Gerd Schuster

Der Professor mit dem Katzenfell


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schwer, und einer von Sammis Reißzähnen bohrte sich in seinen Arm wie ein Zelthering in eine Wiese. Im gleichen Moment begann die Katze zu schnarchen. Zuerst war es ein leises Pfeifen und Säuseln, das aber bald in ein helles Brummen, Murmeln und Gurren überging. Schlichtkohl lauschte entzückt und vergaß den Zahn völlig. Es war die schönste Einschlafmelodie, die er kannte. Er knipste die Lampe aus.

      Mara war ganz anders, als er sie kannte. Ihre Zurückhaltung, die er immer ihrer erzkatholischen Erziehung in einer südamerikanischen Nonnenschule zuschrieb, war verflogen. Sie war geschminkt, trug kirschroten Lippenstift, Lidschatten und ein Parfüm, das nach Tropenblüten, Bergamotte und Zypressen duftete. Sie hatte ihr Hörsaalgesicht abgelegt, war fröhlich und lachte ausgelassen. Er war sehr überrascht und glücklich, wie liebenswürdig und entgegenkommend sie war. Dabei sah sie so toll aus, dass sie jedem Mann im Saal den Kopf verdrehen konnte!

      Ihr weißes T-Shirt hob ihre formvollendeten Brüste hervor, deren Straffheit und Größe er im Hörsaal nie bemerkt hatte, und unterstrich ihre südamerikanische Bräune. Sie war wunderschön und machte ihm schöne Augen. Er fühlte einen kaum zu bezähmenden Drang, ihre Brüste zu berühren und legte zur Sicherheit seinen rechten Arm um ihre Schultern.

      Er konnte nicht glauben, dass er das alles erlebte, aber gleichzeitig war er sicher, dass es Realität war. Er fühlte sich jung und unwiderstehlich, und er war von einer Glut und Zuversicht, einem freudigen Tatendrang, einem Hunger nach ihr und einem Glücksgefühl erfüllt, das seinen ganzen Körper summen ließ.

      In dem perfekten Einverständnis, das zwischen ihnen herrschte, verließen sie nach drei oder vier Gläsern Champagner die Universitätsveranstaltung – er konnte sich nicht erinnern, welchem Anlass sie diente – und traten durch alte hohe Türflügel auf eine große Terrasse hinaus, die bis auf zwei Pflanzkübel mit Palmen leer war. Die Luft war mild, und der Mond war groß und nah.

      Er wusste nicht, wie ihm geschah, aber plötzlich drehte sich Mara ihm zu, legte ihm die Arme um den Hals, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. Er registrierte trunken vor Glück – es war ein Glück, dessen Intensität ihn frappierte, denn er hatte Ähnliches noch nie gefühlt – ihre zärtlichen, am Ende des Kusses drängenden Lippen und deren Vanillegeschmack.

      Sie beschwerte sich im Scherz, dass sein Schnurrbart beim Küssen kitzele. Er fasste sich ins Gesicht. Tatsächlich, er besaß einen dichten Schnauzer! Ihm wurde ein wenig schwindlig: Er kannte sich selbst nicht wieder!

      Sie gingen eng umschlungen in eine dunkle Ecke der Terrasse. Weil aus dem Festsaal ein Wiener Walzer ertönte, packte Mara ihn, und sie drehten sich ein paar Meter weit im Kreise. Obwohl er normalerweise Walzer hasste, weil ihm dabei schwindlig wurde, bewegten sich seine Beine wie von selbst. Als sie an der Umfassungsmauer angekommen waren, drückte sie ihn an eine Sandsteinfigur und küsste ihn noch einmal. Er spürte ihre Zunge zwischen den Zähnen und bekam eine kräftige Erektion.

      Mara bedeckte sein ganzes Gesicht mit kleinen Küssen, zupfte mit den Lippen an seinen Augenbrauen – die er zu seiner Überraschung ebenfalls besaß – und fuhr mit einer Hand durch sein dichtes Haar. »Ich liebe dich!«, flüsterte sie, und ein enormer Schauer aus Glück und Lust pulste durch seinen steifen Penis und den ganzen restlichen Körper.

      Es war neu und berauschend, glücklich zu sein, Begierde zu spüren und der Erfüllung so nahe zu sein. Sie nahm seine rechte Hand und legte sie auf ihre Brust. Sie fühlte sich wunderbar an, und Mara küsste ihn leidenschaftlicher. Er überlegte gerade, wie es nur zu erklären war, dass ihm zum ersten Mal in seinem Leben so viel Glück beschieden war, denn er konnte immer noch nicht richtig glauben, was geschah, als eine Klingel schrillte. Das Ende der Veranstaltung war gekommen.

      Er wollte Mara umfassen – mochten doch die anderen gehen, sie konnten unbemerkt hier stehen bleiben, und sich noch einmal im Walzertakt drehen – aber sie löste sich wortlos von ihm und ging ohne ein Abschiedswort auf die hohen Flügeltüren zu, die zum Festsaal führten. Er war erstarrt vor Schreck und Unverständnis und stürzte der Geliebten erst hinterher, als sie in der Lichtflut verschwunden war, die aus den Türen auf die Terrasse fiel.

      Schlichtkohl lief in den Saal und blinzelte in die vielen Kronleuchter. Mara war wie vom Boden verschluckt. Obwohl sie nur ein paar Meter Vorsprung gehabt hatte und gerade noch die Gespräche vieler Menschen wie ein Brodeln und Brausen aus der Aula gehallt hatten, war der große Raum völlig leer. Band, Bar und Büffet waren fort, und das Parkett glänzte wie frisch poliert. Nur der Walzer ertönte weiter. Wieso, verstand er nicht.

      Er verstand gar nichts. Warum war Mara so plötzlich gegangen, ohne einen einzigen Blick, ohne ein Wort? Sein Schmerz über ihren Verlust und seine Sehnsucht nach ihr zerrissen ihm das Herz, und er fühlte sich einsam wie nie zuvor. Er stand verloren in der Tür. Die Tränen quollen in dicken Bächen aus seinen Augen, und die Glocke, die verdammte Glocke, schrillte lauter und lauter. Sie übertönte sogar den Walzer.

      Kapitel 2

      Sebastian Schlichtkohl tauchte aus den Abgründen seines Traumes empor wie ein Schwimmer nach einem Sprung von einer hohen Küstenklippe aus dunkelblauer Meerestiefe. Sein Herz schmerzte und klopfte so rasend, als wolle es zerspringen. Weil etwas rhythmisch an seiner Brust pulsierte, glaubte er einen panischen Augenblick lang, es habe seinen Körper schon verlassen – und wachte erschreckt auf.

      Er bemerkte, dass er haltlos schluchzte, und dass sein Kopfkissen völlig durchfeuchtet war. Es dauerte eine zeitlang, bis der Professor verstand, dass Herzeleid und Zähren – wahrscheinlich auch seine Erektion – Nachwirkungen eines Traumes waren. Er versuchte, sich zu erinnern, welche Monster ihn im Schlaf gequält hatten; aber sein Gedächtnis war leergefegt.

      Klar war ihm nur, dass er einen Albtraum durchlitten hatte. Es vergingen noch ein paar Sekunden, ehe ihm dämmerte, dass sich Sammi an seiner Brust putzte, der Radiowecker einen Walzer aus dem Kraut-und-Rüben-Programm von Klassik Radio spielte und das Telefon klingelte.

      Mutter! Eilig schwang Schlichtkohl seine langen Beine aus dem Bett, rappelte sich hoch, stolperte über seine Pantoffeln und hastete strauchelnd ins Wohnzimmer zum Fernsprecher. Nur seine Mutter rief mitten in der Nacht an, seit sie im Altersheim saß wie im Knast – wofür er sich schuldig fühlte – und wunderlich geworden war. Sie hatte keine Geduld und hängte viel zu rasch wieder ein, statt ein wenig auf die Verbindung zu warten. Wenn sie ihn aber nicht erreichte, machte sie sich die unmöglichsten Sorgen: Sie glaubte, er sei krank, weil er nicht genug esse, liege im Hospital, weil er angefahren worden oder wegen Überarbeitung zusammengebrochen sei.

      Er ließ sich mit einer Drehung, die ihm nur teilweise gelang, in den Fernsehsessel fallen, kollidierte bei der Landung unsanft mit der rechten Armlehne, hob aber dennoch den Hörer an sein Ohr. Er erwartete das Pfeifen des Hörgeräts der alten Dame, aber es war Gotthard. Gotthard Hasenklee vom Institut für Organische Chemie, sein einziger echter Freund an der Universität – und erst 6.12 Uhr, wie er auf dem Telefondisplay sah. Er wollte sich melden, aber aus seinem Hals kam nur ein Krächzen.

      »Entschuldige, dass ich dich so früh störe, Sebastian«, sagte Hasenklee. Er klang verschnupft und heiser. Hatte er auch einen Albtraum gehabt? fragte sich Schlichtkohl. »Ist schon okay«, antwortete er, und diesmal funktionierten seine Stimmbänder halbwegs normal, »hätte sowieso bald aufstehen müssen.« Das stimmte nicht, aber er mochte den Kollegen und wollte nicht, dass er sich schlecht fühlte, weil er ihn geweckt hatte. «Was gibt’s Dringendes?«

      Hasenklee zog die Nase hoch. »Du, Leo ist tot«, sagte er, und seine Stimme zitterte bedenklich. Schlichtkohl konnte hören, welche Überwindung diese Worte den Kollegen kosteten. »Vergiftet. Als er nicht nach Hause gekommen ist, bin ich heute Morgen um vier los, um ihn zu suchen. Ich musste nicht weit gehen. Er hatte sich noch bis zur Treppe vorn an der Straße geschleppt und war da gestorben – auf der zweiten Stufe.«

      Hasenklees Stimme versagte, aber er zwang sich, weiter zu reden. »Ich glaube, ich kenne das Gift – er muss sehr gelitten haben.« Er brach ab, und Schlichtkohl verstand, dass der Schnupen kein Schnupfen war. Es waren Tränen.

      Er sah Leo vor sich: ein riesengroßer bildschöner Kater mit Pfoten breit wie Tennisbälle, ein wahrer Herkules unter den Katzen.