Alexander Nadler

Handover


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Mein Mann und ich würden uns freuen, wirklich.“

      „Das ist sehr nett von Ihnen, aber...“

      „Kein Aber! Kommen Sie, nehmen Sie doch noch einmal Platz. Während meine Frau den Kaffee zusetzt, können wir uns noch etwas unterhalten. Abels, das Ehepaar nebenan, sind sowieso nicht da. Die sind letzte Woche in Urlaub gefahren und kommen erst nächste Woche wieder zurück. Sie haben uns gebeten, ihre Blumen zu gießen, daher weiß ich dies so genau. Und Frau Bernadetti, die neben den Abels wohnt, geht meistens erst spät abends aus. Und an Wochenenden ist sie oft nicht zuhause. Sie haben also noch Zeit!“

      „Also gut, aber nur, wenn es Ihnen keine Umstände macht.“ Claudes Hoffnung, vielleicht doch noch etwas Wichtiges von den Eheleuten zu erfahren, veranlasst ihn, wieder seinen alten Platz einzunehmen.

      „Aber woher, wir hätten jetzt ohnehin Kaffee getrunken.“ Frau Schröder verschwindet in Richtung Küche, während ihr Mann aus einem Sideboard Kaffeegeschirr holt, das er fachmännisch auf dem Couchtisch verteilt.

      „Sie scheinen Frau Bernadetti nicht sonderlich zu mögen?", schließt Claude aus Herrn Schröders lakonischer, leicht spitzer Stimmlage, die er bei der Nennung des besagten Namens herauszuhören geglaubt hat.

      „Oh, im Grunde genommen haben wir nichts gegen sie, wahrscheinlich liegt's an ihrem südländischen Temperament. Sie nimmt es nicht immer so genau mit der Lautstärke, besonders wenn sie ihre Freunde zu Besuch hat. Junge Leute sollen ruhig lebensfroh sein, was aber nicht heißt, dass man bis spätnachts einen Heidenlärm veranstaltet, der niemanden schlafen lässt. In letzter Zeit ist es etwas besser geworden, nachdem sich einige Mieter bei der Hausverwaltung beschwert haben. Und die Männer, die sie sich anlacht, sind auch nicht immer die allerhöflichsten. Übrigens: Sie hatte auch ein Auge auf Ihren Bruder geworfen.“ Den Tisch fertig deckend: „ Sie war aber, glaube ich, nicht sein Typ. Und seit er mit dieser Thailänderin zusammen war, hat sie ihn kaum noch angeschaut.“ Herr Schröder nimmt wieder Claude gegenüber Platz.

      Das Gespräch der beiden Männer schweift ab, man redet über dies und das, ehe der hier Wohnende voller Stolz seine Münzsammlung präsentiert, die einige ganz besonders rare und interessante Stücke aufzuweisen hat, wie ihr Besitzer nachdrücklich betont. Claude muss offen gestehen, dass er von dieser Materie keinerlei Ahnung hat, was seiner Bewunderung für die Sorgfalt, mit der die umfangreiche Kollektion zusammengestellt wurde, aber keinerlei Abbruch tut. Bei Kaffee und selbstgebackenem Marmorkuchen erhält er einen Schnelleinführungskurs in Numismatik, erkennend, dass ihm ein wahrer Fachmann gegenübersitzt. Frau Schröder zeigt sich entzückt, dass Claude ihr seine Schwäche für Süßes und Gebackenes dadurch kundtut, dass er auch ihrer Offerte für ein viertes Stück des erst am Vormittag gebackenen und daher ofenfrisch auf der Zunge zergehenden Kuchens nicht ausschlägt, wobei sein - ihm beinahe schon peinlicher - Appetit nicht zuletzt auch dadurch bedingt ist, dass er an diesem Tag bis zu diesem Zeitpunkt noch nichts zu sich genommen hat.

      Zwangsläufig kommt das Gespräch irgendwann auf Philipp zurück, so dass sich Claude die Chance des Nachhakens bietet: „Haben Sie eigentlich eine Ahnung, warum man Philipp ermordet haben könnte? Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen? Wissen Sie irgendetwas, was ein Motiv abgeben könnte?“

      Schröders schauen sich an, überlegen ein paar Sekunden, ehe sie unisono verneinen, woraufhin sie ergänzt: „Ihr Bruder war immer auf Ausgleich bedacht, zumindest soweit wir dies beurteilen können, nicht wahr Klaus.“ Ein stummes Nicken signalisiert Zustimmung. „Er hatte hohe, anspruchsvolle Ideale, aber das wissen Sie ja wahrscheinlich noch besser als wir. Doch versuchte er sie niemals radikal durchzusetzen, sie jemandem aufzuzwingen. Es war ihm wichtig, Überzeugungsarbeit zu leisten, selbst ein Beispiel zu geben, Vorbild zu sein. Stimmt doch, oder?“ Die Frage richtet sich an Claude, der in ihrer Kurzcharakterisierung seinen Bruder so wiedererkennt, wie er ihn von Jugend an kannte.

      Eine Viertelstunde später schlendert Claude ziellos durch die Straßen des Viertels, nachdem er bei Frau Bernadetti vergeblich geklingelt hat. In einem nahegelegenen kleinen Park säubert er eine unter einer Buche stehende Bank von spät abgeworfenen Blättern, setzt sich gedankenverloren nieder, die Arme auf die Rückenlehne breitend, und während die Ohren dem Gezwitscher der in den Baumkronen trällernden Vögel lauschen, irrt seine Erinnerung ab nach Mailand, zur letzten Begegnung mit seinem Bruder zu dessen Lebzeiten.

      Unvorstellbar scheint es ihm, dass diese bereits knapp eineinhalb Jahre zurückliegt. Philipp war gerade von den Seychellen zurück, wo er drei Wochen lang die neueste Bademode von einem der führenden Hersteller Italiens abgelichtet hatte, und der nächste Großauftrag wartete bereits auf ihn: Die Winterkollektion eines italienischen Modezaren, der seit Jahren mit seinem Bruder zusammenarbeitete - zur beiderseitigen Zufriedenheit. Ein Auftraggeber, wie ihn Philipp besonders schätzte, ließ er ihm doch stets freie Hand bei der Arbeit. Claude selbst war damals auf dem Sprung nach San Francisco, um dort neue Projekte in Angriff zu nehmen. Beide ahnten zu diesem Zeitpunkt nicht, dass sie einander nicht wiedersehen würden - zumindest lebend. Eigentlich wollte er nur reichlich ein halbes Jahr in den Staaten bleiben, einige kleinere Aufträge brachten seine Planung jedoch derart in Verzug, dass er jetzt, da nun schon weit über ein Jahr vorüber war, noch immer nicht mit seinem eigentlichen Projekt fertig war. Zwölf Tage war er in Mailand geblieben, hatte mit Philipp neue Pläne geschmiedet, den Stand und Fortgang ihrer bereits seit Längerem laufenden Unternehmungen durchgecheckt, sie waren abends durch die Stadt gezogen, hatten so manch schönem Mädchen nachgeschaut, bei dem unter der spätsommerlichen Sonne der Rocksaum bis weit über die Knie hochgerutscht war, hatten gelacht und miteinander gealbert, wie sie es seit Kindheit miteinander getan hatten, wissend, dass der andere selbst feinste Andeutungen treffend zu interpretieren wusste - Resultat und Schatz mentalen Gleichklangs. Und während Philipp tagsüber hinter der Kamera gestanden hatte, war er selbst durch die Straßen und über die Plätze der Stadt gestromert, war noch einmal Wege abgegangen, denen er ein Jahr zuvor schon einmal gefolgt war, damals allerdings nicht allein, sondern in Begleitung eines zauberhaften Mädchens, an dessen Seite er eine der lehrreichsten, aber auch bis dahin bittersten Lektionen seines Lebens erfahren hatte...

      Während der Zeit, in der sein Bruder damals seinen beruflichen Verpflichtungen nachkam, erschloss er sich auf Schusters Rappen die Stadt, ließ sich, wie er dies stets tat, wenn er irgendwo neu war, seinen Augen und Ohren folgend durch das Gewirr der Straßen und Menschen treiben und kam schließlich an der Piazza Castello heraus, wo er sich beim Brunnen niederließ. Die Scharen der rings um ihn vor sich hin gurrenden Tauben versetzten bei ihrer Suche nach heruntergefallenen oder ausgestreuten Krümeln das Ringsum in divergierende Fließbewegungen, zerschnitten von hindurchschießenden Radfahrern und Passanten, die angesichts der fast selbstmörderischen Sturheit, mit der sich ihnen die gefiederten Zweibeiner in den Weg stellten, viel eher zum Anhalten genötigt wurden als dass es dem grauweißen Federvolk eingefallen wäre, einige kurzbeinige Trippelschritte zur Seite zu machen. Vom stundenlangen Spazieren und Schauen ermüdet, lauschte Claude zunächst einige Minuten dem Plätschern hinter seinem Rücken. Erst als er bereits mehrere Male den Kopf gehoben hatte, um einen waghalsig über das Pflaster dahinbrausenden Pedaltreter oder den Verursacher infernalen Hupens auszumachen, fiel ihm die Gestalt eines Mädchens auf, das, einem Fels in der Brandung gleichend, nahezu bewegungslos nur wenige Meter von ihm entfernt auf der Brunnenumfassung saß. Ein dicker Zopf kastanienbraunen Haares fiel ihr über die rechte Schulter, rhythmisch hob und senkte sich ihr Kopf, nahm offensichtlich irgendetwas ins Visier. Sie saß mit dem Rücken zu Claude, der außer ihrer schwarzen Jeans nur noch bemerkte, dass ihre im tiefen Rückenausschnitt sichtbare Haut von jener samtenen Bräune war, die in Werbeanzeigen Männerherzen zum Schmelzen bringt, begehrliche Sehnsüchte zu erwecken versteht. Minutenlang studierte er ihre immer wieder für Sekunden sichtbar werdenden feingliedrigen Finger, versuchte sich ihr Gesicht vorzustellen. Er fühlte Neugier in sich aufsteigen, zum einen, um sich von der Richtigkeit - oder Falschheit - seiner Imagination zu überzeugen, zum anderen, um herauszubekommen, womit sie sich derart konzentriert beschäftigte. Letzteres klärte sich auf einen Schlag, als sie aufstand, Skizzenblock und Stift aus der Hand legte und sich, Arme und Finger streckend, zu entspannen versuchte. Sich dabei umdrehend, sah er all seine Mutmaßungen über den Haufen geschmissen. Ein paar in die Stirn gekämmte Strähnen unterstrichen jene jugendfrische