knacken über ihr. Ein fast acht Meter langer, zentnerschwerer Ast brach genau in diesem Moment ab und stürzte mit seinem ganzen Gewicht rasend schnell nach unten. Die Lehrerin stand entgeistert und völlig chancenlos darunter, sah hoch, den gewaltigen Ast genau auf ihr Gesicht zufliegen, unfähig noch auszuweichen und riss die Hände hoch. Doch der Ast verfehlte sie um Millimeter. Als sie erschrocken zu den Kindern schaute, stand die siebenjährige Carmen auf einmal dicht vor ihr mit weit aufgerissenen Augen und lächelte. Der Ast hätte sie eigentlich beide treffen müssen, erzählte sie später Carmens Eltern. Es wäre ein absolutes Unding, das da weiter nichts passiert sei. Carmen stand doch vorher gerade noch hinter den anderen Kindern, locker zehn Meter weit entfernt, als die Lehrerin alle zu sich rief. Wie, um alles in der Welt, konnte sie nur so schnell nach vorne gekommen sein? Und warum der Ast sie beide dann doch noch verfehlt hatte, auch das war ihr vollkommen unklar. Sie hatte deutlich gesehen, das sie getroffen werde würde. Als wenn Carmen etwas mit ihrer glückseligen Rettung zu tun habe, sie praktisch der Lehrerin beistehen wollte, so hatte diese das Gefühl. Carmens Eltern bedankten sich für den Hinweis und dachten sich ihren Teil. Die Mädchen waren gerade acht Jahre alt, als ein Schulkollege von den beiden es liebte, die Mädchen auf eine eklige Weise zu erschrecken. Er fing Fliegen, riss ihnen die Flügel aus und steckte die armen Kreaturen dann in eine leere Streichholzschachtel. Wenn die Mädchen die Schachteln auf seinen Wink hin öffneten, krabbelten die vielen hilflosen Fliegen heraus und die Mädchen schrien angeekelt. Das war für den Jungen der höchste Spaß. Als Carmen einmal neben ihm stand, sah er eine fette, grün schillernde Fliege munter auf der Suche nach etwas leckerem herum schwirren. Die musste er haben. Ein wahres Prachtexemplar für seine Schachtel. Er wartete bis sie auf einer Stuhllehne saß und dachte sich. „So, du funkelnder Smaragd, schön ruhig bleiben, gleich hab ich dich.“ Dann feuerte er seine offene rechte Hand ab, und schon hatte er die Fliege in der Faust. Siegessicher wollte er sich gerade über den Brummer hermachen, als er plötzlich bemerkte, das der Mittelfinger der geschlossenen Faust von allein anfing hoch zu gehen, sich einfach ohne sein Wollen bewegte. Als der Finger oben war, schaute die Fliege ganz kurz ins Freie, als könne sie es nicht glauben hier nochmal raus zu kommen und sauste davon. Verblüfft bemerkte der Junge, das Carmen mit weit aufgerissenen Augen vor ihm stand. Er versuchte es noch ein paarmal mit den Fliegen, aber er konnte an diesem Tag keine einzige mehr in der Hand behalten. Und die, bis dahin heile Welt eines achtjährigen Jungen, der Fliegen gerne aus Spaß die Flügel ausriss, kam ganz schön ins Wanken. Jorge fragte Carmen eines Tages scherzhaft im Auto, als nur sie beide nachmittags unterwegs waren, wem sie denn nun gerade geholfen hätte, nachdem sie eben wieder aus einer vielleicht eine Minute dauernden Trance erwacht war. Sie drehte verschämt den Kopf zur Seite und sagte nur leise. „Einem König.“ „Und warum schämst du dich dafür, einem König geholfen zu haben,“ fragte er weiter ganz ruhig. Sie sagte. „Ich schäme mich, weil ich nicht allen helfen kann.“ Jorge wusste nicht, was er darauf antworten könnte. Als er nach dem Abendessen nochmal ins Internet ging um seine Mails abzurufen, sprang ihm die Schlagzeile des Tages ins Auge. Es hatte heute Nachmittag in London ein Attentat auf einen skandinavischen König gegeben. Die britischen Sicherheitskräfte hätten es allerdings gerade noch in letzter Sekunde wie durch ein Wunder vereiteln können. Das ganze nordeuropäische Volk und seine Presse dankten den Bodyguards und dem Secret Service überschwänglich für den selbstlosen Einsatz zur Rettung ihres Königs. Neue Helden waren geboren. Zwei Wochen später saßen zwei Bodyguards jeweils allein bei ihren Psychiatern. Beide brabbelten unabhängig voneinander etwas von kleinen, blonden Mädchen. Die Welt wusste nichts von einem Kind namens Carmen, sie würde auch nie etwas davon erfahren und es war gut so. Kinder hatten sich gefälligst nicht in solche Dinge einzumischen. Jorge erzählte es seiner Frau. Abends, als die Mädchen im Bett waren, setzte sich Elena zu Jorge auf das Sofa und sagte zu ihm. „Wir müssen endlich etwas unternehmen. Ich halte das so nicht mehr aus. Was ist nur los mit unserem Kind?“ Jorge führte am nächsten Tag ein paar Telefonate, denn er befürchtete das schlimmste. Sie hatten es lange genug verdrängt, dass hier etwas absolut nicht stimmte. Er fuhr am frühen Nachmittag mit Carmen zu einem befreundeten Kollegen, der stets ein offenes Ohr und in Jorges Augen die Kompetenzen besaß, um sich das Mädchen mal anzuschauen. Er führte nur ein paar leichte Tests mit ihr durch und sprach viel und lange mit ihr. Danach führte er ein längeres vertrauliches Gespräch mit Jorge. Jorge sagte später, nach einem tiefen Seufzer zu Elena: „Sie hat allem Anschein nach tatsächlich übersinnliche Kräfte, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht. Es ist nicht zu fassen, aber wir müssen damit klarkommen. Sie hat keine Krankheit oder sonst etwas Schlechtes, nur eben diese unerklärlichen Kräfte. Wenn wir es jemandem erzählten, würde man uns glatt für bekloppt halten. Also behalten wir es besser im Auge, ansonsten machen wir nichts. Aber eines ist sicher, auf gar keinen Fall stellen wir sie der Wissenschaft für irgendwelche Tests zur Verfügung.“ Sie versuchten sich vorzustellen, wie sie weiterhin damit umgehen sollten. Sie hatten Angst, und wussten nicht genau wovor. Die Wissenschaft und der Rest der Menschheit hätten ihr Kind sicher als Monster abgestempelt, oder als böses Omen, als Dämon vielleicht, wer konnte das schon voraussagen? Sie wussten aber, dass ihr Kind nichts in der Art war, sondern lediglich ein liebes, kleines Mädchen mit besonderen Fähigkeiten.

       Felipe Reimbaldos

      Der Großvater Jorges, Felipe Reimbaldos, war noch in den dreißiger Jahren des jungen zwanzigsten Jahrhunderts auf Expeditionen in den Regenwald am Rio