Alexander Nadler

Handover


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wurde, entschloss er sich kurzerhand hinzufahren. War das noch dasselbe Mädchen, das ihn noch vor wenigen Tagen fest umschlungen gehalten, seine Zuneigung auf das Innigste erwidert hatte?

      Leichter Regen hatte den Staub und die Hitze aus der Luft gewaschen, als er gegen sechs Uhr abends aus dem Taxi stieg und die Zufahrt zu Isabels Elternhaus entlangschritt. Die Farben der Blumen rechts und links schienen sich mit doppelter Leuchtkraft für das lebensspendende Nass zu bedanken. Am leichten Zögern des Hausangestellten, der ihm öffnete, erkannte er sofort, dass das ‚Nein‘ auf seine Frage nach Isabels Anwesenheit nicht der Wahrheit entsprach. Bemüht, nicht unhöflich oder aufdringlich zu erscheinen, bestand er trotz der negierenden Antwort darauf, sie zu sehen, oder wenigstens einen ihrer Elternteile, die sich aber nach Auskunft des Bediensteten beide noch in der Stadt befanden. Da sein Drängen erfolglos blieb, war er gerade im Begriff zu gehen, als ihn Isabel von der in den ersten Stock führenden Treppe aus anrief, woraufhin er sich in Sekundenbruchteilen auf den Hacken umdrehte und an dem verdutzten Hausangestellten vorbei auf sie zuschoss, sie am Fuße der Treppe mit ausgestreckten Armen bei den Schultern packte und sie mehrmals nach dem Warum fragte. Ihre Augen waren gerötet, und auch in diesem Augenblick kullerten schwere Tränen ihre Wangen hinunter, von wo aus sie haltlos auf die spiegelblanken Marmorfliesen klatschten. Ohne ein Wort zu sagen, führte sie ihn hinaus in den Garten, der unter der schüchtern hindurchbrechenden Nachmittagssonne Regenfrische ausstrahlte. Ein gutes Stück vom Haus entfernt, dort wo die Rasenfläche in Baum- und Strauchwerk überging, blieb sie stehen, raffte all ihren Mut zusammen, um ihm reinen Wein einzuschenken. Jedes Wort dieses Dialogs, der ihm fast wortwörtlich im Gedächtnis bleiben sollte, entrang sich einer gequälten Seele, die im Taumel der Gefühle weder ein noch aus wusste.

      „Claude, ich möchte, dass wir uns nicht wiedersehen“, brach Isabel jenes ihn marternde Schweigen. „Nein, frage mich bitte nicht: Warum? Nur glaube mir...“

      „Was? Natürlich frage ich dich: Warum? Was ist passiert, was ist los? Habe ich irgendetwas falsch gemacht? Haben deine Eltern etwas gegen mich?“ Was er sich im Grunde nicht vorstellen konnte.

      „Nein, lass bitte meine Eltern aus dem Spiel, sie haben nichts damit zu tun. Ehrlich. du hast ihnen überaus gut gefallen, sie fanden dich äußerst sympathisch und aufgeschlossen.“

      „Was also dann? Ich glaube schon, dass du mir eine Erklärung schuldest, oder nicht? Isabel, ich liebe dich, und wenn mich nicht alles täuscht, hast auch du mich, zumindest bis vor zwei Tagen, recht gerne gemocht. Ich komme hierher, deine Eltern, du und ich, wir verbringen gemeinsam einen Abend, und anschließend sprichst du nicht mehr mit mir. Und du willst mir weismachen, das alles habe nichts miteinander zu tun. Wenn ich dir glauben soll, dann verrate mir bitte, was dann die Ursache deines Sinneswandels ist.“ Er drehte Isabel, die mit dem Rücken zu ihm stand, an den Schultern packend zu sich herum und blickte ihr bestimmt, auf eine Antwort wartend, in die Augen, in denen von schierer Verzweiflung geprägte Traurigkeit stand, gepaart mit der Bitte, dem Flehen um Verständnis, das er ihr nur allzu gerne gewährt hätte, wäre da nicht jene grenzenlose Enttäuschung gewesen, die ihn emotional zu lähmen drohte.

      „Warum kannst du mir nicht ganz einfach vertrauen? Glaubst du vielleicht, mir fällt es leicht, dir dies zu sagen. Aber wenn du mich liebst, wirklich liebst, dann bedränge mich nicht weiter. Auch wenn du mir nicht glaubst, auch ich liebe dich, obwohl ich mich niemals in dich hätte verlieben dürfen! Es war mein Fehler, ich wollte dir nicht weh tun, doch leider ist es passiert. Nun bitte ich dich, geh, ehe es noch schlimmer wird, die Trennung uns beide noch mehr schmerzt.“

      „Es war ein Fehler, dass du dich in mich verliebt hast? Was soll das heißen? Verzeih mir, aber daraus werde ich nicht schlau.“ Seine Gereiztheit war unüberhörbar. „Wenn du mich wirklich liebst, dann habe ich ein Recht darauf, die ganze Wahrheit zu erfahren. Keine Angst, so empfindlich bin ich nicht.“ Sein sarkastischer Ton tat ihm umgehend leid. „Also, was ist los?“

      Die Pause bis zu ihrer Antwort erschien ihm ewig, schließlich gab sie ihrem inneren Ringen aber doch nach. „Ich war drogensüchtig!“ Sie hatte sich wieder abgewandt, ihr Geständnis glich einer Beichte, ihre Stimme war geprägt von Scham und Reue.

      „Und, das ist kein Grund. Außerdem sagtest du: Du warst süchtig. Das heißt, du bist jetzt clean.“

      „Ja, seit etwa zwei Jahren.“

      Er konnte sich nicht erinnern, irgendwelche Einstiche an ihr bemerkt zu haben. „Welche Art Drogen waren es denn?“

      „Heroin.”

      „Glaubst du etwa, ich würde dich deswegen weniger lieben? Ich kenne mehrere Leute, die süchtig sind und die nicht davon loskommen. Trotzdem sind sie meine Freunde. Hast du wirklich geglaubt, dies wäre ein Hinderungsgrund?“

      „Nein.“

      „Nein?“ Ratlosigkeit. „Was dann? ... Was ist es dann? Was verschweigst du mir?“

      „Ich habe dabei einmal einen Fehler gemacht, für den büße ich nun...“

      „Dass du dich in mich verliebt hast?“ Kaum waren ihm diese Worte über die Lippen gekommen, bereute sie Claude auch schon, waren sie doch allzu salopp und ohne Nachdenken dahingesprochen, und der Situation keineswegs angemessen.

      „Ja. Nein. Das war schon mein zweiter.“ Verzweifelt ging sie ein paar Schritte auf und ab, hin und zurück, unfähig, ihrer Gefühle Herr zu werden. „Ich durfte mich nicht verlieben, nicht weil ich nicht lieben will, sondern um anderen ... um dir Schmerz zu ersparen!“

      „Entschuldige, aber verstehen kann ich dies immer noch nicht. Und außerdem ist es nun sowieso zu spät, Isabel. Doch was auch immer der Grund für dein merkwürdiges Verhalten ist, welchen Fehler du auch begangen hast, ich stehe zu dir. Dich verstehen, dir helfen kann ich aber nur dann, wenn du mir alles sagst.“

      Die Sanftheit seiner Stimme flößte ihr offensichtlich Vertrauen ein, ließ sie spüren, dass es ihm mit dem Gesagten ernst war, dass sie ihm die Wahrheit schuldete. Sie schaute ihn offen an, Angst und Scham waren gewichen. „Ich habe einmal dieselbe Nadel wie einer der anderen Junkies benutzt...“ Und um seine deutlich von den Augen ablesbare Frage zu beantworten, fügte sie hinzu: „Ich habe Aids!“

      Ihm war, als zöge man den Boden unter seinen Füssen weg, als öffne sich unter ihm die Erde, als fiele er in einen abgrundtiefen schwarzen Schacht - tiefer, tiefer und immer tiefer, harrend auf den dumpfen Aufschlag, der ihm den Garaus machen, dem Alptraum ein Ende bereiten würde. Doch nichts dergleichen geschah, der Fall schien endlos. Wie vom Blitz getroffen stand er da, unfähig irgendeiner Regung, geschweige denn eines Wortes. Wie lange, daran konnte er sich im Nachhinein nicht mehr entsinnen. Es mochte wohl weit mehr als eine Minute gewesen sein, ehe er seiner Bestürzung wieder so weit Herr wurde, dass er überhaupt bemerkte, dass Isabels Mutter zu ihnen gestoßen war, ihre in Tränen aufgelöste Tochter mit der ganzen einer Mutter zur Verfügung stehenden Liebe an die Brust drückend. Nun war ihm auch klar, warum sie seinem Begehren nicht nachgegeben hatte, obgleich er auch in ihr das Verlangen gespürt hatte, den Wunsch, ihm alles zu geben. Unsagbares Mitleid überkam ihn: Eine so wunderschöne junge Frau, die in der Blüte ihres Leben stand, Opfer eines Leichtsinns, Todeskandidat auf Abruf.

      „Isabel, das ändert nichts daran, dass ich dich liebe.“ Zum ersten Mal sprach er in der Gegenwart einer ihrer Elternteile offen von seiner Zuneigung zu ihr; die Umstände erforderten jedoch klare Verhältnisse.

      „Ich danke Ihnen, Herr Duchamp.“ Isabels Mutter klang erstaunlich ruhig. „Wir wissen, was Sie jetzt empfinden, wir haben Gleiches durchgemacht, wahrscheinlich sogar noch Schlimmeres. Wir hatten uns so gefreut, dass Isabel endlich losgekommen war von diesem Teufelszeug. Und dann das. Anfangs konnten, wollten wir es nicht glauben, drei Tests haben wir machen lassen. Alle fielen positiv aus. Ja, wenn man Isabel sieht, vermutet man es nicht, und doch ist es wahr. Keiner weiß, wann es bei ihr soweit sein wird. Es kann zehn, möglicherweise aber auch nur fünf Jahre dauern, oder noch weniger. Und Sie wissen sicherlich selbst, wie der Stand der Forschung derzeit ist, die Chancen auf Heilung sind. Wir machen uns