Gerd Schuster

Der Professor mit dem Katzenfell


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Tür mit der Gewandtheit einer Tänzerin ausgewichen war, lächelte ihn huldvoll an und sagte: «Keine Ursache!«

      Dann fragte sie, und ihre Stimme hatte etwas Maskulin-Rauchiges und Verworfenes, das Schlichtkohl im Verein mit den wabernden Duftwasserschwaden und seiner Unterzuckerung schwindlig werden ließ: »Wohnen Sie hier? Ich suche Familie Schlichting! Welcher Stock?«

      »Tu–tut mir leid,« beschied der Gelehrte atemlos vom Schleppen und einem Blick in das tiefgründige Dekolleté der unbekannten Schönheit, dessen Fülle die Bluse nur mühsam zu bändigen schien, »keine Ahnung – ich hole nur, äh, ein, äh, ein Schwein ab!« »Dennoch herzlichen Dank!«, sagte die Erscheinung völlig unbeeindruckt und stöckelte die Treppe zum ersten Stock hinauf. Ihr verlängerter Rücken bewegte sich in verführerischen Schlangenkurven.

      Schlichtkohl riss sich von dem Anblick los, stellte seine Last vor die Tür und stieg, sich wegen seiner bleischweren Zunge und seines eklatanten Mangels an Charme verwünschend, in den Keller zurück, um den Käfig zu holen. Jetzt war das Ferkel dran. »Hallo Brunhilde«, sagte er. »Bist du okay? Alles in Ordnung?«

      War es nicht typisch? Mit Schweinen konnte er reden – mit schönen Frauen nicht!

      Als sich in der Plastikbox nichts regte, bückte sich Schlichtkohl, um durch das Gitter an der Vorderseite zu lugen – und fuhr zurück. Er hatte direkt in zwei Menschenaugen geschaut, zwei große tiefdunkle Menschenaugen mit blütenweißer Bindehaut und lang bewimperten pechschwarzen Lidern, die ihn argwöhnisch, klug und nachdenklich gemustert hatten.

      Der Professor war dermaßen erschreckt und zugleich von den Augen bezaubert, dass er dem Rest des Schweinehauptes, der hochgereckten Schnauze mit schwarzer Rüsselscheibe, deren große runde Zwillingslöcher feucht glänzten, und die beiden Ohren, die wie Blätter einer dürstenden Sonnenblume herunterhingen, kaum Beachtung schenken konnte.

      So fielen ihm nicht einmal die Locken sofort auf. Erst mit Verspätung dämmerte Schlichtkohl, dass der Kopf von Gotthards Pflegling in Gänze mit blonden Borstenkringeln bewachsen war. Oder hatte er sich getäuscht? Er riskierte einen zweiten Blick. Tatsächlich! Das Ferkel hatte eine Frisur, die ein wenig der von Howard Carpendale glich. Oder doch eher der von Marilyn Monroe? Auf seiner Stirn trug das Tier, es gab keinen Zweifel, monroefarbene Dauerwellen. Der dichte blonde Lockenpelz erstreckte sich – der Hochschullehrer beugte sich trotz schmerzender Knie noch weiter vor – über den ganzen Körper des Rüsseltieres. Brunhilde sah aus wie ein Schaf mit Schweinekopf.

      »Runz!«, beschwerte sich basstief das Ferkel, dem entweder die Musterung unangenehm wurde oder dem die Gedanken des Lehrstuhlinhabers gegen den Strich gingen. Es warf seinen Kopf hoch und machte den Versuch eines Luftsprungs, wobei sein Rücken kräftig mit der Käfigdecke kollidierte. Es krachte und staubte. Die transportable Ferkelbox, stellte der Professor fest, war ein wenig eng für ihren stattlichen Inhalt.

      Sebastian Schlichtkohl richtete sich auf und trat vorsichtshalber einen Meter zurück. Er hatte seit über zwei Dutzend Jahren kein lebendes Schwein zu Gesicht bekommen und überhaupt noch nie ein solches Tier aus derartiger Nähe gesehen. Er war platt. Diese Augen, dieser vernünftige Blick! Gut, dass man Schweine so selten von Angesicht zu Angesicht sah! Wer konnte Tiere essen, die derart intelligente Augen besaßen? Wie konnte man rechtfertigen, dass sie getötet und zerstückelt wurden, damit Menschen Völlerei treiben konnten? Hatte jemals ein seriöser und unabhängiger Gelehrter, der nicht von der Fleischindustrie bezahlt wurde, ihre geistigen und emotionalen Fähigkeiten erforscht?

      Auf einmal bereute er jedes Schnitzel und jedes Kotelett, jedes Cordon bleu und jeden Gulasch, die er je verspeist hatte. Sicher lag er weit unter dem deutschen Durchschnittsverzehr, denn er nahm Schweinefleisch nur in der Mensa zu sich und auch nur dann, wenn die Alternativgerichte ungenießbar erschienen. Er machte sich einfach nichts daraus.

      Warum hatte er nicht ganz darauf verzichtet? Weil man ihn darüber im Dunkeln gelassen hatte, dass Schweine hochintelligent waren? Aber war das nicht allgemein bekannt, wurde aber nie mit Schnitzel in Zusammenhang gebracht? Und warum nicht? Dienten Redewendungen wie »Dummes Schwein!« oder »Blöde Sau!« am Ende vor allem dazu, das Image der Rüsseltiere in den Schmutz zu ziehen und darüber hinweg zu täuschen, wie viel Klugheit, Bewusstsein und – ja – Seele in den Tieren steckten, die als Eiweißträger gezüchtet wurden, als Haxen- und Rippchenlieferant, als ein »Stück Lebenskraft«?

      Schlichtkohl erstarrte, als ihm der Sarkasmus dieses Werbeslogans bewusst wurde. Es war schon ein starkes Stück, durch millionenfachen Tiertod gewonnenes Fleisch als Lebenselixier zu bewerben. Hatten die Menschen den Schweinen gegenüber eine Art Schuldkomplex, den sie mit derartigen Überkompensationen überspielen wollten? Der Spruch war von der Güteklasse wie die Parolen aus »1984«, aber kein Verbraucher merkte es! Beim Barte des Meskiaggascher, wie war das möglich? War das Gehirnwäsche?

      Würde der Fleischhunger anhalten, fragte sich der in akademisches Grübeln geratene Gelehrte, wenn Eisbein und Lendchen nicht als anonyme rosige Massenware verkauft würden, sondern an der Fleischtheke ein großes Porträtfoto eines munter in die Welt blickenden Schweins befestigt wäre mit der Unterzeile »Heute im Anschnitt: Elsa«?

      Schwere Tritte hallten durch das Treppenhaus. Das musste die Spurensicherung sein, dachte Schlichtkohl, packte den Tragegriff des Schweinekäfigs und hob, um dessen Gewicht zu prüfen. Oha! Das Ferkel war schwer wie Blei, oder der anstrengende Morgen – er hatte immer noch nicht gefrühstückt, weil ihm beim Zusammentreffen mit Frau Hundt der Appetit vergangen war – hatte ihn entkräftet. Oder beides. Aber zwanzig Kilo waren das sicher.

      Mit dieser Last würde er es bestenfalls bis zum Bahnhof Alte Wöhr schaffen, und das auch nur mit großer Mühe. Aber wo waren die Instruktionen Gotthards? Ohne Anleitung war er hilflos. Er war Historiker und Altorientalist, kein Bauer.

      Er konnte die Keilschrift der Dekrete lesen, die der Babylonische König Marduk-Schapik-Zerimati im Jahre 1079 vor Christus seinen Schreibern diktiert hatte und wusste, dass dieser Herrscher der vierten Dynastie des Mittelbabylonischen Reiches angehörte, die auch als die zweite Dynastie von Isin bekannt war, und sein Amt zweiundzwanzig Jahre nach dem Tod Nebukadnezars angetreten hatte, der im Wirklichkeit Nabu-Kudurri-Usur hieß.

      Er wusste, dass 65 Jahre und sieben Könige nach dem Sturz Marduk-Schapik-Zerimatis durch die Aramäer König E-Ulmasch-Schakin-Schumi während der sechsten Dynastie, der von Bassu, den Thron bestiegen hatte, der ihm acht Jahre lang vergönnt gewesen war. Er konnte sich ausführlich über die Nominalmorphologie und die Ergativität der sumerischen Sprache auslassen – aber er hatte nicht den blassesten Schimmer, wie man Schweine hielt oder verpflegte. Er brauchte die Anweisungen Gotthards, oder es gab eine Katastrophe!

      Sebastian Schlichtkohl nahm eine alte Zeitung von einem unordentlichen Stapel, schlug an Hasenklees Fahrradlenker den Staub aus ihr heraus, legte sie auf dem Boden, kniete sich hin und untersuchte den Transportkasten Brunhildes genau. Das einzige, was er fand, war ein etwa fünf Zentimeter langes Stück frischen Tesafilms an der rechten Oberkante des Käfigs. Das freie Ende trug weiße Papierspuren.

      Da hatte zweifellos vor Kurzem noch etwas geklebt – sicher Gotthards Brief! Wer immer seine Wohnung auseinandergenommen hatte, hatte das Schreiben kassiert. Aber warum? Was wollten Einbrecher mit Instruktionen über die Fütterung eines Lockenschweins? Und aus welchem Grund hatten sie das Futter ausgekippt?

      Der Hochschullehrer fühlte sich hilflos und seiner Aufgabe nicht gewachsen. Er würde einen Bauern anrufen müssen, um zu fragen, wie man Schweine hielt, oder zumindest, wann und welche Mengen man ihnen fütterte. Aber halt! Bauern wussten das heute ja auch nicht mehr! Wenn sie überhaupt noch Schweine hatten, wurden die in gewaltigen Mästfabriken per Bulldozer oder von Automaten gefüttert, und sie mussten auf Stahlrosten stehen, damit ihre Fäkalien in ein Schwemmentmistungssystem trieften, wo sie automatisch weggespült wurden.

      Mist war längst ein Ding der Vergangenheit. Bald würde das kot- und uringetränkte Düngestroh Gegenstand von nostalgischen Vorlesungen in Agrargeschichte sein. Er würde nach einem Hobbyschweinehalter suchen müssen. Im Internet gab es sicher eine ganze Anzahl davon.

      Er beugte sich noch einmal zu dem Lockenschwein herunter und sagte: »Brunhilde, dann