Gerd Schuster

Der Professor mit dem Katzenfell


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Glatze, die sich wie die Kugel eines Deorollers wölbte, überhaupt nicht zu dem jugendlich straffen und wohltuend symmetrischen Gesicht passte? Dass es förmlich nach einem Haarschopf, Koteletten und Augenbrauen schrie, nach dem dunklen Schimmer eines unaufhörlich wachsenden Bartes an Wangen und Hals. Und natürlich nach Wimpern.

      Der Professor beugte sich vor: Rechts hatte er noch zwei Wimpern, links sprossen drei aus dem Lidrand. Er traute sich nicht, sie zu berühren. Wahrscheinlich waren sie scheintot und würden sofort ausfallen.

      Was ein paar tote Keratinfäden – mehr waren Haare ja nicht – ausmachten! Ohne Augenbrauen wirkte seine Stirn viel kantiger, die Augenhöhlen erinnerten an Krater, und die Lider sahen ohne Wimpern entzündet aus.

      Mara hatte ihn zwar schon gekannt, als er haariger gewesen war, als man das bei Lehrstuhlinhabern für angemessen hielt; aber sie würde das bald vergessen haben. Oberflächlichkeit war eine der wichtigsten modernen Tugenden. Es war bedeutsamer, gut auszusehen, als intelligent zu sein, und eine gestylte und gepflegte Mähne machte ungleich mehr her als innere Werte. Ein kahler Albert Schweitzer hatte keine Chance gegen einen blond gelockten Brad Pitt.

      Mit einem verächtlichen Grunzen wandte sich Schlichtkohl vom Spiegel ab und verließ das Bad. Er griff sich Sammi, die eben aus der Küche in Richtung Wohnzimmer schnürte und ein überraschtes »A!!!« ausstieß, und ging ins Schlafzimmer. Er setzte die Katze auf ihren Platz an seiner Seite und sprang ins Bett. Dann packte er den Wecker und schlug ihn dreimal kräftig auf den Nachttisch.

      Das blöde Ding hatte um 6.15 zu Dudeln begonnen, drei Stunden vor der eingestellten Zeit. Wecken zur Unzeit war eine Krankheit, die das kleine 9,90-Euro-Radio in Schüben heimsuchte wie Malaria einen Afrikaner. Bisher hatte jedoch ein wenig sanfte Gewalt immer geholfen, die Mechanik zur Besinnung zu bringen.

      Der Altorientalist drehte sich um und nahm seine Katze in den Arm. Er ächzte wohlig. Noch zweieinhalb Stunden Schlaf – welch unerhörter Luxus!

      Sammis eisenharte Pfoten, die über ihn hinweg trampelten, rissen ihn aus dem Schlummer. Er schaute auf die roten Digitalziffern: 10.15 Uhr. Der Wecker gab keinen Ton von sich! Entweder war das Ding endgültig kaputt, oder er war an den Lautstärkeregler gekommen, als er es zur Wiederbelebung an dem Nachttisch gehauen hatte. Das gerändelte Plastikrädchen verstellte sich bei der leisesten Berührung, meist auf null.

      Mit einem lautlosen Fluch fuhr Schlichtkohl aus dem Bett und in die Kleider. Er klaubte die getragene Wäsche des Vortags – Hemd, Socken und Unterhose – hastig vom Boden auf und scherte sich nicht darum, dass der Slip gleich doppelt falsch saß – links herum und seitenverkehrt. Es ging um Sekunden. Er durfte Mara unter keinen Umständen verpassen!

      Mara! Ein Nachgeschmack des Traums fuhr ihm durch die Glieder, verwirrende Erinnerungen an leidenschaftliche Küsse und heißes Glück. Erschreckt drängte er diese Gedanken zurück, versuchte aber, sie auf keinen Fall zu vergessen. Wenn er nicht gerade träumte, war ihm schmerzhaft klar, dass er nicht den Hauch einer Chance bei der schönen Studentin hatte.

      Das tat ihm weh und erleichterte ihn zur gleichen Zeit; denn Bemühungen von Universitätslehrern um sexuelle Kontakte mit Studierenden waren zwar alltäglich, aber dennoch schlechter Stil.

      Er stopfte das Hemd in die Hose, zog das Jackett über, schlüpfte in die Schuhe und rannte zur Tür. Dort angekommen, drehte er um, galoppierte zur Anrichte zurück, steckte Geldbeutel, Schlüsselbund und Brillenetui ein, schleuderte die Keilschrift-DVD mit den neusumerischen Wirtschaftsurkunden, Prozessdokumenten und Rechtstexten aus den Stadtstaaten Umma und Ur in seine Aktentasche, lief aus der Wohnung, machte nochmals kehrt, grapschte seine Armbanduhr vom Nachttisch, warf sie in die Sakkotasche, hetzte zum Ausgang, knallte die Tür zu, schloss sie ab und hastete polternd die acht Treppen zum Ausgang herunter. Es war 10.24 Uhr.

      Er stürzte sich in einer scharfen Rechtskurve auf die Himmelstraße und lief los. Kaum in Fahrt, streifte er schon eine alte Dame, die aus der Naturheilpraxis im Tiefparterre eines Nachbarhauses trat und plötzlich stehen blieb, ein wenig mit der Aktentasche, rief ihr eine Entschuldigung über die Schulter zu, überquerte die Rehmstraße, ohne auf Autos zu achten und bog in einer Schräglage wie ein Skirennfahrer beim Abfahrtslauf der Winterolympiade nach links in die Alsterdorfer Straße ein. Er schlängelte sich durch Auslagen von Obsthändlern und Blumenläden, die den größten Teil des Trottoirs versperrten – ihm war nie aufgefallen, welche Unzahl von Floristen sich auf diesem nur etwa 250 Meter langen Straßenstück konzentrierte! – umkurvte die Tische von Coffeeshops und Kneipen und nahm die Kurve an der runden Sparkasse in die Bebelallee, als wäre es der letzte Schwung vor dem Ziel eines olympischen Wettkampfs.

      Er gab sein Letztes, als er die Überführung der Hochbahn wie eine nietenpockige und verrostete Verheißung vor sich erblickte, überholte zwei Jogger in bunten Trainingsklamotten, sprengte die altmodischen Schwingtüren der U-Bahn-Station Hudtwalckerstraße auf und hetzte die Treppen empor, weil er oben einen Zug halten hörte. Mara!

      Er schoss durch eine weitere Schwingtür auf den Bahnsteig, aber es war der falsche Zug – Richtung Ohlsdorf. Schwer atmend registrierte Sebastian Schlichtkohl mit Erleichterung, dass die Anzeigetafel die Ankunft seines Zuges in einer Minute ankündigte. Er sah auf die große runde Bahnsteiguhr: 10.28 Uhr. Er würde es wohl schaffen.

      Als er in die Bahn Richtung Kellinghusenstraße stieg, fiel ihm ein, dass er sein Handy und seine Baseballmütze vergessen hatte, mit der er seit ein paar Wochen das spiegelnde Rund der Glatze zu tarnen suchte. Und, beim Sonnengott Nanna, er hatte die Zähne nicht geputzt! Bei dem Pesthauch, der manchmal morgens seinem Munde entwich, würde er unbedingt reichlich Abstand zu Mara halten müssen, falls es zu einem persönlichen Gespräch kam – was bei einem Seminar ja immer möglich war!

      Rasiert war er ebenfalls nicht. Aber seitdem sein Bart nicht mehr wuchs, war das zeitraubende allmorgendliche Ritual überflüssig geworden – der einzige Vorteil von Alopecia areata!

      Schlichtkohl blieb an der Tür stehen, denn es waren nur zwei Stationen bis Hoheluftbrücke, wo er in den Bus umsteigen musste. Dort angekommen, sprang er aus dem Wagen, rannte zur Treppe, stürzte sie in Dreistufensätzen hinab und schoss zur Straße, wobei er seine liebe Not hatte, drei Kindern auszuweichen, die ihm, Pommes Frites aus dem Hamburger-Laden am Fuß der Station kauend, in den Weg liefen.

      Die Fußgängerampel war rot, aber obwohl kein Bus in Sicht war, rannte Schlichtkohl zur Haltestelle in der Straßenmitte. Er versuchte, sich zu beruhigen. Es war 10.36 Uhr, und er hatte jede Menge Zeit. Aber nach dem Telefongespräch mit Hasenklee und dem Traum, dessen Bilder und Gefühle sich immer wieder in sein Bewusstsein zu drängen versuchten, war das schwer. In seinem Innern brodelte es weiter.

      Die 102 kam um 10.39 Uhr, und Schlichtkohl ließ sich aufatmend in einen Sitz fallen. Als der Gelehrte zusammen mit einer Horde von Studenten und Studentinnen am Grindelhof ausstieg, seiner gewohnten Haltestelle, war es erst 10.47 Uhr. Er überquerte die Grindelallee. Weil es bis zum Allendeplatz nur ein Katzensprung war, schritt er ruhig aus, obwohl ihm das Hemd am Rücken klebte und das schmale Vorderteil seiner Unterhose samt »Eingriff« ganz und gar in den Spalt zwischen seinen Hinterbacken gerutscht war und dort unangenehm scheuerte und zwickte. Dennoch ging er so, wie er glaubte, dass ein Lehrstuhlinhaber ging.

      Um 10.52 Uhr passierte er die urtümliche Burgtoreinfahrt des aus grob behauenen Steinquadern errichteten Institutsgebäudes Allendeplatz 1 und stieß die altmodische Tür auf. Gemächlich nahm er den Gruß des Pförtners entgegen, überquerte die düstere Eingangshalle mit ihrem tückisch glitzernden schokoladenbraunen Linoleum und schritt an dem mit Zetteln übersäten Schwarzen Brett, das hier rot war, vorbei nach rechts zur Treppe, die zu den Seminarräumen im ersten Stock führte.

      Er wollte gerade die Tür von Raum 107 öffnen, als sein Blick auf einen in Kopfhöhe kleinerer Menschen mit Tesafilm befestigten DIN-A5-Bogen mit dem Briefkopf des Fachbereichs Geschichte fiel. Da stand: »Die Lehrveranstaltung 08.229, HS »Neusumerische Keilschrift in Texten aus Wirtschaft, Handel und Justiz aus Ur und Umma« (Prof. Dr. S. Schlichtkohl), findet heute aus technischen Gründen ausnahmsweise in Raum Phil 1219 statt«.

      Der Professor konnte es nicht glauben. Wer verlegte ohne Rücksprache mit ihm sein Hauptseminar in den Philosophenturm?