ihm letztendlich gelungen war, in diesem Moment einen Schlussstrich zu ziehen, konnte er im Nachhinein nur seiner ihm von klein auf anerzogenen Toleranz zuschreiben, die ihn allzeit nötigte, Wünsche und Eigenarten anderer Menschen so lange zu respektieren, solange sie ihren Mitmenschen dadurch keinen physischen oder irreversiblen psychischen Schaden zufügten. Isabels Mutter wusste um die Größe seines Opfers, bewunderte seine Haltung, denn ihr Bedauern, sich nicht unter günstigeren Vorzeichen kennengelernt zu haben, kam von Herzen. Mit beiden Händen drückte sie ihm zum Abschied die Hand - ganz Mutter. Und er scheute sich in diesem Augenblick nicht, Isabel vor den Augen ihrer Mutter auf Stirn und Wangen zu küssen; ihr Gesicht in seine Hände bettend, flüsterte er ihr noch zu: „Ich werde dich nie vergessen, Isabel! Gott beschütze dich!“
Eine Welt stürzte für ihn ein. Philipp nahm sich, trotz größter terminlicher Schwierigkeiten, ein paar Tage frei, um ihn auf andere Gedanken zu bringen, was ihm allerdings nur sporadisch für Sekunden gelang, und zwar immer dann, wenn er Claude an ihre gemeinsamen Jugendstreiche erinnerte, die selbst ihre Eltern oftmals mit einem von Herzen kommenden Lachen quittiert hatten. Und doch tat ihm diese brüderliche Fürsorge gut, half die seelischen Wunden ein ganz klein wenig zu heilen. Niemals zuvor hatte er den Wert geschwisterlicher Liebe derart deutlich gespürt und wertgeschätzt wie in den Tagen und Wochen nach der so unerwartet gekommenen Trennung.
Ab und an war er versucht rauszufahren, beließ es aber jedes Mal bei einem Telefonat, in dem er sich bei Isabels Eltern nach dem Befinden ihrer Tochter erkundigte, wobei er sie ausdrücklich bat, Isabel nichts von seinem Anruf zu sagen. Zweimal begegnete er zufällig auch noch Isabels Vater in der Stadt, der ihm seine Hochachtung angesichts des ihm Abverlangten aussprach. Auch er gab sein Bedauern zum Ausdruck, sich nicht unter günstigeren Umständen kennengelernt zu haben, bat ihn noch einmal um Verständnis für den von Isabel gefassten Entschluss und wünschte ihm abschließend alles Glück der Welt. Zwei weitere Wochen blieb er noch bei Philipp, konnte es dann allerdings nicht mehr ertragen durch Straßen, über Plätze zu gehen, die für ihn derart mit Erinnerungen behaftet waren, woraufhin er sich entschloss abzureisen, nach Köln zurückzukehren. Zwar versuchte Philipp ihn umzustimmen, bemerkte jedoch rasch, dass nur ein Ortswechsel seinem Bruder helfen könne, den nötigen Abstand von den jüngsten Geschehnissen zu gewinnen.
Als er einige Monate darauf noch einmal seinen Bruder besuchte, vor seinem Sprung über den großen Teich, erkundigte er sich bei Philipp, ob er im Laufe der vergangenen Monate noch einmal etwas von Isabel gehört habe. Da ihm die Albertis offensichtlich nichts mitgeteilt hätten, so ließ ihn Philipp wissen, habe auch er sich dazu entschlossen, ihm nicht zu schreiben bzw. am Telefon zu sagen, dass Isabel bereits vor etwa zwei Monaten gestorben sei, und zwar an den Folgen einer Hirnhautentzündung, mit der ihr angegriffenes Immunsystem nicht fertig geworden sei. Am Schluss sei es ziemlich schnell gegangen, zum Glück habe sie, wie er nachträglich erfahren habe, nicht allzu sehr leiden müssen. Es sei ein riesiges Begräbnis gewesen, schließlich gehörten Isabels Eltern zu den angesehensten Bürgern der Stadt. Er selbst habe nur darüber gelesen, dabei gewesen sei er nicht, auch wisse er nicht, wo Isabel begraben liege. Dies habe er sich nicht zu fragen getraut, als er den Albertis nachträglich telefonisch sein Beileid aussprach, und da sie es von sich aus nicht gesagt hätten, habe er daraus geschlossen, dass sie das Kapitel, in dem sich die Wege der beiden Familien für kurze Zeit gekreuzt hatten, ein für alle Mal abschließen wollten.
Die Mitteilung von Isabels raschem Tod entsetzte ihn, weckte in ihm unter einer dünnen Decke des Verdrängt-Seins schmerzbeladene Erinnerungen an die viel zu wenigen glücklichen Stunden, die er an ihrer Seite hatte verbringen dürfen. Noch einmal folgte er durch Straßen und über Plätze Spuren, die sie in seinen Erinnerungen hinterlassen hatte. Immer wieder tauchten ihre schlanken Finger vor seinen Augen auf, wie sie über den Skizzenblock huschten und so das Leben um sie herum mit wenigen gekonnt gesetzten Strichen einfingen. Um den peinigenden Gedankengängen zu entrinnen, zog er schließlich einen Schlussstrich, beschloss unverzüglich nach San Francisco zu gehen. Der so unerwartet frühzeitig gekommene Tod seiner einstigen Geliebten trieb ihn geradezu fort von allem, was ihm bis dahin lieb und teuer gewesen war. Einen Neuanfang hatte er vor Augen, soweit es einem Menschen möglich ist, in der Mitte seines Lebens neu anzufangen.
Montag, 14. April 1997, 10:21 Uhr
Um die Straßenecke biegend, taucht das Polizeipräsidium vor Claude auf, wohin ihn Krüger bei seinem morgendlichen Anruf für 10:30 Uhr bestellt hat. Schritt für Schritt spult er die letzten Meter bis zum Eingang herunter, orientiert sich drinnen in Richtung Aufzug, drückt die Ruftaste, die durch ihr Aufleuchten Warten signalisiert. Sekunden später öffnet sich die Aufzugstür, Claude tritt zwei Schritte vor und drückt den Knopf für den zweiten Stock, in dem Hauptkommissar Krüger sein Büro hat.
Beim leisen Summen des nach oben gleitenden Fahrstuhls lässt Claude nochmals stichpunktartig die Stationen des gestrigen Tages Revue passieren. Die Erinnerungen an seinen Bruder und Isabel sowie deren tragisches Ende bereiteten ihm erneut eine unruhige Nacht, für deren Ende er bei Anbruch des Tages dankbar war. Obwohl er es vorausahnte, war er über das erfolglose Klingeln bei den ehemaligen Nachbarn seines Bruders doch enttäuscht. Es verhielt sich ganz offensichtlich so, wie es ihm Schröders am Tag davor geschildert hatten. Ziellos schlenderte er daraufhin durch die Stadt, flüchtete zweimal vor kurzen Regenschauern in Cafés, in denen er sich überlegte, ob Philipp vielleicht auch einmal dort gewesen sei. In der Taunusanlage, in der Nähe des Japan Centers warfen ihm ein paar Mädchen, zumeist blonde, herausfordernde Blicke zu, für die er sich so ganz und gar nicht empfänglich zeigte. Zum Flirten, geschweige denn zu mehr, war ihm bei aller Liebe nicht zumute. Ob sie ihm seine Kühle, Distanziertheit, mit der er ihnen begegnete, als Arroganz oder Schüchternheit auslegten, oder ob sie ihn gar für einen vom anderen Ufer hielten, war ihm gleich. Er wartete auf den nächsten Tag, auf Montag, an dem er und die Polizei endlich wieder etwas unternehmen würden, könnten. Und so sehr er sich dabei das Gehirn zermarterte, er hatte nicht die leiseste Ahnung oder Idee, wer schuld am Tode seines Bruders sein könnte, in was für eine Sache dieser möglicherweise verstrickt gewesen war.
Die Zwei über der Fahrstuhltür leuchtet auf, die verchromte Tür gleitet zur Seite und gibt den Blick frei auf eine lange Reihe von Türen in einem noch länger erscheinenden Gang. Claudes Augen tasten die Schilder neben den einzelnen Zimmereingängen ab, auf der Suche nach der 217, hinter der ihn Krüger und sein Assistent Mihailovic bereits erwarten. Beide wirken gereizt, Spannung liegt in der Luft. Die Sonne verschwindet gerade hinter einer dunklen, auf möglichen Regen hindeutenden Wolkenbank; die dadurch eintretende Düsternis drückt zusätzlich auf die Atmosphäre in dem nicht allzu großen Raum, in dem eine Dunstglocke aus abgestandenem Kaffee und erkalteter Zigarettenasche hängt. Ordner und Aktenmappen stapeln sich am Schreibtisch und in den Regalen, Krüger kritzelt soeben noch einige Notizen auf seine papierne Schreibtischunterlage, die überzogen ist mit einer Flut von Telefonnummern, Adressen und Notizen. Aus den Nebenräumen dringt das Stimmengewirr einer rege geführten Debatte herüber, das immer wieder aufs Neue explosionsartig anschwillt, um im nächsten Augenblick wieder so weit in sich zusammenzusacken, dass nur einzelne Wortfetzen undeutlich zu vernehmen sind.
„Ah, guten Morgen Herr Duchamp“, begrüßt ihn Krüger im Aufstehen, den Kugelschreiber in einem letzten, weit ausholenden Bogen über das Papier führend. Er streckt Claude seine Rechte zur Begrüßung über seinen Arbeitsplatz hinweg entgegen und bittet ihn mit Worten und entsprechender Geste Platz zu nehmen, wobei er verbal gleichzeitig auf die Anwesenheit seines Kollegen hinweist: „Kommissar Mihailovic kennen Sie ja bereits. Aber bitte, nehmen Sie doch Platz.“
Die ersten Fragen sind mehr oder weniger belanglos, erkundigen sich nach dem Befinden und wiederholen zum Teil, was bereits am Tag der Auffindung Philipps besprochen worden ist. Krüger scheint Claudes Ungeduld zu spüren, denn unvermittelt konkretisieren sich Fragen und Sachverhalte: „Ehe ich Ihnen noch ein paar Fragen stellen möchte, zunächst einmal, was wir bislang herausgefunden haben. Vielleicht fällt Ihnen ja etwas dazu ein. Ihr Bruder wurde mit einer 7,65er erschossen, aus höchstens zwei Meter Entfernung. Er war sofort tot. Die ballistischen Untersuchungen des Projektils haben bis jetzt nichts gebracht. In der Wohnung haben wir außer den Fingerabdrücken des Ermordeten noch die einiger anderer Personen gefunden, wobei