Gerd Schuster

Der Professor mit dem Katzenfell


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sich in Zeitlupentempo weit und weiter – und dann ging das Geplärre los.

      Die Mutter fuhr herum und barg das Kind in ihren Armen. »Was starren Sie mein Kind so an, Sie Unhold!«, keifte sie. »So, wie Sie aussehen, sollte man Ihnen verbieten, tagsüber die U-Bahn zu benutzen, Sie Kinderschreck! Der junge Mann hatte eben ganz recht!« Sie packte Kind, Kinderwagen und Einkaufstasche, stand auf und marschierte zum anderen Ende des Wagens.

      Für den Weg vom Bahnhof Hudtwalckerstraße bis nach Hause benötigte Schlichtkohl eine Viertelstunde. Er musste den Käfig und den Futtersack, der gottseidank heil geblieben war, immer wieder absetzen. Mit letzter Kraft wuchtete er seine Last in den vierten Stock und über die heimische Türschwelle.

      Er war emotional angeknackst und physisch total verschlissen. Dazu peinigte ihn der Gedanke, ob Sammi verstehen würde, dass Brunhilde nur Besuch war, kein neues Haustier, und dass ihre Anwesenheit nicht bedeutete, dass er ihr seine Liebe entzogen und sie dem Schwein geschenkt hatte? Nach all den Tiefschlägen des Tages hatte er große Sehnsucht nach ihrer Zärtlichkeit und Zuwendung. Ihn verlangte danach, sich ins Bett zu legen, die Jalousien herunterzulassen, die Augen zu schließen und den weichen schnurrenden, sorglos entspannten Katzenkörper im Arm zu halten, ihn zu streicheln und zu fühlen, wie sich die Samtpfoten genussvoll spreizten.

      Aber er wusste, dass ihm kein Katzentrost beschieden sein würde, so dringend er ihn auch brauchte: Stubentiger waren nicht nur im Weltrekordtempo beleidigt; sie schienen es manchmal zu genießen, die Rolle der Gekränkten zu zelebrieren.

      Er hatte sich nicht getäuscht. Sammi, durch ihren Geruchssinn alarmiert, kam nicht wie üblich angetrabt, um ihn zu begrüßen und sich auf seine Schuhe zu werfen. Erst nach einer ganzen Weile streckte sie ihren Kopf aus dem Schlafzimmer, schaute argwöhnisch um die Ecke, sagte »Mägg!«, als sie den Transportkäfig sah, starrte Schlichtkohl vorwurfsvoll an, drehte sich um und ging wieder ins Zimmer zurück. Bevor sie unter dem Bett verschwand, löste sich ein klagendes »Mi–au!« aus ihrer Kehle. Sammi war kreuzunglücklich.

      Schlichtkohl seufzte, klappte die beiden Drehriegel von Brunhildes Plastikkiste zurück und zog die Tür auf. Das Ferkel verharrte einige Zeit in seinem Verlies, streckte dann den Rüssel ins Freie, sah den Professor mit seinen dunkelblauen Menschenaugen fragend an, während es mit kippelnder Rüsselplatte schnupperte, und schob sich schließlich zögerlich aus dem Käfig hervor.

      Schlichtkohl staunte: Es war tatsächlich ein Schwein mit Schafskörper, Ferkelringelschwanz und Schweinehängeohren. Ein Schwaf, dachte der Professor. Es war kräftig, drall, relativ hochbeinig und bis auf den Rüssel lückenlos mit wasserstoffblonden Dauerwellen bewachsen.

      »Sei so nett und benimm dich bitte, Brunhilde!«, bat er. »Du bist hier nur zu Besuch! Wenn du was kaputt machst, wird Gotthard fuchsteufelswild!« Das Schwein sah ihn kurz und – wie Schlichtkohl schien – skeptisch an, warf den Kopf hoch wie ein Araberhengst vor der Startmaschine, machte einen Luftsprung, stöckelte dann auf seinen Hufen in die Küche und stürzte sich auf die Brekkies-Schälchen. Im Nu waren beide leer.

      Der Professor, bei dem jetzt auch die Beine zu zittern begonnen hatten, zerrte das Ferkelklo aus der Möbelhaustüte, bedeckte, so gut es ging, seinen Boden mit seiner restlichen Katzenstreu, kippte einen Hügel Futtergranulat in einen Suppenteller, füllte einen zweiten mit Wasser, trug alles ins Gästezimmer. In der Küche war kein Platz mehr, und er wollte Streit um Futter vermeiden – und rief das Schwein.

      Tatsächlich kam Brunhilde angetrabt, musterte das Arrangement zufrieden und tauchte die Schnauze in ihre Furage. Sofort begann Utnapischtim unter dem Gästebett zu fauchen wie eine Königskobra. Das Schwein überhörte es geflissentlich. Dennoch war es für Schlichtkohl ein Trost, dass Brunhilde zu dick und hoch war, um in das Reich des Katers vorzudringen.

      Er schleppte sich in die Küche, knipste den Schnellkocher an, füllte vier gehäufte Messlöffel Kaffee in den Papierfilter und ließ sich schwer auf den Stuhl fallen. Er musste sich unbedingt mit Koffein aufputschen und etwas essen, sonst würde er umkippen. Er stützte den Kopf in beide Hände, um ein wenig abzuschalten, als aus dem Flur ein merkwürdig hohles, sich in regelmäßigen Abständen wiederholendes Geräusch ertönte, ein »Plopp! – Plopp!«, das er weder kannte noch einzuordnen vermochte.

      Ächzend stand er auf, um nachzusehen. Es war Utnapischtim. Der sonst so scheue Kater sprang von der Hutablage der Garderobe auf Brunhildes leere Plastiksänfte, schnellte von dort scheinbar mühelos wie von einem Trampolin auf den Sicherungskasten an der gegenüberliegenden Wand, drehte sich dort blitzschnell und stürzte sich erneut auf den Schweinekäfig hinab, um sogleich wieder zur Hutablage hinaufzufedern. Es war eine Artisten-Show wie im Zirkus Sarrassani – und ein kleines Wunder, dass die Lederkappe über dem Stecker nicht herunterfiel.

      Der Hochschullehrer beobachtete Pischtis enormes Sprungvermögen und seine vogelgleichen Flugeigenschaften einen Augenblick voller Staunen, dann glaubte er zu verstehen: Der Urindunst beleidigte die feinen und vornehmen Katzennasen so gewaltig, dass Pischti sein Exil aufgegeben hatte, um zu demonstrieren. Seine Kundgebung diente dazu, ihn zur Entfernung des Schweinekäfigs aufzufordern.

      »Entschuldige bitte«, sagte er. »Das Übel wird sofort beseitigt!« Er packte den Tragegriff und machte sich auf den Weg zum Balkon. Doch dann blieb er stehen. Vor der Balkontür lagen Sammi und Pischti nebeneinander und funkelten ihn an. »Hier kommst du nicht durch!« verhießen die Blicke.

      Schlichtkohl wurde schwindlig. Er hatte das Gefühl, nichts mehr zu verstehen. War das alles nur ein nerviger Traum? Seine beiden Katzen einträchtig auf Tuchfühlung? Und als Streikposten vor einer Tür? Unmöglich! Ausgeschlossen! Es konnte nicht sein!

      Er stellte Brunhildes Transportbehälter ab, eilte in die Küche, kippte das heiße Wasser in den Filter und machte sich einen großen Becher starken süßen Kaffees. Er setzte sich an den Tisch und überlegte: Was hatte das merkwürdige Verhalten seiner Katzen zu bedeuten? Wieso hatte Pischti plötzlich seine Neurosen verloren oder zumindest vorübergehend überspielt? Was sollte der Sitzstreik vor dem Balkon?

      Beim achten Schluck kam ihm die Erleuchtung: Offenbar störten seine Hausgenossen sich an dem Gestank artfremden Urins, wollten aber aus irgendeinem Grund, den nur Katzen verstanden, verhindern, dass er den Käfig auf dem Balkon abstellte – vielleicht, weil der ihnen als Freiluftrevier heilig war.

      Diese raffinierten Biester! Na, sie sollten ihren Willen haben! Er rappelte sich hoch, holte einen Müllsack aus der Speisekammer, riss vier oder fünf Stücke Küchenpapier ab, öffnete die Käfigtür, zog die stinkende Einlage aus feuchten Zeitungen hinaus, bugsierte sie in den Plastikbeutel und warf ihn in den Küchenmülleimer.

      So, das war’s hoffentlich, dachte er. Im gleichen Moment ging das »Plopp! – Plopp!« wieder los. Beim Barte des alten Meskiaggascher! Das wurde nun wirklich zu viel für seine Nerven! Schlichtkohl nahm einen langen Schluck Kaffee und ging erneut ins Nebenzimmer. Pischti führte seine Flugnummer wieder vor, während Sammi vor der Käfigtür stand und hineinschaute. Ihr Schwanz war aufgeplustert und sah aus wie eine Flaschenbürste.

      Schreck durchzuckte den Gelehrten: Was seine Süße da tat, musste für sie hart an Masochismus grenzen; denn aus Brunhildes Reisemobil waberte immer noch dünner Schweinepissedunst.

      Eilig kniete sich Schlichtkohl auf den Boden, schob die Katze zur Seite, machte einen Buckel und lugte in die Ferkelsänfte. Bis auf eine Lage Zeitungspapier auf dem Boden war sie leer. Ungeduldig zerrte er das Stück Hamburger Abendblatt aus der Box. Es zerriss, weil es an mehreren Stellen festgeklebt gewesen war, und darunter kam ein Brief zum Vorschein. Er steckte in einer durchsichtigen Plastikhülle und trug die Aufschrift: »Für Sebastian«.

      Schlichtkohl nahm den Brief aus dem Käfig, stand auf, fetzte die Klarsichthülle weg und öffnete den Umschlag. »Lieber Sebastian,« stand da in Gotthards regelmäßiger Handschrift. »Hab ich mir’s doch gedacht, dass du diese Botschaft findest! Dem Professör ist eben nichts zu schwör! Aber Scherz beiseite. Es sind sehr unangenehme und gewissenlose Leute hinter mir her, und ich will dich auf keinen Fall da hineinziehen. Es ist schon schlimm genug, dass du in deiner Wohnung auf mein Schwein aufpassen musst. Gib ihr morgens und abends einen Teller Granulat, aber auf keinen Fall Süßigkeiten!