habe einen Schlüssel zur Wohnung, so wie mein Bruder einen zu meiner Wohnung in San Francisco hat.“
„In San Francisco?“ Krüger blickt seinen Assistenten Mihailovic, der inzwischen zu den beiden herangetreten ist, an, als ob jener Licht in die Sache bringen könne, weiterhelfende Hinweise zur Hand habe. Ein leichtes Kopfschütteln und das dazugehörende Achselzucken geben dem Hauptkommissar indes zu verstehen, dass Hilfe aus dieser Richtung zunächst einmal nicht zu erwarten ist. „San Francisco? Sie sagten San Francisco. Leben Sie dort?“
„Ja, seit fast einem Jahr.“
„Und seit wann halten Sie sich in Deutschland auf?“
„Seit heute Morgen. Ich komme direkt aus San Francisco. Meine Maschine ist so gegen neun Uhr gelandet. Anschließend bin ich mit dem Taxi hierher gefahren.“
„Ach dann gehört die Reisetasche und der Alukoffer da draußen Ihnen?“ Kommissar Mihailovics Arm weist durch die noch immer offen stehende Wohnungstür den Flur hinunter in Richtung Entree.
„Ja.“
Krüger hakt nach: „Entschuldigen Sie, um noch einmal auf den Schlüssel zurückzukommen, Sie sagten, Sie hätten einen für diese Wohnung und Ihr Bruder einen für die Ihrige. Und das, obwohl sie mehr als zehntausend Kilometer voneinander entfernt wohnen?“
„Was ist daran so merkwürdig? Gibt man heutzutage nur noch seiner Geliebten einen Wohnungsschlüssel, oder der Nachbarin zum Blumengießen, wenn man in Urlaub fährt? Mein Bruder und ich, wir haben uns immer prima verstanden, waren immer füreinander da. Wir konnten einander vertrauen. Ich weiß, leider ist das heutzutage nicht mehr selbstverständlich, doch wo, wenn nicht unter Geschwistern, in der eigenen Familie kann man wirklich Hilfe, Schutz, oder wenn nötig auch Zuflucht finden. Etwa bei Freunden?“ Claudes skeptischer Blick beantwortet die Frage von selbst. „Vielleicht finden Sie es altmodisch, doch haben uns unsere Eltern gelehrt, stets füreinander da zu sein. Und ich muss Ihnen sagen, es tut gut, zu wissen, dass es jemanden gibt, der hundertprozentig zu dir hält. Sie glauben wahrscheinlich, weil wir an zwei verschiedenen Enden der Welt leben ... lebten, könne ich so etwas leicht behaupten. Nein, Sie irren. Wir haben bis vor zwei, drei Jahren sehr viel gemeinsam unternommen, und dabei einander mehr als einmal gebraucht. Auch wenn sich unsere Wege dann aus beruflichen Gründen getrennt haben, so waren wir gedanklich und seelisch einander stets sehr nahe. Philipp war zwar schreibfaul und ich bin es im Grunde genommen auch, was unserem guten Verhältnis aber keinen Abbruch tat. Und um einander - falls nötig - zu helfen, haben wir uns gegenseitig immer Wohnungsschlüssel von unseren neuen Wohnungen geschickt, damit der jeweils andere auch dann rein konnte, wenn der andere gerade nicht zu Hause war. Kam zwar selten vor, aber ab und zu schon.“ Claude denkt an solch einen Fall, in Mailand, damals, vor rund zwei Jahren, als...
„Sie kennen diese Wohnung also? Sie waren schon einmal hier?“ zerreißt Mihailovic jäh die aufflackernden Erinnerungen.
„Nein. Hier bin ich zum ersten Mal. Philipp und ich ... wir haben uns seit einem Jahr, seit ich in den Staaten bin, nicht gesehen. Nur ein paar Mal geschrieben haben wir uns, und ein paar Mal miteinander telefoniert. Das letzte Mal ist aber auch schon eine Weile her.“ Der letzte Anruf Philipps vor einer Woche entgleitet in diesem Moment Claudes Erinnerung.
„Dann sind Sie also zufällig hier? Oder?“ Der Hauptkommissar zieht das Gespräch wieder an sich.
‚Mailand, ja Mailand, mein Gott, auch schon wieder zwei Jahre her’, schießt es dem Befragten blitzartig durch den Kopf. Und laut: „Nein“, die Erinnerung bezüglich des aktuellen Geschehens setzt wieder ein, „mein Bruder rief mich letzte Woche, genauer gesagt letzten Freitag an und bat mich, ich solle versuchen so bald als möglich herüberzukommen. Er stecke da in etwas drin. In was, das hat er mir allerdings nicht gesagt. Er klang aber derart erregt und nervös, dass ich mich entschloss, meine Arbeit zu unterbrechen und mich hierher zu begeben.“
„Was könnte er gemeint haben mit: Er stecke in etwas drin?“ Krügers Blicke wandern über die Wände, die zahlreiche Fotos und Posters zieren. Unweigerlich folgt Claude den Augen des Hauptkommissars, registriert erst jetzt, was der durch die gesperrt herabgelassenen Rouleaus abgedunkelte Raum und die unerwartete Konfrontation ihm zuvor vorenthalten haben. Eines der überdimensionalen Fotos zieht die Blicke der beiden Kriminalbeamten ebenso unweigerlich an wie denjenigen Claudes: Es handelt sich um einen weiblichen Akt, in Rückansicht, voller Ästhetik und Harmonie. Ein zweiter, kleinerer, in Vorderansicht und ein großformatiges Porträt daneben lassen vermuten, dass es sich bei allen drei Bildern um dieselbe Person handelt, eine Asiatin, vermutlich Thailänderin, zumindest aber Südostasiatin. Ohne Claude anzusehen, nur mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken in Richtung der Aufnahmen, forscht Krüger weiter, noch immer gebannt von der Anmut des Mädchens, dessen Nacktheit nichts, aber auch gar nichts Entblößendes an sich hat: „Was macht Ihr Bruder eigentlich beruflich?“
„Er ist Fotograf, Modefotograf vor allem. Ab und an arbeitet er aber auch als Fotojournalist.“
„Und das da“, Krüger deutet auf besagte Aufnahmen, „gehört das auch zum Repertoire Ihres Bruders?“
Claude glaubt Neid in der Stimme des Kommissars mitschwingen zu hören. „Nein, oder sagen wir besser, nicht dass ich wüsste. Soweit ich weiß, hat er in dieser Richtung bislang nur privat gearbeitet. Als Modefotograf ist er mit vielen schönen Mädchen zusammengekommen, klar, doch hat der Außenstehende meist ganz falsche Vorstellungen von dem, was da passiert. Die meisten glauben, dass Sex in diesem Metier eine wichtige Rolle spiele.“ Claude versucht die Vermutungen, unausgesprochenen Erwägungen zurechtzurücken: „Harte Arbeit ist das, ein mitunter brutaler Kampf ums Dasein, ums Besser-Sein, ums Überleben im Konkurrenzdschungel. Kreativität, Einsatz wird verlangt, für das private Vergnügen - so Sie es denn so nennen wollen - bleibt bei ernsthaftem, konzentriertem Arbeiten meist keine Zeit.“ Spitz und entrüstet vibriert Claudes Stimme, der der Verwunderung darüber in Krügers erstauntem Gesichtsausdruck gewahr wird: „Pardon.“ Er nimmt Schärfe aus seiner Stimme: „Aber wissen Sie, Fotografieren ist, wenn man es professionell betreibt, Knochenarbeit. Und zwar jede Art der Fotografie!“
Die Art und Weise, mit der Claude das fotografische Gewerbe verteidigt, lässt Krüger vermuten: „Sind Sie auch Fotograf?“
„Ja.“
„Und was machen Sie? Auch Mode?“, mischt sich Mihailovic ein.
Claude wendet sich dem Kommissar zu, die Hände tief in die Taschen vergrabend. „Nein, ich arbeite als Fotojournalist, freelance.“
„Freelance?“ Mihailovic weiß mit dem Ausdruck nichts anzufangen.
Claude hilft ihm über seine Wissenslücke hinweg: „Freiberuflich, also nicht für eine bestimmte Agentur oder so.“
„Kann man davon leben? Ist das nicht ein harter Konkurrenzkampf, bei den vielen Fotografen?“ Krügers Interesse ist echt.
„Reich werden kann man damit in der Regel nicht.“ Claudes Gesicht überzieht Nachdenklichkeit, unterlegt von einem Schuss Resignation. „Können allein reicht nämlich oft nicht, Glück muss man haben, oder noch besser: Beziehungen. Und jede Menge Geduld und Glauben an sich selbst. Man kann noch so gut sein, die besten Ideen haben...“ Der nicht zu Ende geführte Satz drückt mehr aus als der vollendete vermutlich vermocht hätte. Claude schaut zu Boden, irgendwo zwischen seinen Füssen und seinem aus dem Leben gerissenen Bruder beißt sich sein Blick fest. Erst beim zweiten Mal dringen Krügers von der Gedankenverlorenheit verzerrte Worte zumindest soweit bis zu Claudes akustischem Wahrnehmungsvermögen durch, dass er Reaktion zu zeigen imstande ist: „Entschuldigung, was haben Sie gesagt? Ich war gerade nicht ganz da.“
„Nicht so wichtig“, beschwichtigt ihn der Kommissar, „ich wollte nur wissen, woran Sie gerade arbeiten, drüben, in den Staaten.“
„An einem Buch über San Francisco, und einer Story über die Aidskranken in der Stadt. Vielleicht mache ich auch