Gerd Schuster

Der Professor mit dem Katzenfell


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hatten, derb wieder zu.

      Gleichzeitig sperrte er den Mund seines hilflosen Opfers, dessen magere Schultern spitze Beulen in seinen graublau gestreiften Pyjama stießen, so weit auf, wie es Kiefergelenke und Bänder erlaubten, blähte seine Nüstern und pumpte seine Lungen bis zum Bersten voll Luft.

      Ein titanischer Nieser, dämmerte dem schlaftrunkenen Sebastian Schlichtkohl, hatte Besitz von ihm ergriffen und würde jeden Moment losbrechen. Der Professor bemühte sich, vollends aufzuwachen und seine Sinne zu sammeln; denn er wusste aus leidvoller Erfahrung, dass man sich verletzen konnte, wenn Arme oder Hände, beim nächtlichen Niesen in der Ekstase des Augenblicks ins Dunkel geschleudert, an eine Kante von Bettrahmen, Kopfteil oder Nachttisch krachten. Einen Unterarmgips hatte ihm das schon eingetragen.

      Dennoch gab sich Schlichtkohl der Eruption, die sich in jeder Faser seines Körpers mit Urgewalt anbahnte, willig hin, würde sie doch das unerträgliche Kitzeln und Kribbeln fortblasen, das in seinem Nasen-Rachen-Raum tobte. Mit beiden Händen krallte er sich am Bettzeug aus dem Kaffeeladen fest. Beim Barte des alten Meskiaggascher, des Königs von Uruk: Es würde ein Donnerschlag werden, dem die Mauern von Jericho nicht hätten standhalten können! Eben ging es los! »Ha ...«

      Da erstarb, verging, erlosch, ja: desertierte der Niesreiz. Urplötzlich war er einfach weg. Mit ihm verschwanden die am Gaumen hüpfenden und tanzenden Asseln, Ameisen und Aasfliegen, oder was immer dort kitzelte, als hätte es sie nie gegeben. »Ha-ha-ha ...!«hechelte der Forscher dem Nieser hinterher. Er kam sich betrogen vor, und das fand er albern.

      Frustriert japste er noch ein paar Mal, bis die Nachbeben der Eruption, die sich mitten in ihrer Ouvertüre davongestohlen hatten, abgeklungen waren. Er ließ die überschüssige Luft ab und wartete ergeben auf eine Rückkehr der Krabbeltiere und ihrer Kitzelorgie.

      Man kannte das ja: Ein Nieser war keiner – besonders dann, wenn man eine Katze im Bett hatte, die Haare verlor wie eine Wunderkerze Funken. Wenn er auch wirklich keine zweite Fraktur wollte, würde er sich immer für den Stubentiger entscheiden, für die Niesattacken und den Gips, sollte er vor die Wahl gestellt werden zwischen heilen Knochen und herzerwärmender Katzen-Nähe.

      Aber das Warten war vergeblich – nichts geschah. Schlichtkohl, der das ewig gleiche und doch immer wieder andere Spiel aus zahllosen nächtlichen Niesattacken kannte, wischte sich mit dem Ärmel der Schlafanzugsjacke die Tränen aus den Augen und ein paar Tropfen von der Nase. Obwohl ihn Bleigewichte ins Bett zurückzogen, zwang er sich, noch eine Weile sitzen zu bleiben und lauschte gähnend in sich hinein. Regte sich da etwas? Bereitete der Nieser einen neuen Raptus vor?

      Fehlanzeige. Die Nase war überflutet, aber reizfrei. Sie triefte, aber nichts kitzelte. Ächzend ließ sich Schlichtkohl in die Kissen zurücksinken. Gerade hatte er seinen Schädel mit einem wohligen Seufzer auf das Kopfkissen gebettet und war dabei, den linken Arm unter der Decke wieder um seine Katze Sammuramat zu legen, als es ihn erneut überfiel. Er schoss in die Senkrechte zurück, saugte sich währenddessen mit Pressluft voll, klappte den Mund auf, um loszuprusten – und, »ha-ha-ha-ha!«, wurde wieder gefoppt.

      Jetzt war der Professor wach genug, um zu bemerken, dass er hechelte wie ein fetter Etagendackel, der beim Spaziergang im Park ein Kaninchen gejagt und sich zu viel zugemutet hatte, und er fühlte, wie Verdruss in ihm aufkeimte. Er wartete nochmals ein wenig, ließ sich aber dann zum zweiten Mal in die Kissen fallen.

      Er drehte sich nach links, reckte den Arm über die Katzenbeule im Bettzeug hinweg, knipste die Nachttischlampe an und versuchte ein Papiertaschentuch aus dem Spender zu ziehen, als es ihn ganz ohne Vorwarnung übermannte. Man könnte das, was sich abspielte, durchaus als nasale Frühzündung bezeichnen, denn Schlichtkohl hatte nicht einmal mehr die Möglichkeit, sich aufzusetzen: Die Detonation platzte mitten hinein in sein zwanghaftes Einatmen und kehrte die Luftströme in ihm gewaltsam um. Er röhrte ins Schlafzimmer und plumpste entkräftet ins Bett zurück.

      Die Katze, die selig an seinem Bauch geschlafen hatte, als noch Ruhe herrschte, und trotz seines Gezappels neben seiner linken Hüfte ausgeharrt hatte, war bei dem Ausbruch, der sich weit unschöner angehört hatte als die gebräuchliche Lautmalerei »Hatschi!«, auf die Füße gesprungen. Aber sie stürmte nicht aus ihrer Höhle unter dem Plumeau und lief auf und davon, sondern begann sich hektisch zu putzen. Das Bett vibrierte im Rhythmus ihrer Kopfbewegungen, als schlüge in der Matratze ein großes Herz. Ihr Schwanz peitschte wild, aber weich über seine Oberschenkel.

      Natürlich war Sammi sauer. Sie hasste jede Art der Ruhestörung beim Kuscheln, und sie verabscheute Niesen – wie alles, was mit Krach und Luftzug verbunden war. Dabei war sie an allem schuld.

      Die Seidenfusseln, die ihr grauer Kartäuser-Pelz myriadenfach ausspuckte, wurden von seiner Nasenspitze angezogen wie Eisenspäne von einem Magneten. Sobald er in Sammis Nähe war, ließen sich die Katzenhaare auf seinem Gesicht nieder. Wenn er die Katze streichelte, sie auf seinem Schoß saß oder in seinem Bett lag, dauerte es keine drei Minuten, und an – wahrscheinlich auch in – seiner Nase sprießte ein Rasen aus den grauen Flusen, aus dem schnell ein Gestrüpp wurde. Irgendwann ging dann die Nieserei los.

      Gott sei Dank litt er nicht an einer Katzenallergie; schuld war schlicht und einfach der mechanische Kitzelreiz, hatte der Allergologe gesagt, nachdem er seinen Rücken mit Dutzenden von Nadeln traktiert hatte. Für den ergebnislosen Zehnminutentest hatte er später eine Rechnung über 215 Euro geschickt. Davon konnte man zwei Katzen ein Vierteljahr lang ernähren!

      Wäre Sammuramat ein Angoraschaf, dachte der Professor weiter, während er ihr Zeit ließ, sich zu beruhigen, wären die wildesten Wunschträume der Gentechniker Wirklichkeit geworden – das Schaf mit dem unerschöpflichen Fell, eine Art goldenes Vlies der Moderne. Schluss wäre mit dem mühsamen Scheren und dem sich an die mittelalterliche und oft blutige Prozedur anschließenden stupiden zwölfmonatigem Warten, bis sich auf den nackten Schafen wieder ausreichend Locken kringelten! Man würde täglich Wolle ernten können – durch bloßes Bürsten!

      Schlichtkohl seufzte. So stark, wie seine Katze beim Striegeln haarte, müsste sie längst nackt und kahl sein. Die Bürste war in Minutenschnelle mit samtigem grauem Gewölle so vollgepackt, dass sie kaum noch wirksam war, und die Luft war erfüllt mit einem Schneegestöber schwerelos schwebender Kräuselhaare, die ihm unweigerlich in die Augen gerieten und auf seiner fettigen Nasenspitze andockten.

      Er konnte das Tier so lange bürsten, wie er wollte, Unmassen von Haaren aus seinem kurzen Fell jäten, aber nie wurde auch nur die kleinste schüttere Stelle im Stubentiger-Pelz sichtbar. Im Gegenteil, Sammis Katzennerz schien durch die Behandlung, die sie mit geschlossenen Augen langgestreckt auf der Seite liegend, laut schnurrend und voller Wohlbehagen die Vorderpfoten spreizend genoss, dichter und dichter zu werden.

      Diese wunderbare Haar-Vermehrung war das exakte Gegenteil seines fortschreitenden Körperhaarverlustes. Er war am ganzen Körper kahl wie ein neugeborenes Kind, wurde, was die Dichte des Haupthaars anging, von jedem kahlen Säugling übertroffen, und jetzt hatte der Mottenfraß selbst seine Augenbrauen erfasst! Schlimmer noch: In den letzten Tagen hatte er neben den Brauenhaaren beunruhigend viele Wimpern im Waschbecken gefunden!

      Es war eine Krankheit, die an sich harmlos war, an der niemand starb, die aber vielleicht mehr quälte als Leukämie. Sie war relativ häufig, aber so gut wie nie sah man ihre Opfer auf der Straße, weil sie sich ihrer Verunstaltung schämten und sich versteckten. Es war ein Gebrechen, das einsam machte. Als ob er nicht schon einsam genug war! Schlichtkohl stieß den schlimmsten sumerischen Fluch aus, der ihm einfiel – heftig, aber gedämpft, um die Katze nicht zu erschrecken.

      Je mehr er unter seiner Kahlheit litt, für die der Hautarzt einen wissenschaftlichen Namen – Alopecia areata – hatte, aber keine Kur, desto stärker faszinierte ihn Sammis unerschöpfliches Fell: Er hatte sogar schon ein paar Mal bedauert, dass er Alte Geschichte lehrte und nicht Zoologie.

      Wie toll wäre es, wenn er dienstlich dem Geheimnis dieses feliden Mega-Haarwuchses nachspüren könnte, statt sich bis zu seiner Pensionierung mit den Ackerbau- und Bewässerungstechniken der dritten Dynastie des sumerischen Stadtstaates Ur oder dem Ursprung der Sprache von Sumer befassen zu müssen! Die Lösung beider Forschungsgebiete lag tief unter dem Geröll der Geschichte verborgen.