Herman Old

Der Mann, der den Teufel zweimal traf


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wichtig, seltene Pflanzen zu finden und zu bestimmen. Pflanzen und Tiere bekam er mehr als genug zu Gesicht, mit den Indios war es schon um einiges schwieriger. Außer dem wenige hundert Menschen zählenden Stamm der Awas bekam er keine weiteren Indios direkt in ihrem Lebensraum zu Gesicht. Man wusste von Stämmen, die von Weißen drangsaliert, um ihr Land gebracht und verfolgt wurden. Einige wanderten ab und versteckten sich daraufhin noch viel tiefer im Regenwald. Andere stellten sogar die Kinderproduktion ein, da sie auf der Flucht nur hinderlich, und im Endeffekt somit die leichtesten Opfer waren. Goldsucher, Holzfäller, Gummizapfer und Glücksritter aller Art machten in den letzten hundert Jahren vielen Stämmen das Leben und damit das Überleben schwer. Es gab eine Menge Massaker an den Indios, und mancher kleine lokale Stamm wurde dadurch auch komplett ausgerottet. Die Indios hatten keine Lobby gegen Großgrundbesitzer, Farmer und Piraten aller Couleur. Niemand, inklusive der Regierung, war auf ihrer Seite. Und dennoch überlebten etliche Stämme in den Weiten des Regenwaldes. Die Organisation FUNAI wurde für sie ins Leben gerufen. In den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts wurde ein weiteres unbekanntes Volk entdeckt. Die Yanomami. Das war eine Sensation, als die ersten Bilder eines Volkes auftauchten, die in ihrem Leben noch nie einen weißen Menschen gesehen hatten. Es dauerte auch nur ein paar Jahre, und diese armen Menschen litten und starben bereits an den Folgen ihrer Entdeckung. Meistens an simplen eingeschleppten Zivilisationskrankheiten, gegen die sie einfach keine Abwehrmechanismen hatten. Die FUNAI sorgte nach diesen Erkenntnissen dafür, das der Lebensraum aller Indios noch mehr vor den Weißen geschützt wurde. Bereits kultivierte Indios aller Art, liefen mittlerweile überall in den Städten des Landes herum. Aber unentdeckte, oder andere, die sich der Anwesenheit der Weißen bewusst waren und sich gerade deswegen im Dschungel vor der Außenwelt versteckende Indios, die ließen sich in der Regel erst blicken, wenn man in ihren Lebensraum eindrang. Dann wurde die Sache allerdings Ernst. Man hielt sich hier nicht mit Begrüßungsformalitäten auf. Stattdessen bohrte sich auf Felipes letzter großen Expedition ein vierzig Zentimeter langer, gefiederter Pfeil eine Handbreit über seinem Kopf in eine Staude, und ein weiterer in die Seitenschnalle seines Lederstiefels, die wohl beide als erste und zugleich letzte Warnung zu verstehen waren. Es kamen keine weiteren Pfeile geflogen. Aber die Warnung war unmissverständlich. Felipe verstand und respektierte sie. Einen der wahrscheinlich vergifteten Pfeile bewahrte er seitdem in einer Glasvitrine auf. Daraufhin begab er sich später nie mehr tiefer in den Dschungel, als bereits erschlossen war. Selbst dort gab es noch genug zu entdecken. Oftmals waren es lokale Tier- oder Pflanzenpopulationen, die nur hier an bestimmten Stellen gediehen und lebten. Felipe lernte einen Indio namens Pao kennen. Pao war vom Volk der Korobos, die seit den neunziger Jahren des auslaufenden neunzehnten Jahrhunderts bekannt waren. Dieser erzählte ihm einige verrückte Dinge aus dem Dschungel. Felipe glaubte nur die Hälfte von dem was er hörte, und das war genug um sich ein Bild zu machen. Ein Bild von Wildnis, Abenteuer, wuchernden Pflanzen und unentdeckten Schätzen, in Form von Kultstätten, Tieren und Pflanzen, Tod und Teufel. Davon gab es im Dschungel tatsächlich mehr als reichlich. Von plötzlichen Angriffen wilder Tiere, Kaimane, Piranhas und Schlangen aller Art. Eine dabei giftiger als die andere. Unter anderem erzählte er auch ausführlich von der Riesenschlange Anakonda, die zwar nicht giftig war, dafür aber bis zu zehn Meter lang und der tödlichste Würger im Wald war, der auch ausgewachsene Männer als Nahrung betrachtete und deswegen umbrachte. Der Herrscher des Dschungels aber, der Jaguar, war überall der König. In den Bäumen genauso lautlos und tödlich wie am Boden. Selbst die Anakonda machte einen Bogen um ihn. Ein Jaguar konnte jeden Gegner mit einem einzigen, fürchterlichen Prankenhieb töten. Alle Indios verehrten und fürchteten ihn. Pao zeigte Felipe die Pflanzen, die die Indios seit ewigen Zeiten als Medizin benutzten. Der Jaborandibaum war so ein kostbares Exemplar. Substrate aus seinen Blättern ergaben ein wirksames Mittel gegen den Biss der Buschmeisterschlange, die im Dschungel überall anzutreffen war. Das Gift dieser Schlange zersetzte das Blut und führte schnell zu einem elenden Tode, wenn man kein Serum dagegen besaß. Bevor man starb, lief einem das Blut aus den Augen. Das war stets ein sicheres Zeichen des nahen Todes. Das Schlangengift wiederum war aber als ein wirksames Gegengift bei manchen Beschwerden bekannt. Als ein Mittel gegen Blutvergiftung, Stichwunden und Liebeskummer etwa. So ergab sich oft das eine aus dem anderen in der Natur des Waldes. Diese Verbindungen veranlassten Felipe, den Regenwald die größte Apotheke der Welt zu nennen. Der Regenwald würde wahrscheinlich für jede Krankheit eine Medizin bereithalten. Man müsse sie eben nur finden. Über neunzig Pflanzenarten aus dem Regenwald konnten sie durch ihre Arbeit in wenigen Jahren der Wissenschaft zur Verfügung stellen. Und weitere, geschätzte mindestens zweitausend Arten würden vermutlich noch auf ihre Entdeckung warten. Der Regenwald war und blieb geheimnisvoll. Mit Pao als seinem unermüdlichen Helfer und Dolmetscher für die Sprache Tupi und anderer Dialekte an seiner Seite, erforschte Felipe im Laufe der Jahre sehr große Gebiete. Sie waren nahezu unzertrennlich und richtige Freunde geworden. Pao erzählte ihm einmal eine fantastisch anmutende Geschichte von einem Jagdausflug, an dem er als heranreifender Junge teilgenommen und auf dem er wohl beinahe gestorben war. Die Geschichte klang absolut unglaubwürdig und endete mit einem Märchen, wie Felipe vermutete.

       Werner

      Werner saß am Frühstückstisch verdrossen vor seinem Teller. Davor lag die Salzgitterzeitung und eine Schlagzeile die Inas Diagnose in aller Welt verbreitete, sprang dem Betrachter förmlich sofort ins Auge. Werner wusste genau, was alles in dem Artikel stehen würde, er brauchte es gar nicht noch einmal zu lesen. Die Ärzte in der Klinik hatten ihn schließlich hinreichend informiert. Er hätte am liebsten irgendetwas gepackt und aus dem Fenster gefeuert, so ungehalten war er, als er die Schlagzeile sah. Aber zugleich wurde ihm klar, dass das jetzt niemandem genutzt hätte. Nicht mal zum Abreagieren hätte es gereicht. Also versuchte er, sich wieder zu beruhigen. Seine große Kaffeetasse klapperte beim Absetzen und so nahm er sie nochmal hoch, trank einen kleinen Schluck und setzte sie dann schon etwas ruhiger wieder ab. „Nachwuchstalent nach schwerem Sturz querschnittsgelähmt.“ Schrie die Zeitung den Leser an. Das klang genauso banal wie: „Schweinehälften werden in diesem Jahr billiger.“ Man hätte noch den plausibelsten Nachsatz dazu schreiben können. „Das hat sie jetzt davon, selber schuld, blöde Kuh, was springt sie auch so herum?“ Dass der Sport, den Ina ausübte, gefährlich war, das wusste jedermann. Aber das jemand gleich so unglücklich enden sollte, das war neu und eigentlich unglaublich beängstigend. Werner fand es einfach ungerecht, dass der Artikel die Diagnose so reißerisch heraus posaunte. Etwas zurückhaltender, und vielleicht auf der zweiten Seite erst. Aber nein, mitten vorne drauf. Heute mal die Flüchtlinge aus Syrien und den anderen Ländern auf der zweiten Seite, neben den Meinungen der Weltpolitiker zum Tode Helmut Schmidts. Inas Schlagzeile schlug sie heute alle. Ein Talent war der Stadt verloren gegangen, und das wusste die Presse natürlich schleunigst an den Mann zu bringen. Das Talent war verloren, also schnell einen Artikel dazu, bevor das Thema wieder kalt wurde und keinen mehr interessieren würde. Der tote Altkanzler konnte warten, der lief der Presse erst mal nicht mehr weg. Dass es für ihn extra Seiten geben würde, mit Würdigungen angeblich bestürzter Politiker aus aller Welt, Lobpreisungen wegen seiner Verdienste um das Deutsche Vaterland, Berichten, vielleicht noch irgendetwas pikantem, unveröffentlichtem, das war schon klar. Aber das gelähmte Talent, das war brandaktuell. Unserem besten Rennfahrer war es auch nicht wesentlich anders ergangen, nach seinem schweren Skiunfall. Heute fragte kein Mensch mehr nach ihm. Der Lauf der Dinge ging eben weiter. Und mit Sicherheit war es seiner Familie auch ganz recht so. Das auch Inas Talent eigentlich der ganzen Welt verloren ging, brauchte niemand zu betonen. Aber nicht das Talent des Stabhochspringens stand im Vordergrund, nicht die Leistungen, die sie im Sport erbracht hatte. Das alles zählte überhaupt nicht. Zumindest für Werner. Der Mensch Ina, ihre Gesundheit, ihr aktives Leben, die Masse an Energie, die Freude am Leben die sie verbreiten konnte, die Liebe die sie geben konnte, all das war gerade für Werner verlorengegangen. Das wusste die Welt ja gar nicht, und wahrscheinlich hätte sie es auch nicht interessiert. Die Presse nutzte es eben auf ihre Weise. Was wusste denn der Redakteur dieses Artikels vom eigentlichen Drama? Nichts, absolut nichts. Ihm war ja nur seine Schlagzeile wichtig, damit die Zeitung wieder glänzend, als gut unterrichtet da stand. Sollte er doch zum Teufel gehen, der Kerl, dachte Werner. In seinem Zorn und seiner Hilflosigkeit wurde er langsam aber sicher ungerecht, ohne es zu merken. Er brauchte ein Ventil dafür, und der dämliche Redakteur, oder besser gesagt, der dämliche Artikel des dämlichen Redakteurs, kam ihm da gerade