Alexander Nadler

Handover


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dort unten ansässigen Modezaren.“ Spöttische Gereiztheit schwingt am Satzende mit, lässt vermuten, dass sich der Redner nicht allzu viel aus derlei Persönlichkeiten macht. Um der Frage Krügers, der sich in die Nähe der Balkontür begeben hat und von dort aus den Raum prüfend mustert, infolge des nicht zu überhörenden Spottes zuvorzukommen, schickt sich Claude an hinzuzufügen: „Ich kann mit dem ganzen Modeschnickschnack nichts anfangen, das meiste, was da zweimal im Jahr als die kommende Mode angepriesen wird, zieht doch sowieso keiner an. Nicht nur, weil es für den Normalverbraucher nicht erschwinglich ist, sondern ganz einfach, weil es nicht tragbar ist, oder möchten Sie als Faschingsfigur durch die Gegend laufen. Schauen Sie sich doch einmal an, was da so über die Laufstege läuft, würden Sie Ihrer Frau erlauben, so etwas anzuziehen? Das Ganze wäre ja nicht so schlimm, wenn besagte Herren beziehungsweise Damen und ihresgleichen unter sich blieben, nur werden sie von allen Seiten derart hofiert und als die Macher in den Himmel gehoben, dass es beschämend ist, wie bereitwillig gewisse Leute deren unverschämte Forderungen auch noch mittragen, zum Beispiel Zehntausende für ein Abendkleid hinlegen, bloß weil es von Herrn Sowieso ist. Da fehlen ganz einfach die Relationen, doch nicht nur da, dies ist meiner Meinung nach überhaupt eines unserer größten Probleme, in jeder Hinsicht. Wir haben die Maßstäbe verloren, das Augenmaß - den Anstand.“ Die auf sie niedergehende Standpauke verwirrt Krüger und seinen Assistenten vorübergehend, lässt Claude nachsetzen: „Für mich zählt nicht der äußere Schein, die Hülle, für mich zählt das, was dahinter steckt, der Mensch. Sein und Schein klaffen gar allzu oft weit, sehr weit auseinander. Wo viel Schein ist, ist leider oftmals allzu wenig Sein. Die meisten Menschen fallen jedoch bereitwillig auf den gebotenen Kulissenzauber herein, sind gar nicht mehr fähig ... oder willens dahinter zu schauen, und genau so handeln sie auch. Und warum? Um Eindruck zu schinden, um Einfluss und Macht zu erlangen, einzig und allein darum geht es doch, und dafür verkaufen sie sich und andere. Leider. Und alle, fast alle spielen diese Komödie mit. Ich habe nichts gegen schöne Kleider und ähnliches, im Gegenteil, doch vieles, was uns als schön und begehrenswert anzudrehen versucht wird, entpuppt sich als kurzlebige Seifenblase, folgt lediglich dem Primat der Gewinnmaximierung. Schönheit, wahre Schönheit ist von Dauer, und zudem subjektiv. Was für mich schön ist, muss für Sie noch lange nicht schön sein. Kaum einer aber wagt es, aus den von sogenannten Fachleuten aufgestellten Trends, die einem Korsett gleich die Gesellschaft strangulieren, auszubrechen. Und mit dieser Hörigkeit und blauäugigen Gutgläubigkeit lässt sich gutes, das heißt schnelles Geld verdienen- Wahrscheinlich aber wollen die Menschen gegängelt werden, nur muss dies geschickt gemacht sein, damit sie nicht merken, wie viel sie von ihrer ach so hochgehaltenen Individualität bereits preisgegeben haben. Rede den Menschen ein, wenn sie dies und das täten, dann seien sie wer, dann glauben sie es in aller Regel auch. So läuft es in der Werbung, im Beruf, in der Politik - überall. Und macht einer den Mund auf, dann gilt er als Spinner, als Utopist, renitenter Querulant, und kann er den Mund gar nicht halten, räumt man ihn notfalls auf die ein oder andere Art und Weise aus dem Weg.“ Claude dämpft seine Erregung, schraubt seine Verbitterung zurück: „Einiges von dem, was Philipp fotografiert hat, war wirklich gut, vieles aber war, auch in seinen Augen, total verrückt und überzogen. Warum er es dann gemacht hat, werden Sie fragen. Sie werden lachen: des Geldes wegen. Manche geben für ihr Image horrende Summen aus, also ließ er sie zur Ader, wobei jene ihm noch dankbar waren. Kein Wunder also, dass meinen Bruder immer wieder Zweifel bezüglich seiner Arbeit überkamen, dass er sich als Mitläufer, Mittäter fühlte, der sich der gleichen subtilen Verbrechen schuldig mache, gegen die wir - er und ich - anzugehen bemüht waren. Und obwohl wir uns des Zwiespaltes bewusst waren, habe ich ihn ermuntert weiterzumachen, denn er verstand es meisterhaft, die Dinge ins rechte Licht zu rücken. Er besaß jene Intuition, die nötig ist, um aus der Masse der Modefotografen hervorzustechen. Mode war sein Metier, das wusste er, dazu bekannte er sich. Um den von ihm mit angerichteten Schaden irgendwie wieder gutzumachen, haben wir uns daher überlegt, was wir tun können, um unser, oder besser sein Gewissen wenigstens so einigermaßen wieder ins Lot zu bringen. So ließ er schließlich dreißig Prozent seiner Einnahmen diversen Umweltorganisationen und humanitären Hilfseinrichtungen zukommen, außerdem legte er zwanzig Prozent in einem Fond an, mit dem wir Projekte in der Dritten Welt unterstützen beziehungsweise sogar selbst aufgebaut haben. Außerdem hat er sich, soweit ihm sein Beruf Zeit dafür ließ, in einer Reihe von Organisationen betätigt, die sich zum Beispiel um die Wiedereingliederung ehemaliger Drogensüchtiger kümmern. Glauben Sie mir, er war sich des Dilemmas, in dem er sich befand, sehr wohl bewusst, und auch nicht glücklich darüber. Doch sah er in seiner Tätigkeit, in dem damit verdienten Geld eine Chance, anderen zu helfen, einen - wenn auch winzigen - Teil des Geldes, das für den Luxus eines kleinen Bevölkerungsanteils ausgegeben wird, dorthin umzuleiten, wo es wirklich gebraucht wird. Bei alledem war er allerdings indes Realist genug, seine Möglichkeiten und Grenzen abschätzen zu können. Dass er bei den Idealen, die er verfocht, nicht nur auf Gegenliebe stieß, dürfte Sie nicht verwundern, aber Feinde, nein, Feinde, die ihm nach dem Leben trachteten, hatte er meines Wissens deswegen nicht. Dazu war er viel zu tolerant. Er versuchte zu überzeugen, und zwar durch das eigene Beispiel. Anderen etwas abzuverlangen, wozu er selber nicht auch bereit gewesen wäre, dies wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Sein Engagement war ehrlich, das spürte jeder, der mit ihm zu tun hatte, mit ihm redete. Dafür schätzte ihn ein jeder, auch wenn man anderer Meinung war als er.“ Erleichtert und irgendwie neu motiviert fühlt sich Claude, nachdem er sein Herz ausgeschüttet hat, obwohl er sich keineswegs sicher ist, ob das Gesagte bei seinen Zuhörern auch richtig verstanden wird. „Ich erzähle Ihnen dies alles, damit Sie sich ein Bild von meinem Bruder machen können. Vielleicht hilft es Ihnen ja bei Ihren Ermittlungen.“

      „Möglich.“ Krüger klingt nicht gerade überzeugt. Zwar hilft ihm das soeben Gehörte dabei, sich ein erstes, oberflächliches Persönlichkeitsbild des Ermordeten zu machen, bei seiner Suche nach einem Motiv bringt es ihn jedoch momentan nicht weiter. „Vorläufig wäre das alles, Herr Duchamp. Halten Sie sich aber bitte noch solange zur Verfügung, bis wir unsere Arbeit hier beendet haben.“ Sich zur Seite drehend wendet sich der Kommissar an seinen Kollegen: „Sag mal, was ist mit den Nachbarn. Haben die nicht irgendetwas bemerkt oder beobachtet?“ Claude schnappt noch die Verneinung und den Hinweis Mihailovics auf, dass nur einer der Mieter zwischenzeitlich nach Hause gekommen sei, dann lösen sich die Stimmen der Kriminalbeamten und der von den Beamten der Spurensicherung gewobene Stimmen- und Geräuschteppich zusehends auf. Es berührt ihn eigenartig, fremde Leute in den Sachen und im Privatleben seines Bruders herumstöbern zu sehen, ihre Akribie, mit der sie sich Stück für Stück eine Vorstellung davon zu verschaffen versuchen, wer der Ermordete war, wie er war, was jemanden dazu veranlasst haben könnte, ihn kaltblütig zu erschießen.

      Philipp und er konnten nie verstehen, wie sich ein Mensch das Recht anmaßen kann, über das Leben eines anderen zu entscheiden, ganz gleich ob als Einzeltäter oder als Vertreter eines politischen Systems zur Durchsetzung angeblicher staatlicher Sicherheitsinteressen. Im Antlitz eines jeden einzelnen stehe seine Lebensgeschichte geschrieben, aus den Augen eines jeden lasse sich dessen Charakter herauslesen, dies war Philipps Überzeugung, deren Richtigkeit er des Öfteren auf überzeugende Art und Weise unter Beweis zu stellen vermocht hatte. „Lasse dir beim ersten Mal nichts vorgaukeln“, hatte er seinen Bruder in diese Kunst eingewiesen, „manchmal musst du lange warten, doch irgendwann erkennst du das wahre Gesicht deines Gegenübers, und fast immer verrät er sich durch seine Augen. Ob Gier, Hass oder Neid, Zuneigung, Sanftmut oder Melancholie, Aggressivität, Hoffnungslosigkeit oder Eitelkeit, Selbstbewusstsein, Kriecherei oder Koketterie, sie alle, und all die vielen Nuancen dazwischen beziehungsweise Kombinationen daraus, offenbaren sich in ihnen, du musst nur willens und fähig sein, die Zeichen und Züge richtig zu deuten, hinter die meist vorgehaltene Maske zu blicken.“ Philipp hatte ihn aber auch gewarnt, vor den Enttäuschungen, die er dadurch erfahren werde, denn schon bald werde er bemerken, wie viele Menschen eine Maske trügen. „Doch wirst du so auch deine wahren Freunde erkennen, auch wenn es nur sehr wenige sein werden. Aber auf sie ist Verlass. Und diese Erkenntnis wiegt viele Ernüchterungen auf.“ Und doch schien sich Philipp zumindest in einem Menschen geirrt zu haben: ein - dies belegt der leblose Körper in der Wohnzimmermitte nur allzu deutlich - fataler Irrtum.

      Als Belegmaterial für seines Bruders These versteht Claude die beiden Fotoserien, die in schwarz eloxierten Bilderrahmen