Hermine Stampa-Rabe

Spannt die Pferde vor den Wagen!


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musste ich immer sehr lachen.

      Schräg gegenüber in der Blücherstraße Nr. 7 wohnte Tante Rave. Bevor meine kleine Schwester Bärbel geboren wurde, hatten wir dort unter ihr gewohnt. Tante Rave war eine von Mutters besten Freundinnen. Sie hatte uns Kinder immer sehr geliebt.

      Einmal habe ich sie ganz allein besucht. Zu ihr musste ich Treppen steigen. Es war vormittags. Sie hatte gerade zwei für meine Verhältnisse große Fische gekauft.

      „Komm mit mir in die Küche", sagte sie, nahm mich mit dorthin und nahm die Fische aus. So etwas hatte ich vorher noch nie gesehen. Bei uns wurde nämlich nie Fisch gegessen.

      Sie trennte die Schwimmblasen aus den Fischkörpern, zeigte sie mir und sagte:

      „Sieh mal, Herminchen, in diesen beiden Blasen befindet sich Luft. Nur dadurch können die Fische im Wasser beim Schwimmen in der richtigen Lage schweben. Platzt einmal aus irgendeinem Grund eine Blase, muss der Fisch elend sterben."

      Tante Rave nahm mich gern auf ihre Knie und spielte mit mir Hoppe Reiter. Dazu sagte sie zwei verschiedene Verse auf. Der erste lautete so:

      Hoppe, hoppe Reiter.

      Wenn er fällt, dann schreit er.

      Fällt er in den Graben,

      fressen ihn die Raben.

      Fällt er in das grüne Gras,

      macht er sich die Höschen nass.

      Fällt er in den Sumpf,

      macht der Reiter plumps!

      Aber der zweite Vers ging ganz anders. Den kannte sie von ihrer Großmutter, bei der sie aufgewachsen war. Tante Rave war über vierzig Jahre älter als ich. Wenn wir dann das Alter von ihrer Großmutter dazuzählen, kommen wir ungefähr auf die Zeit, in der dieser Vers immer gesprochen wurde:

      So reiten die Herren

      mit blanken Gewehren,

      mit blanken Pistolen.

      Sie reiten nach Polen

      und wollen unserer kleinen Hermine

      eine neue Puppe holen.

      Und die dummen Bauern hinterdrein

      auf ihren Zuckelpferdchen.

      Backappel, Backappel, Backappel runter gefallen!

      Jedes meiner Geschwister und ich besaßen einen kleinen Porzellanvogel, der mit einer Spange an der Wohnstuben-Übergardine befestigt war. Meiner war ein ganz bunter und hübscher kleiner Zeisig.

      Und irgendwie bin ich mal zu einer brennenden Kerze gekommen. Ich erfreute mich an der kleinen flackernden Flamme und stand im Elternschlafzimmer am Fenster dicht bei der Gardine. Diese fing Feuer. Zum Glück war Mutter in meiner Nähe und konnte es, bevor es zu großen Schaden anrichten konnte, wieder löschen. Das wäre beinahe ein sehr großes Unglück geworden.

      Und eines Tages brachte Vater aus Großborn, wo er jetzt als Soldat diente, einen Schuhkarton mit. Er stellte ihn auf den Tisch und sagte zu uns:

      „Ratet doch mal, was in dem Karton ist."

      Der Deckel des Kartons hatte kleine Luftlöcher. Aber hineinschauen durften wir natürlich nicht. Aus dem Innern kamen komische und schabende Geräusche. Das konnte kein Vogel sein, wie wir zuerst annahmen. Keiner von uns konnte es erraten. Da nahm Vater lächelnd den Deckel ab und holte eine kleine Landschildkröte hervor. Weil sie sich mit einem so zackigen und rhythmischen Schritt vorwärts bewegte, wurde sie auf den Namen „Napoleon" getauft. Napoleon durfte während unserer Mahlzeiten auf dem Tisch sein Salatblatt auffressen. Drollig sah es aus, wenn er mit seinem Maul Dreiecke in das Salatblatt biss.

      An diesem Abend wurden wir wie immer ins Bett gebracht. Wenn Vater nicht zu Hause sein konnte, weil er dienstlich oder wegen der Feuerwehr, in der er auch war, abends noch einmal weg musste, durfte ich ja in seinem Bett schlafen.

      An diesem Abend wurden wir alle - auch ich - in unserem eigenen Bett eingekuschelt. Nach dem Abendgebet ging Mutter aus dem Kinderschlafzimmer und machte die Tür zu. Aus irgendeinem Grunde wachte ich aber wieder auf und musste zur Toilette. Dabei stellte ich fest, dass Mutter nicht zu Hause war. Das kannte ich nicht und wollte sie suchen. Für mich war es klar, dass sie bestimmt zu Oma und Opa Lu gegangen war.

      Ich zog mich an. Da es draußen schon ziemlich dunkel war, zog ich mir auch noch meinen dunkelblauen Mantel an, bei dem eine Spange mit phosphoreszierenden Katzenaugen befestigt war, damit mich niemand umrannte. So machte ich mich auf den Weg, den meine Mutter immer mit uns allen gegangen war. Darauf, dass ich das so genau wusste, war ich ganz stolz.

      Zuerst ging ich die Blücherstraße nach links bis ans Ende, überquerte den Blücherplatz, indem ich am Eisturm rechts vorbei ging. Dort am Blücherplatz befand sich das große Haus, in dem Oma Blücher wohnte. Dort in der Nähe führte eine kleine Brücke über die Ihna. Auf der anderen Seite angekommen, ging ich wieder links den Weidensteig entlang.

      Dass ich an zwei Brücken, die in die Stadt führten, vorbeigehen musste, wusste ich ganz genau. Die zählte ich auch. Über die dritte Brücke musste ich gehen und mich danach rechts halten und war nach kurzem Weg am Luisenplatz, den ich noch überqueren musste und gleich nach einer weiteren kleinen Brücke in der Luisenstraße. Hier wohnten Oma und Opa Lu in dem dritten Haus links.

      Als ich klingelte und Oma mir die Tür öffnete, war sie gar nicht so fröhlich, mich zu sehen. Vielmehr machte sie ein ganz entsetztes Gesicht und sagte:

      „Mein Zucker-Ei, was machst du denn hier so ganz alleine?"

      „Ich will meine Mami nach Hause holen", erwiderte ich ihr.

      Ich verstand sie nicht mehr. Oma Lu, Opa Lu, Onkel Hans, Tante Wanda und meine Cousine Waltraud scharten sich verständnislos um mich. Niemand drückte mich liebevoll, wie ich es sonst immer gewohnt war. Aber nun wussten sie, was los war. Irgendwie bekamen sie es fertig, meine Eltern davon zu informieren, dass ich bei ihnen war. Später kamen sie dann und holten mich ab. Mutter nahm mich gleich in ihre Arme und beruhigte mich.

      Vater sagte: „Das darfst du aber nie wieder machen."

      Zum Glück bekam ich keine Schläge, weil ich weggegangen war. Ich wollte ja etwas Gutes tun. Jedenfalls hatte ich meine Mami wieder. Das hatte ich dann doch erreicht.

      Meine Geschwister Rotraut, Hermann und Dankwart gingen schon zur Schule. Jetzt waren die Sommerferien für sie vorbei. Auch ich sollte demnächst eingeschult werden. Da fragte Rotraut ihre Klassenlehrerin, Fräulein Bohnenstengel, ob sie mich mal mitbringen dürfe. Sie erhielt dazu die Erlaubnis. Also durfte ich mal neben meiner großen Schwester in der Klasse sitzen und beim Unterricht eine Stunde lang zuhören. Das war ein einmaliges Erlebnis!

      Vater sagte danach zu mir: „Mini, jetzt kommst du auch zur Schule. Das ist etwas ganz Besonderes. Zur Feier dieses Anlasses fahre ich mit dir allein zum Madü-See und gehe dort mit dir Kaffee trinken und Kuchen essen. Möchtest du mit?"

      Und ob ich wollte!

      „Ja, das möchte ich", war meine Antwort.

      Das tat er dann auch. Das werde ich nie vergessen.

      Es war ein herrlicher Sonntag mit Wärme und Sonnenschein. Mutter zog mir meinen Sonntagsstaat an: Einen dunkelblauen Trägerrock aus Samt, der mit vielen kleinen bunten Herzen übersät war. Dazu trug ich eine kleine weiße Bluse mit Puffärmeln, weiße Kniestrümpfe und Halbschuhe.

      Dann nahm mich Vater mit seinem Fahrrad mit und fuhr zum Madü-See. Hier tummelten sich schon viel mehr Menschen als in der Stadt. Er nahm mich bei der Hand und ging mit mir zuerst auf dem weißen Sand zum Ufer. Gebadet haben wir nicht, aber ich hielt meine Hände in das angenehm warme Wasser. Darauf wanderte Vater mit mir in die Gaststätte und bestellte für uns beide Kuchen, für sich Kaffee und für mich Kakao. Und hier erzählte er mir die Geschichte, wie die Maränen in den Madü-See gekommen sind:

      'Im Kloster Kolbatz ist der Koch zum See gegangen und wollte Maränen fangen.