Gerd Schuster

Der Professor mit dem Katzenfell


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Professor Sammi endlich. Eifrig schleckte sie ihren selbstgemachten Joghurt. Ihr ganzer Körper verriet die Konzentration, mit der sie zu Werke ging. Er schien im Moment der ersten Zungenberührung mit der Dickmilch mitten in der Bewegung eingefroren und war wie eine Sehne gespannt. Sogar der Schwanz stand starr waagerecht in die Luft, halbhoch mit einer Kurve im letzten Drittel – eine trinkende Bronzestatue.

      Auf einmal machte Sammi eine Pause. Sie setzte nur ein oder zwei Schlabberschlucke lang aus, aber schon war die »Bremse« gelockert, die Schwanz und Körper hydraulisch arretiert hatte. Der Schwanz sank, seine Linkskurve öffnete sich. Doch da ging das Schlabbern weiter, und wieder setzten Standbild-Starre und Stock-Steife ein. Zwei Zentimeter über dem Boden kam der Schwanz zum Stillstand. Sammi war wieder zu einem Standbild mit wieselflinker Zunge geworden.

      Kein Wunder, dachte der Professor. Er hatte seine Mieze oft genug beobachtet und erkannt, dass sie beim Trinken drei- bis viermal pro Sekunde das Mäulchen öffnete, die Zunge herausschnellen ließ, sie krumm wie eine Schöpfkelle in die Milch tauchte, zurückzog, an den Lippen, am Gaumen oder wo auch immer abstreifte und wieder ausfuhr. Das Dreiecksmaul arbeitete so rasch, als stritte sie sich lautlos auf sizilianisch. Da sie auch häufig schluckte, war Trinken eine überaus beeindruckende Koordinationsleistung, die ohne ein Höchstmaß an Konzentration undenkbar war.

      Vor ein paar Monaten hatte die Katze damit begonnen, an ihrem Milchschälchen nur zu nippen und den Rest so lange unberührt zu lassen, bis er zu einer Art Joghurt geworden war. Schlichtkohl war überzeugt, dass Absicht dahinter steckte. Auf jeden Fall war das Prinzesschen sehr erbost gewesen, als er zu Anfang – damals hatte er die feline Fermentation noch nicht als gezielte Aktion durchschaut – die Näpfe mit dem vermeintlich ungewollten Überrest weggenommen und ausgespült hatte.

      »Schmeckt’s?«, fragte er. Keine Antwort. Beim Essen sprach man nicht, bedeutete das wohl. Also wartete der Professor, bis seine Katze ihr Mahl beendet hatte und ihren Kopf schüttelte, dass er wie ein Flugzeugpropeller zu einem Schemen verschwamm und winzige Dickmilchtropfen in alle Himmelsrichtungen davonstoben. »Hat’s geschmeckt?« wiederholte er seine Frage. Sammi schaute auf und sagte stimmlos und mehr gehaucht als gesprochen, aber mit großer Bestimmtheit: »Ja–a!!!«

      Ein Schwall von Zuneigung und Liebe durchströmte Schlichtkohl. Er bückte sich und streichelte ihr zärtlich über Kopf und Rücken, den sie ihm prompt entgegenwölbte.

      Das »Ja–a!!!« war eine Variation von Sammi Monopol–Laut »A!!!« und wurde von der Katze meist zur Bestätigung eingesetzt. Er glaubte nicht, dass es auf dem Erdball noch eine Katze gab, die »Ja–a!!!« oder »A!!!« sagen konnte. Auf jeden Fall war ihm auf keiner seiner Reisen und auf keiner Katzenshow dieses offene, gehauchte, beinahe wegwerfende, meist stimmlose A, das Sammi mit Verve vortrug – ja, beinahe ein wenig ausspie – je zu Ohren gekommen.

      Bei aller Einmaligkeit war das »A!!!« ein Mehrzwecklaut. Sammi sagte »A!!!«, wenn man sie weckte – hier bedeutete es so etwas wie »Huch!« – und wenn sie zu ihm kam, um Zärtlichkeit zu tanken. Dann war es wohl ein freundliches »Sei mir gegrüßt!« oder »Na endlich bist du wieder da!« »A!!!« war auch angesagt, wenn er ihren Brekkies-Napf vor dem Schlafengehen noch einmal unter ihren kritischen Augen auffüllte – für den kleinen Hunger in der Nacht. Hier war es ein Laut der Zufriedenheit und bedeutete etwa »Na also!«

      Je nach Bedeutung war die Aussprache des »A!!!« ganz verschieden. Es konnte staunend, erschreckt, heiter, abwehrend, dankbar, interessiert, ja sogar neutral klingen. Und tadelnd: Wenn er Sammi beispielsweise von ihrer Lieblingsdecke hob, obwohl sie gerade so bequem auf ihr ruhte, war das »A!!!« ein sanfter Protestlaut. Dann bedeutete es wohl »Hee! Was soll das?«

      Am liebsten hörte Schlichtkohl die einzige stimmhafte Version des »A!!!« – ein zärtliches, piepsig-helles Stück Katzenbabysprache, das Sammi nur in Momenten großer Zuneigung und heißen Katzenglücks benutzte.

      Der Professor füllte die beiden Katzennäpfe nach den Vorlieben der Stubentiger. Sammi fraß neben Thunfisch, den sie sehr liebte, und einer Reihe von Leckerbissen nur exquisites Futter aus kostspieligen kleinen Dosen mit französischer Aufschrift. Sie rührte allein »Mousse« an – eine luftig-lockere Breizubereitung, die der Hersteller »Pastete« nannte. Alle Sorten, die Bröckchen enthielten, verschmähte sie; denn sie leckte ihr Essen auf und ließ alles liegen, was die Zunge nicht ins Maul befördern konnte.

      Die Zähne benutzte sie nur in Ausnahmefällen – wenn es warmes Hühnerfleisch, den Fettrand von gekochtem Schinken oder geräucherte Makrele gab. Dann aber brach das Raubtier durch, und Sammi packte und schüttelte die »Beute« wie eine Wildkatze einen frisch gefangenen Vogel.

      Aber sie war sehr pflegeleicht. Der Professor musste nur daran denken, »Mousse« und Katzenkuchen vorrätig zu halten – und ihre Mahlzeiten – mit Ausnahme der ersten Portion aus einer neu geöffneten Dose – mit etwas Sonnenblumenöl anzurühren. Darauf bestand Sammi, die ansonsten sehr bescheiden war und pro Portion selten mehr Pastete vertilgte als zwei gehäufte Teelöffel.

      Dabei war sie keineswegs dünn. Schlichtkohl führte Sammis Zurückhaltung am Futternapf und ihre Rundlichkeit auf einen überproportionalen Katzenkuchen–Verzehr zurück oder auf ihre altersbedingte Bequemlichkeit. Immerhin war seine Süße schon 14. Wenn er daran dachte, dass sie das zur Hundertjährigen machte, wenn man wie bei Hunden ein Tierjahr sieben Menschenjahren gleichsetzte, fühlte er Wellen panischer Verlustangst, aber auch Hochachtung und Bewunderung. Denn man sah Sammi ihr Alter nicht an. Sie hätte auch fünf sein können. Gab es bei den Menschen Greisinnen, mit einem Jahrhundert auf dem Buckel, die wie fünfunddreißig wirkten?

      Pischti war genauso wählerisch wie Sammi, obwohl er kein Feinschmecker war: Er bestand auf der Billigmarke Topic von Aldi, die man ihm möglicherweise im Labor gegeben hatte. Welche Leckerbissen der Kater mochte, wusste der Gelehrte nicht: Utnapischtim schlang sein Futter hastig herunter, wenn er sich alleine glaubte – und verzog sich wieder unters Bett.

      Schlichtkohl hatte ihm mehrfach etwas Räucherlachs oder ein Stückchen Hühnerschenkel an sein Versteck gebracht. Das verschreckte Tier hatte zwar einen langen Hals gemacht und interessiert geschnuppert, aber nichts angerührt. Pischtis Misstrauen war unendlich.

      Der junge Kater – er war zwischen drei und vier Jahren alt – fraß wie ein Scheunendrescher, war aber mager wie ein äthiopischer Marathonläufer. Der Professor vermutete, dass Sport ihn so schlank erhielt. Pischti war ein Sprinter und Meisterspringer. Er ging nur selten im Schritt durch die Wohnung, sondern rannte meist mit Höchstgeschwindigkeit, und er konnte mit einem Satz aus dem Stand vom Boden auf die Oberkante einer Wohnzimmertür springen.

      Der Altorientalist nahm an, dass der Kater vor allem dann »trainierte«, wenn er die Wohnung verlassen hatte. Wahrscheinlich flog er dann wie ein Vogel von der Tür zur Gardinenstange, zum Bücherregal und zurück! Nur gut, dass die Schädelwunde ihn nicht zu behindern schien!

      Schlichtkohl füllte die Wasserschälchen und die Brekkies-Näpfe seiner beiden Haustiere auf, fischte Urinknollen aus beiden Toiletten und schaute auf die Küchenuhr: Es war 6.27 Uhr. Es reichte vollkommen, wenn er um kurz vor elf im Institut am Allendeplatz war, überlegte er. Das bedeutete, dass er spätestens um halb elf in der U-Bahn sitzen musste – was wiederum hieß: kurz nach neun Uhr aufstehen.

      Er ging ins Bad und blickte in den Spiegel. Ein nettes offenes Gesicht schaute ihn an. Die gerade Nase und die Ohren waren stattlich dimensioniert, aber seiner Größe durchaus angemessen. Die meerblauen Augen blickten freundlich und klug, und obwohl der ein wenig spöttisch geschwungene Mund seine Winkel pessimistisch nach unten bog, sorgten die schönen Lippen, die Lachgrübchen auf beiden Wangen zusammen mit dem wohlgeformten Kinn für einen angenehmen Gesamteindruck. Der Mann sah liebenswürdig aus, kultiviert, sensibel und scharfsinnig. Ein Hauch jungenhafter Schüchternheit sorgte dafür, dass das Gesicht nicht zu gescheit wirkte.

      Schlichtkohl schüttelte den kahlen Kopf vor sich selber. Er versuchte zwar, sich objektiv zu betrachten; aber er bewertete stets sein »altes« Aussehen, das er Jahrzehnte lang verinnerlicht hatte, automatisch mit. Jeden anderen würde der Ersteindruck, den sein nackter Schädel erzeugte, daran hindern, sein Gesicht mehr als oberflächlich zu betrachten. Alle würden nur eine Bowlingkugel