den allerschlimmsten sumerischen Fluch aus, den er kannte, und der nicht nur den Gott Gatumbu verunglimpfte, sondern zudem noch die Mutter des Königs Gudea von Lagaš als läufige Hündin bezeichnete.
Er rannte den Korridor entlang zur Treppe, schoss grimmig an dem verdutzen Pförtner vorbei (der Idiot hätte ihm ja Bescheid sagen können, dachte Schlichtkohl erzürnt), wendete sich vor der Tür nach rechts und rannte mit flatternden Rockschößen los. Ein paar Studenten lachten hinter ihm her. Der Philosophenturm lag auf der anderen Seite des Universitätskomplexes und war einen guten Kilometer entfernt, und es war – er zerrte seine Uhr aus der Sakkotasche – 10.56 Uhr. Das würde verdammt knapp werden!
Völlig außer Atem und schweißnass erreichte Schlichtkohl den so unphilosophisch aussehenden riesigen rechtwinkligen Kastenbau aus den 60er Jahren. Er schoss durch eine der Drehtüren in die unsinnig hohe Lobby, lief zu den Lifts und stürzte in eine der Kabinen. Es war zehn Minuten nach elf. Unglaublich – er hatte es doch noch geschafft!
Im zwölften Stock eilte der Professor zu Raum 19. Er wollte gerade die Klinke herunterdrücken, als sein Blick auf einen Zettel fiel. »Das aus AP 1 107 verlegte Hauptseminar »Neusumerische Keilschrift in Texten aus Wirtschaft, Handel und Justiz aus Ur und Umma« (Prof. Dr. S. Schlichtkohl) findet heute ausnahmsweise im Raum Phil 814 statt«, stand da.
Ungläubig öffnete der Professor die Tür. Der Raum war leer. Er drehte sich benommen um, ging zu den Aufzügen, fuhr in den achten Stock und begab sich zu Raum 14. Wie er geahnt hatte, klebte wieder eine Notiz an der Tür: »Die Lehrveranstaltung 08.229, HS »Neusumerische Keilschrift in Texten aus Wirtschaft, Handel und Justiz aus Ur und Umma« (Dr. S. Schlichtkohl), fällt heute wegen Krankheit des Lehrenden aus«.
Sebastian Schlichtkohl zog mechanisch seine Uhr aus der Jackentasche. Es war 10.17 Uhr. Er hatte keine Kraft mehr, um die Tür aufzustoßen. Er war völlig durchnässt, Schweiß lief ihm in die Augen, und ihm war übel. Sport vor dem Frühstück hatte ihm noch nie gut getan. Er wankte den Korridor entlang bis zum Geschäftszimmer des Fachbereichs Geschichte, den man letztes Jahr in »Historisches Seminar« umgetauft hatte, und ließ sich auf einen der drei Stühle fallen, die vor dem Sekretariat standen.
Er hatte verloren! Wenn Mara geplant hatte, das Seminar zu besuchen, hatte sie aufgegeben und war weggegangen. Seine Kehle brannte, sein Herz klopfte laut, und in seinem Inneren wühlte ein dumpfer Schmerz, aber er war merkwürdig gefasst.
Das Mobbing ging also wieder los, und zwar in verschärfter Form. Bisher hatte man die Titel seiner Vorlesung und seiner Übungen im Vorlesungsverzeichnis geändert und dabei verunstaltet, falsche Zeiten und Räume abgedruckt oder einen Teil seiner Lehrveranstaltungen »vergessen«, seine Aushänge vom Schwarzen Brett entfernt und ihn mit Beschuldigungen überzogen. Ihm war vorgeworfen worden, eine Sekretärin beleidigt, eine Schwangere mit einem Lehrauftrag betraut und den Aushang eines Fachkollegen bekritzelt zu haben.
Er hatte zu den Vorwürfen nie Stellung nehmen können, war weder der Sekretärin gegenübergestellt worden noch hatte er die fragliche Bekanntmachung zu Gesicht bekommen. Es hatte niemanden interessiert, dass nicht er, sondern der Dekan Lehraufträge vergab, und dass er die Sekretärin überhaupt nicht kannte und nie ein Wort mit ihr gewechselt hatte. Trotzdem war er auf Sitzungen der Fachkommission und des Fachbereichsrats beschimpft und vom Präsidenten und dem Personalrat gerügt worden.
Seine Einsprachen und Beschwerden hatten alles nur schlimmer gemacht, ebenso eine vorsorgliche Entschuldigung an die Adresse der Sekretärin, die ihm zunächst von der Fachbereichsführung dringend nahe gelegt, dann aber vom exakt gleichen Personenkreis wenig später als Eingeständnis seiner Schuld ausgelegt worden war. Er kannte die Spielregeln des Mobbing und des universitären Intrigenspiels einfach zu wenig, um sich richtig zu wehren.
Mit Aktionen wie der heutigen vergraulte man seine Studenten. Dabei war die Zahl der Studierenden, die seine Vorlesungen und seine Übungen belegt hatten und besuchten, stark zurückgegangen und sank weiter.
Das lag vor allem daran, dass Weberknecht, der einzige Altorientalist neben ihm und dummerweise gleichzeitig Chef des historischen Seminars, ihn gezwungen hatte, seine beiden beliebtesten Vorlesungen einzustellen, angeblich wegen zu geringer Nachfrage – obwohl sie viel besser besucht gewesen waren als Weberknechts eigene. Die erste hatte gelautet: »Die epochalen Erfindungen der Sumerer: das Rad, die Schrift, der Ackerbau und die Domestizierung von Haustieren, und ihr Einfluss auf die globale Menschheitsentwicklung von der vorchristlichen Zeit bis heute«, die zweite »Warum und wie epocheprägende Hochkulturen wie Sumer und Akkad in Vergessenheit geraten konnten und unter welch abenteuerlichen Umständen sie nach Jahrtausenden wiederentdeckt wurden«.
Beide Vorlesungen hatten von ungewöhnlichen Ereignissen und witzigen Anekdoten gestrotzt, die er sich ziemlich mühsam erarbeitet hatte. Die Studenten liebten ein wenig Unterhaltung beim Lernen.
Ein Semester hatten seine Vorlesungen im Vorlesungsverzeichnis gefehlt, dann waren sie wieder angeboten worden – mit unverändertem Titel – nur das Wörtchen »abenteuerlichen« fehlte, und es hieß stattdessen »unter welchen Umständen« – und, wie Schlichtkohl von Mara mitgeteilt worden war, so gut wie identischem Text. Der Referent hatte sich allerdings geändert. Der hatte August Weberknecht geheißen.
Weberknecht und seine Chefsekretärin, Frau Hundt, steckten hinter den Intrigen, da war Schlichtkohl sicher. Sie wollten ihn wegekeln. Gründe gab es aus ihrer Sicht genug: Weberknecht fürchtete sein überlegenes Fachwissen, und er hatte wohl, in tiefen Gedanken versunken wie meist, ihn und Frau Hundt ein paar Mal auf dem Campus übersehen und nicht gegrüßt. Außerdem blieb er den geselligen Veranstaltungen des Seminar-Lehrkörpers fern, nachdem er beim ersten Kneipenabend beobachtet hatte, wie seine Fachkollegen Weberknecht in peinlicher Art und Weise hofiert und angeschleimt hatten. Er war ein Außenseiter, und das wurde durch die Alopecia areata jetzt für jedermann sichtbar.
»Der nächste bitte!« Schlichtkohl schreckte auf. Eine hübsche Studentin mit hüftlangen weißblonden Haaren schwebte graziös aus dem Sprechzimmer, und hinter ihr tauchte Frau Hundt in der Tür auf. Sie war weit jenseits 50, überschminkt und füllig, versuchte aber, sich mit Gewalt und einer platinblond gefärbten Mähne auf »jung« zu trimmen.
Der Versuch war ein Fehlschlag. Die Hundt sah aus wie ein vertrocknetes Alpenveilchen, das jemand mit Lackfarbe und Haarspray aufzumöbeln versucht hatte. Oder schlimmer. Schlichtkohl war zu erschöpft, als dass ihm ein Vergleich eingefallen wäre, der dieser Ungeheuerlichkeit gerecht wurde. Aber er war sicher, der alte Meskiaggascher, der König von Uruk, hätte die Hundt als Hexe steinigen lassen.
Die Chefsekretärin machte große Augen, als sie ihn sah. »Herr Professor Schlichtkohl«, flötete sie wie eine Amsel auf Kokain, »was tun Sie denn hier? Wir haben heute Sprechstunde für Erstsemester.« Sie schnalzte missbilligend mit der Zunge und setzte dann hinzu: »Wollen Sie eine Auskunft für Anfänger?« Ihr Lächeln hätte ausgereicht, um einen Anderthalb-Tonnen-Ochsen zu vergiften.
»Jawohl!« Schlichtkohl sprang zu seiner eigenen Überraschung so heftig auf, dass sein Plastikstuhl an die Wand des Korridors knallte. Erschreckt wich Frau Hundt ein paar Schritte zurück. Er folgte ihr in das Vorzimmer von Weberknechts Allerheiligstem. »Können Sie mir sagen«, begann er, «wieso die Teilnehmer meines heutigen Hauptseminars durch Aushänge mit dem Briefkopf dieser Geschäftsstelle übers ganze Universitätsgelände gehetzt und dann schließlich mit der Mitteilung konfrontiert wurden, ich sei krank?« »Ich bin nicht krank!« setzte er überflüssigerweise hinzu.
»Ja, ist es denn die Möglichkeit?«, säuselte Frau Hundt, die sich schon wieder gefangen hatte, und Schlichtkohl sah in ihren Augen Genugtuung und Schadenfreude aufblitzen. »Ja, das ist es, und Sie wissen genau, wa...« Dem Professor, der zuletzt deutlich lauter geworden war, blieb das Wort in der Kehle stecken. Die rechte Hand des Institutsleiters hatte auf ihrem Schreibtisch eine Ausgabe der Hamburger Morgenpost eben so herumgedreht, dass die Lettern für ihn nicht mehr auf dem Kopf standen.
Auf dem Titelblatt prangten ein Bild von Gotthard Hasenklee, und die fette Schlagzeile: »Professor von Schlepperschraube zerstückelt«. Darunter stand in kleinerer Schrift: »Hamburger Hochschullehrer trieb tot im Hafen. Bluttat oder Selbstmord?«