Weise mit beiden Händen fest umschlungen hält: „Die Welt wird immer schlechter. Man ist ja seines Lebens nicht mehr sicher. Entschuldigen Sie bitte“, meint sie, auf die zerknautschten Kopfkissen und die zurückgeworfene Wolldecke auf dem Sofa deutend, auf das sie sich zu setzen anschickt, „mein Mann hat gerade sein Mittagsschläfchen gemacht.“
„Dann tut es mir leid, dass ich Sie gestört habe.“
„Lassen Sie nur, keine Ursache“, lässt sich Herr Schröder vernehmen.
Nach einigen Sekunden des Schweigens, greift Claude den Gesprächsfaden wieder auf: „Sie sagten gerade, mein Bruder sei verlobt gewesen. Er hat mir gar nichts davon gesagt, worüber ich mich wundere. Wissen Sie zufällig, wer seine Verlobte war, seit wann sie miteinander liiert waren, und wo ich sie finden kann?“
„Das haben uns die von der Kripo heute Vormittag auch gefragt. Also seit wann die beiden verlobt waren, das weiß ich nicht, dürfte allerdings noch nicht so sehr lange her sein, schließlich kannten sich die beiden erst seit reichlich einem Vierteljahr. Ihr Bruder hat uns damals davon erzählt, kurz nachdem er sie kennengelernt hatte. Wir kamen rein zufällig darauf, als er einmal bei uns zu Besuch war.“ Das mitfühlende Nicken seiner Frau bestätigt seine Worte.
„Dass er mir nichts davon gesagt hat“, wundert sich Claude. Die Tatsache, dass die Kriminalpolizei bereits da gewesen ist, beruhigt ihn dahingehend, dass er im Fall seines Bruders etwas unternommen sieht. „Können Sie mir sagen, wie Philipps Verlobte heißt, wo sie wohnt?“
„Elisabeth, weißt du, wie sie heißt?“
„Nein. Er hat es zwar einmal erwähnt, ja, ich hab's mir aber nicht merken können, es klang so wie Linda oder so. Eine bildhübsche Person. Wir sind uns ein paar Mal im Fahrstuhl oder draußen vor der Tür begegnet. Nur schade, dass sie so wenig Deutsch spricht, deswegen konnten wir einander nicht viel mehr als ‚Guten Tag‘ und ‚Wie geht es Ihnen?’ sagen. Und Englisch spreche ich wiederum nicht. Mein Mann zwar ein wenig, aber auch nicht so sehr viel.“
„Sie ist also keine Deutsche?“ Claudes Frage findet umgehend die Bestätigung.
„Nein, nein. Sie kommt aus Thailand. Also wirklich, eine überaus reizende Person, eine echte Schönheit, und nicht so überheblich oder blasiert wie viele Frauen hier bei uns.“
„Lange schwarze Haare, etwa einen Meter fünfundsechzig, ovale Gesichtsform, und links über dem Mundwinkel ein kleines Muttermal?“ Claudes Fragen kommen wie aus dem Maschinengewehr.
„Ja, genau.“ In Herrn Schröders Antwort schwingt Verwunderung mit.
„Und Sie wissen nicht, wo sie wohnt?“
„Leider nein, diesbezüglich können wir Ihnen nicht weiterhelfen. Hat Ihr Bruder sie Ihnen gegenüber denn nie erwähnt, wo er doch so stolz auf sie war. Das sah man ihm deutlich an. Jedes Mal, wenn er sie erwähnte, strahlten seine Augen … voller Glück. Er muss sie sehr geliebt haben!“ Frau Schröders Sympathie für Claudes Bruder ist nicht zu überhören.
„Nein. Er hat mir nichts von ihr erzählt. Und, was sagten Sie, seit wann kannten sie einander?“
Das Ehepaar tauscht Blicke aus, als ob er bei ihr um Bestätigung nachsucht: „Mögen drei Monate sein, seit wir sie zum ersten Mal miteinander gesehen haben, nicht?“
„Stimmt, es war kurz nach Beginn des neuen Jahres, ein oder zwei Tage vor Dreikönig“, pflichtet Frau Schröder ihrem Mann bei. Und zu Claude gewandt: „Sie hat uns vom ersten Augenblick an gefallen. Ich weiß noch genau, wie sie mit Ihrem Bruder aus dem Fahrstuhl stieg. Wir waren gerade vom Einkaufen zurück. Ihr Bruder hat uns miteinander bekannt gemacht. Aber wissen Sie, Herr Duchamp, sooft wir einander begegnet sind, immer habe ich in ihren Augen ... was für wundervolle schwarze Augen sie hat…“, schweift sie ab, „…ja also, in ihren Augen lag stets ein Hauch von Traurigkeit, bei allem Glück, das sie offensichtlich an der Seite Ihres Bruders empfand. War doch so, oder?“ Ihr Blick wandert, Zustimmung suchend, zu ihrem Mann hinüber.
„Meine Frau hat recht“, pflichtet dieser ihr bei, „irgendetwas schien das Mädchen zu bedrücken, aber weder sie noch Ihr Bruder haben je ein Wort darüber verloren. Und wir haben nicht gefragt, schließlich steht es uns nicht zu, uns ungebeten in anderer Leute Angelegenheiten zu mischen.“
„Noch eine Frage: Waren die beiden wirklich verlobt, oder war es nur eine besonders innige Freundschaft?“ Claude kann es nach all dem, was er soeben erfahren hat, nicht glauben, dass ihm Philipp nichts davon mitgeteilt hat.
„Nein, nein, sie waren schon richtig miteinander verlobt, sie trugen doch Ringe.“ Die Stimme des Hausherrn klingt bestimmt, lässt keinen Zweifel am Gesagten.
„Und Sie haben keine Ahnung, seit wann sie verlobt waren?“ ‚Trug Philipp gestern einen Ring?‘ Claude kann sich nicht erinnern, hat allerdings auch nicht darauf geachtet - warum auch.
„Wie schon gesagt, lange kann dies nicht her sein. ich schätze so seit drei Wochen etwa. Zumindest ist mir da zum ersten Mal ihr Ring aufgefallen, und später dann auch bei Ihrem Bruder.“
„Frauen fällt so etwas immer gleich auf, uns Männern hingegen entgeht dies meist, zumindest anfangs“, kommentiert Herr Schröder die Aussage seiner Gemahlin. „Frauen scheinen mir visuell auf derlei Dinge geeicht zu sein, von Natur aus.“ Bewunderung mit einem Schuss Ironie spricht aus seinen Worten. „Während wir Männer immer das große Ganze zu sehen scheinen, erkennen die Frauen - in der Regel - viel eher Details.“
Wenn er ehrlich ist, muss Claude ihm recht geben, zu einem ähnlichen Ergebnis ist er selbst auch schon vor Längerem gekommen, wobei er sich bemühte, die Ursachen dafür auszuleuchten. Eine wesentliche, so sein Resultat, sieht er in dem immerwährenden insgeheimen Konkurrenzkampf der Frauen untereinander, der ihre Augen dahingehend geschärft zu haben scheinen, Fehler und Makel des gleichgeschlechtlichen Gegenübers, das so gut wie immer - uneingestanden und zudem völlig sinnloserweise - als Konkurrentin empfunden wird, aufzudecken und zum eigenen Vorteil auszunutzen, umzudeuten. Das quasi tägliche Training, Stärken und Schwächen des Vis-à-Vis so rasch als möglich aufzuspüren und zu analysieren, hat Frauen die Fähigkeit verliehen, in Sekundenschnelle Details zu erkennen, die Männern, die sich zunächst auf den grobgerasterten Überblick, die Erfassung komplexer Situationen konzentrieren, oftmals entgehen - jedenfalls anfänglich. Warum dieser stille Konkurrenzkampf eigentlich schwelt, dafür, so Claudes Meinung, gibt es im Grunde genommen keine adäquate, oder besser gesagt keine vernünftige Antwort. Ob es Eitelkeit, Zweifel an der eigenen Persönlichkeit, Minderwertigkeitskomplexe oder ganz einfach Buhlerei ist? Abendgesellschaften, Partys, Empfänge und derlei Anlässe mehr sind für Claude, so sehr er jene auch hasst, jedes Mal willkommene Gelegenheit, sich stillschweigend über diesen - auf einer ganz eigenartig sinnlich spürbaren Ebene - stattfindenden zwischenfraulichen Wettstreit zu amüsieren. Ein gar eigenwilliges, absurdes Spektakel, das ihn in seinen sichtbaren und unsichtbaren Formen immer wieder aufs Neue fasziniert. Partnerwerbung, Brunftgehabe bis zur Lächerlichkeit. Angesichts solcher allzu archaischer Verhaltensweisen überkommt Claude stets ein Gefühlsgemenge aus Verachtung, Mitleid und Belustigung, das ihn an der Vernunftfähigkeit der menschlichen Rasse zweifeln lässt.
‚Trug Philipp einen Ring?’ Claude reißt sich aus seinen geistigen Abschweifungen los und versucht noch einmal sich das Bild des auf dem Wohnzimmerboden liegenden Ermordeten ins Gedächtnis zurückzurufen, was ihm nur unvollständig gelingt. So sehr er sich auch bemüht, an einen Ring an seines Bruders Händen vermag er sich beim besten Willen nicht zu erinnern. Nachfragen bei der Kriminalpolizei wird ihm Klarheit auf diese Frage verschaffen.
„Ich möchte mich bei Ihnen bedanken.“ Claude stemmt sich hoch, Frau Schröder die Rechte zum Abschied hinhaltend. „Ich hoffe, ich habe Sie nicht allzu sehr belästigt mit meinen Fragen. Sie haben mir sehr geholfen. Nochmals besten Dank, aber jetzt muss ich los, ich möchte gerne noch die anderen Nachbarn befragen.“
Frau Schröder ist ihrerseits aufgestanden, ignoriert