gemacht haben mochten und schüttelte die Enttäuschung, nunmehr zum alten Eisen zu gehören, einfach ab.
Brandtner tat so, als sei sie in einen Text auf ihrem Bildschirm vertieft. Doch sie sah immer wieder zu ihrem Kollegen herüber, um seine Laune einzuschätzen, die sonst, wie festzementiert auf »gut« stand – zu konstant, um echt zu sein.
Er hatte es natürlich bemerkt, seufzte erneut und sagte: »Nataschenka, wie meine Großmutter mütterlicherseits immer zu sagen pflegte: ›Höher als über deinen Kopf kannst du nicht springen‹.«
Plötzlich stand Borell im Türrahmen.
»Da ist einer von einem Hochhaus gesprungen, vermutlich Selbstmord. Schieben Sie das kurz dazwischen, dann können Sie sich den G7-Heinis voll und ganz widmen«, dabei legte er Hohenstein einen Zettel mit einer Adresse auf den Tisch und verschwand sofort wieder.
Der Kommissar sah gewohnheitsmäßig auf seine Uhr: 08:02.
Sie brauchten mit dem braunen Opel, der ihnen als Dienstwagen zugewiesen worden war, durch den Verkehr beinahe eine halbe Stunde für eine Strecke, die keine zehn Minuten hätte dauern dürfen. Und auch das Anschalten von Blaulicht und Sirene brachte sie nicht schneller ans Ziel. Der G7-Gipfel am Wochenende warf seine Schatten voraus. Während viele Kollegen bereits auf den Autobahnen Kontrollen fuhren, um gewaltbereite Demonstranten abzufangen, nach Waffen zu suchen, und Platzverweise auszusprechen, versuchten Schaulustige, Passanten, genervte Frankfurter und einfache Pendler, die nur von A nach B kommen wollten, quer durch die Stadt zu fahren.
Natalia Brandtner fuhr den Reuterweg entlang, vorbei an den glänzenden Fassaden der Privatbanken, Anwaltskanzleien, Steuerberatern und Versicherungen. Oder besser, sie wartete darauf, die Straßen entlangfahren zu können. Die Wagen vor ihr taten ihr bestes, eine Art Gasse frei zu machen, moderat eingeschüchtert vom Blaulicht und der ohrenbetäubenden Sirene. Aber trotzdem kamen sie nur langsam voran. Hohenstein merkte an, dass sie vielleicht hätten zu Fuß gehen sollen, das wäre durch den Park schneller und angenehmer gewesen.
Als sie endlich den richtigen Häuserblock erreicht hatten, suchten sie die Einfahrt, die sich in einer Seitenstraße versteckte, welche beide noch nicht kannten.
»Muss neu sein«, sagte Brandtner.
Und endlich standen sie vor dem schlanken Gebäude. Neben dem Eingang war der Firmenname in modernen, serifenlosen Bronzebuchstaben in die Wand eingelassen: »Sinclair, Barrows & Moss.«
Das Gebäude selbst war gebogen und drehte sich in einem viertel Kreis um einen runden Platz, der in modernem Design einigen kleinen Pflanzen Heimat bot. Ein Brunnen war dort zu finden, genauso wie diverse Sitzgelegenheiten. Was nicht ins Bild passte, war die Leiche. Er musste von ganz oben gesprungen sein, denn von seinem Kopf war nicht viel übrig. Hohenstein mutmaßte, dass es sich um einen Mann handelte, aufgrund des Anzugs und den schmalen Lederschuhen, von denen einer weiter weg lag. Ein Arm musste unter dem Oberkörper liegen, der zweite drehte sich in seltsamen Winkeln zur Seite und schien mehrfach gebrochen zu sein. Das rechte Bein musste beim Aufprall abgerissen worden sein und lag einen Meter von der Leiche entfernt – die Hose hatte gehalten, sodass das Bein ohne Kleidung, nur mit einer schwarzen Socke bekleidet dalag. Das linke musste ebenfalls diverse Male gebrochen sein.
Hohenstein ging langsam, ohne Spuren zu zerstören, um den Aufschlagsort herum. Die Steinplatten unter der Leiche wiesen Risse auf.
Zwischen dem Toten und dem Eingang stand ein einsamer Streifenpolizist und versuchte erfolglos, ein rot-weiß gestreiftes Absperrband an der glatten Fassade zu befestigen.
»Sind Sie alleine?«, frage Brandtner.
Der Angesprochene drehte sich verwirrt um: »Ja, alle anderen sind mit dem G7 beschäftigt. Selbstmörder haben da keine Priorität. Deswegen warte ich auch schon fast eine Stunde auf den Krankenwagen«, der Polizist hatte offensichtlich nicht die geringste Lust, an diesem Ort zu sein und sich um einen vermeidbaren Tod zu kümmern. Auch Krankenhausangestellte gingen, zumindest mit den überlebenden Selbstmördern, nicht freundlich um. Sie hatten zu viele Menschen gesehen, die sterben mussten, aber nicht wollten, als dass sie noch akzeptieren konnten, dass ein gesunder Mensch sterben wollte, der nicht musste. So wusste Hohenstein aus eigener Erfahrung.
Er warf noch einmal einen Blick auf seine Armbanduhr, um die Zeit abzulesen: 8:45. Wenn der Polizist eine knappe Stunde wartete, musste er ungefähr um 7:45 vor Ort gewesen sein.
Er näherte sich dem Toten. Der Anblick war grausam. Doch Hohenstein blickte an dem Blut und den Gliedmaßen, die in unmöglichen Winkeln herumlagen vorbei, um den Menschen zu sehen. Wer war das? Ein junger Mann, der Kleidung und seinen Händen nach. Sein abgerissenes Bein zeigte keinerlei Haare. Der graue Stoff des Anzugs schimmerte etwas im sommerlichen Morgenlicht. Teuer, sagte sich Hohenstein.
Am Revers des Jacketts hing ein Ausweis. Brandtner hatte Gummihandschuhe angezogen, ging in die Hocke, nahm ihn ab und stand wieder auf.
»James Henry Cox«, las sie vor. »HFT Department, Sinclair, Barrows & Moss«, sie reichte den Ausweis Hohenstein. Er nahm ihn, nachdem er sich ebenfalls Gummihandschuhe angezogen hatte, und sah auf das Bild neben dem Namen. Wie erwartet ein hübscher, junger Mann mit dunklen Augen, braunen Haaren und einem weiß gebleachtem Lächeln, dass er professionell in die Kamera gehalten hatte.
Endlich kam ein Krankenwagen, die Sirene heulte laut und wurde von den Fassaden der Hochhäuser noch verstärkt.
Ein einzelner Arzt stieg aus und kam mit einem Koffer auf den Platz.
»Ach du Scheiße!«, rief er beim Anblick des Toten. »Was soll ich denn noch hier?«
»Den Tod feststellen?«, fragte Brandtner irritiert.
»Sein Kopf ist weg«, antwortete der Arzt sarkastisch, »das führt meistens zum Tode.«
Hohenstein ging von der Szene weg und durch die Drehtür in die Lobby der Firma. Hinter einem Tresen saßen zwei etwas blass wirkende Frauen und versuchten, nicht nach draußen zu sehen.
»Hohenstein, Kripo Frankfurt. Haben Sie die Polizei gerufen?«, fragte er die Blonde.
Sie antwortete, dass das der Security-Kollege getan hätte, der nur bis sieben Uhr in der Lobby saß und sich nun im Sicherheitsbüro im ersten Stock befand. Der Mitarbeiter sei noch nicht nach Hause gegangen, obwohl er schon längst Dienstschluss hatte.
Hohenstein fragte nach dem Weg, sie gab ihm vorher noch einen Besucherausweis, den er brauchte, um den Fahrstuhl zu benutzen. Sie tippte einige Dinge in ihren Computer, hielt einen Ausweis vor einen kleinen, schwarzen Kasten, um diesen zu kodieren, und reichte ihn Hohenstein.
»Sie müssen den Ausweis vor den schwarzen Leser halten, bevor Sie die Tasten drücken.«
Der Kommissar nickte und ging dann zu den Fahrstühlen. Er musste dafür an einer modernen und teuer aussehenden Sitzecke vorbei. Edle Hölzer, weiches Leder, eine vollständig verchromte Espressomaschine mit kleinen Tassen für die wartenden Gäste. Er widerstand der Versuchung, sie zu benutzen.
Im Aufzug hielt er den Ausweis vor den Leseapparat und drückte absichtlich die »2«. Der Fahrstuhl gab einen leisen Piep, der eine verneinende Antwort sein musste, von sich und rührte sich nicht von der Stelle.
Dann wiederholte er das Ganze, diesmal mit der »1«. Die Türen schlossen sich und der Fahrstuhl fuhr los, für einige Sekunden. Im ersten Stock war von dem edlen Eindruck der Lobby nicht mehr viel übrig geblieben. Hier schienen weniger wichtige Leute und Abteilungen untergebracht zu sein.
Er ging zur Zimmernummer, die die Sekretärin ihm genannt hatte und klopfte an, eine Klinke gab es nicht. Ein Summen öffnete die Tür.
»Hohenstein, Kripo Frankfurt«, sagte er zu den drei Männern im Raum, die vor einer riesigen Wand mit Überwachungsmonitoren saßen. Das Zimmer schien abgedunkelt zu sein und Hohenstein nahm geschlossene Rollos vor den Fenstern wahr - sowie die verbrauchte Luft. Auf einem der größeren Monitoren sah er die Leiche auf dem Vorplatz und seine Kollegin. Ein Leichenbestatter war vor Ort und überlegte angestrengt mit einem Kollegen, wie sie den Toten – und alle dazugehörenden Einzelteile