Sein neues Berufsleben sollte heute starten.
Er würde seine psychiatrischen und psychotherapeutischen Kenntnisse über die Menschen und ihre Probleme nutzen. Vor allem jedoch seine Hypnosekenntnisse und sein Wissen darüber, wie das Unbewusste als die mächtigste Ressource der Person für das Leben genutzt werden konnte, würde er einsetzen.
Er würde als Erfolgscoach arbeiten und als Coach für Selbstentwicklung und Selbstindividuation. Herr Seidel wollte vorbeikommen und ihm seinen ersten Fall anvertrauen.
Herr Seidel war als selbständiger Wirtschaftsberater sehr renommiert, obwohl er nur ein kleines Büro in Frankfurt unterhielt.
Die meiste Zeit war er in ganz Deutschland unterwegs und auf die Probleme von Familienbetrieben spezialisiert. Sie hatten sich bei einer Fortbildung in Neurolinguistischen Programmieren für Manager kennen und schätzen gelernt.
Büroräume hatte er. Eingerichtet waren sie auch schon. Aber ihm fehlte immer noch eine Sekretärin.
Heute wollte sich eine Frau Herr vorstellen. Er wußte kaum etwas von ihr und war gespannt auf sie. Andere Bewerberinnen
sollten folgen.
Sie sah auf dem Bewerbungsfoto attraktiv aus. Aber ,der Fuchs wildert nicht im eigenen Bau’, hatte er von seinem ersten Chef gelernt und sich bisher daran gehalten.
Sie mußte andere Qualitäten haben. Nur er wußte gar nicht genau, welche. Auch das machte das Gespräch interessant.
Genüsslich trank er seine letzte Tasse Tee und erinnerte sich an seine Warze. Aber eigentlich war es so, daß die Warze ihn an sich erinnerte. Denn sie hatte wieder stärker zu jucken angefangen. Wahrscheinlich wollte sie noch größer und hässlicher werden.
Wieder kamen tief in ihm die Wutgefühle hoch.
Von dem großen amerikanischen Hypnotherapeuten Milton Erickson hatte er das Utilisationsprinzip gelernt. Nach diesem Prinzip konnte man alles, auch die negativsten Dinge, positiv für seine Patienten nutzen, wenn man sie in einem positiven und konstruktiven Rahmen verwendete. Das würde er im Kampf mit der Warze und den Viren anwenden.
Er würde seine Wut konstruktiv utilisieren. Sie würde ihm bei seinen Hypnoseübungen nützen. Irgendwie begann er sich auf diesen Kampf zu freuen.
Als er in dem schönen und bequemen Ledersessel saß, fühlte er sich siegessicher. Er war bereit, die Verantwortung für sich selbst zu übernehmen, seine Kräfte zu mobilisieren und für seine Ziele einzusetzen.
Als erstes würde er jetzt das Wissen und das Können seines Unbewussten nutzen und seine Wut utilisieren und gegen die Viren in seiner Warze kämpfen und für sich.
Er wußte, die Wut würde seinen Kampfeswillen stärken. Und er würde nicht den Fehler machen, gegen sich zu kämpfen, sondern die Wut gegen diese Biester von Viren richten.
Sein Lebenswille würde gegen ihren stehen.
Sie waren nicht stark genug, ihn zu töten, aber er wollte von ihnen auch nicht beeinträchtigt werden. Für ihn war klar, er würde zusammen mit seinem Unbewussten für sich und gegen sie kämpfen. Danach hatte er noch etwas Zeit und dann würde die
Frau Herr kommen.
Wohlig räkelte er sich in seinem grünen Ledersessel, hob seine rechte Hand in Vorhalte, schloss seine Augen und sprach innerlich sein Unbewusstes an.
"Unbewusstes baue eine gute Arbeitstrance auf, während meine Hand von ganz alleine zum Oberschenkel geht!"
Mit Genugtuung spürte er, wie nach einer Weile seine rechte Hand von ganz alleine und allmählich zum Oberschenkel hinab sank. Sanft flutete die Hypnose durch seinen Körper und eine angenehme Schwere ließ ihn sich wohlig entspannen.
Er konzentriert sich und erinnerte sich, wo genau die Warze gewachsen war. Er schickte seine ganze Aufmerksamkeit in sie hinein.
Natürlich hatte er als Mediziner eine Vorstellung, wie eine Warze von innen aussah. Doch das war medizinisches Wissen. Nur zu genau wusste er, dass sein Unbewusstes ein völlig anderes Bild entwickeln konnte und wollte.
Immer schon hatte er sich gewundert, warum bei ihm und anderen Ärzten praktisch niemals die bewusste medizinische Sicht zur Geltung kam, wenn das Unbewusste aktiv wurde. Deshalb war er jetzt gespannt, welche inneren Bilder er gleich sehen würde.
Vor seinem inneren Auge entwickelte sich jetzt ein undurchdringlicher Nebel, aus dem sich langsam ein Mangrovendschungel heraus schälte. Immer deutlicher erkannte er die Bäume und ihre riesigen Luftwurzeln.
Irgendwie wusste er, dass er in diesen Dschungel vordringen musste. Aber er lief oder watete nicht durch den Sumpf, sondern er begann zu fliegen.
In hoher Geschwindigkeit jagte er zwischen Bäumen und Wurzeln dahin, die zunehmend unklarer wurden, weil sein innerer Blick sich immer stärker nach vorne fixierte.
Unscharf, weil sie sich tarnten, sah er sie.
Er wusste, sie standen für die Viren. Das sagte ihm sein Verstand.
Doch sein Gefühl, ein heller Hass, sagte ihm, dass sie es waren, diese Biester, die sich in seine Haut eingenistet hatten.
Wie ein feuriger Drachen spie er Feuer.
Das Feuer kam nicht aus ihm heraus, sondern entstand irgendwie seitlich von ihm und schoss in die Verstecke der Viren. Diese sahen aus wie verschleimte, dunkelbraune bis schwarze, fledermausartige, verkrüppelte Wesen.
So sehr die Biester auch versuchten, sich zu verstecken oder zu fliehen, er verfolgte sie mit seinem Feuer und versengte sie erbarmungslos. Zischend und rauchend lösten sie sich auf, wenn die Flamme sie traf. Sie schrien und quiekten ekelhaft, ehe sie rückstandslos verschwanden.
Er wusste, er musste sorgsam vorgehen. Deshalb ließ er seine Flamme in jede Höhle und jedes mögliches Versteck fauchen.
Keines der Biester, so dachte er, soll davonkommen. Mit Genugtuung fühlte er, wie seine Warze stärker zu jucken begann. Unermüdlich, und mit immer tieferer, innerer Befriedigung führte er sein Werk fort.
Langsam wurde er müde, den die hohe Konzentration mit der er arbeitete, kostete ihn Kraft. Er beschloss, für heute die Übung zu beenden.
Das Jucken dort, wo die Warze war, verriet ihm, dass es ihm gelungen war, das Immunsystem zu aktivieren.
Wie immer, zählte er sich langsam von Zwanzig auf Eins aus seiner Hypnose heraus, nicht ohne sich vorher bei seinem Unbewussten bedankt zu haben.
Als er wieder die Augen öffnete, fühlte er sich erfrischt und entspannt. Das Jucken in seiner Warze aber war geblieben und hielt an. Das erfüllte ihn mit Zuversicht.
Die Sekretärin
Zwei große braune Augen sahen ihn aufmerksam und auch ein wenig spöttisch an, als er die Tür öffnete.
"Kommen Sie nur rein!", hörte er sich sagen, während sie sich die Hände gaben. Es war eine warme und sympathische Hand.
„Da bin ich!", sagte eine ebenso warme wie ruhige Stimme, während er ihr Parfüm registrierte.
„Schön, dass Sie da sind, Frau Herr!“ erwiderte er ein wenig befangen. „Bitte, nehmen Sie doch Platz!“
„Sie möchten also mit mir zusammenarbeiten!“ sagte er, als sie beide Platz genommen hatten.
„Ich denke, Sie möchten das auch!“, antworte sie und das feine Lächeln spielte wieder um ihre Augen und ihren Mund.
„Vielleicht sollten wir das!“ war seine Erwiderung und einen Moment wusste er nicht weiter.
„Was reizt Sie an dieser Aufgabe?“, fragte er.
„Wenn ich schon arbeiten muss, möchte ich auch eine interessante Tätigkeit“, erwiderte sie und schaute ernst. „Und mit jemanden zusammen arbeiten, den ich auch respektiere.“
„Und Sie meinen, ich könnte ihren Respekt verdienen?“