Alexander Nadler

Handover


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Sie hatten einander in so mancher brenzligen Situation beigestanden, nun war er von seinem gerade neununddreißig Jahre alten Bruder auf dem gemeinsam eingeschlagenen Weg alleingelassen worden.

      In seinen Gedanken und Erinnerungen verloren, nimmt Claude das Geschehen um sich herum nur schemenhaft wahr, Geräusche und Stimmen dringen verweht, wie aus weiter Ferne an sein Ohr. Er weiß nicht, wie lange er so dagesessen ist, nachdem sie den Leichnam seines Bruders hinausgetragen haben. Eine Weile noch starrt er teilnahmslos in den Raum, ehe ihn die Worte des Hauptkommissars in die Wirklichkeit zurückholen: „Für den Moment sind wir hier fertig, Herr Duchamp. Ist Ihnen mittlerweile noch irgendwas eingefallen oder aufgefallen?“

      „Wie?“ Claude muss sich erst wieder neu orientieren. „Nein, nichts.“ Und während er sich, etwas schlaftrunken, erhebt: „Und was geschieht jetzt? Kann ich die Wohnung benutzen? Ich wollte ja bei Philipp wohnen, also habe ich mich noch nach keinem Zimmer umgesehen.“

      „Es tut mir leid, Herr Duchamp, aber für den Moment müssen wir die Wohnung Ihres Bruders versiegeln. Ich hoffe allerdings, dass dies nicht allzu lange dauert. Wir werden Sie aber auf jeden Fall verständigen, wenn es soweit ist. Ich wäre Ihnen daher dankbar, könnten Sie uns sobald als möglich mitteilen, wo Sie vorübergehend untergekommen sind. Wenn Sie wollen, bringt mein Kollege Sie zu einem Hotel, das hier ganz in der Nähe liegt.“

      „Das wäre nett, danke.“ Noch einmal lässt Claude seine Blicke durch das Zimmer wandern, Krüger hingegen gibt Mihailovic Anweisung, sich um ihn zu kümmern.

      „Noch eine Frage“, wendet sich Hauptkommissar Krüger erneut an Claude, „wusste Ihr Bruder eigentlich, dass Sie kommen?“

      „Ich weiß nicht. Ich habe zwar drei-, viermal versucht ihn telefonisch zu erreichen, er war jedoch nie zu Hause, lediglich sein Anrufbeantworter meldete sich. Ich habe ihm darauf mitgeteilt, dass ich heute kommen würde, ob er das Band aber auch abgehört hat, das weiß ich nicht, ich denke aber schon, schließlich gehen ... gingen täglich viele Anfragen bei ihm ein. Ich nehme also schon an, dass er das Band jeden Abend abgehört hat, er von meinem Kommen somit wusste."

      „Habt ihr das Band gecheckt?“

      „Klar, Chef. Nichts darauf.“ Mihailovics Stimme drückt Zufriedenheit darüber aus, dass er dieses Detail nicht übersehen hat.

      „Gar nichts?“

      „Nein.“

      „Hm. Okay. Kümmere dich bitte um Herrn Duchamp. Bring ihn zum Hotel, und falls er dort bleibt, lass dir gleich Zimmer- und Telefonnummer geben.“ Zu Claude: „Auf Wiedersehen. Wir halten Sie selbstverständlich auf dem Laufenden.“

      „Danke. Wann, glauben Sie, wird mein Bruder für die Bestattung freigegeben?“

      „Drei, vier Tage wird es schon noch dauern, denke ich. Wir werden Sie rechtzeitig informieren.“ Schon im Weggehen begriffen, dreht sich Krüger nochmals um und langt in die Brusttasche seines Jacketts: „Meine Karte mit meiner Nummer im Präsidium. Meine Privatnummer schreibe ich Ihnen auf die Rückseite.“ Sekunden später nimmt Claude das Kärtchen entgegen und steckt es in seine Westentasche. Im Gefolge der abziehenden Spurensicherer verlässt er an der Seite Mihailovics den Ort des Verbrechens, während sich der Vorsatz pochend in sein Gehirn meißelt: ‚Du bist nicht umsonst gestorben, Philipp, wir werden deinen Mörder finden, und ich werde unser Werk fortsetzen, allein, mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln. Das verspreche ich dir, mein Bruder!’

      Samstag, 12. April 1997, 15:10 Uhr

      Eine Nacht voller wirrer Träume, getrieben von Schreckensbildern und Visionen liegt hinter Claude, nunmehr die Klingel der Wohnung gegenüber derjenigen seines getöteten Bruders drückend. Im Hotel angekommen, war er tags zuvor zunächst in einen knapp zweistündigen, traumlosen Tiefschlaf gefallen, aus dem ihn wüstes Stimmengegröle und das donnernde Aufheulen in Machomanier hochgejagter Motorräder auffahren ließ. Stundenlanges grüblerisches Hin- und Her-Wälzen marterten sodann Körper und Geist, ehe er gegen fünf Uhr morgens einschlief. Der Stundenzeiger seines Weckers war schon über die Zwölf hinaus gewandert, als er ermattet, gerädert seinen Träumen entkam. Ständig hatte er Fratzen und Grimassen gesehen, die sich hämisch lachend um die Leiche seines Bruders scharten, ihm selber hingegen verwehrten, sich dem merkwürdig verrenkt daliegenden Leichnam zu nähern, der sich auf einmal aufrichtete und seinen ratlosen Bruder mit energisch umher fuchtelnden Armbewegungen zum Verschwinden aufforderte. Eine breite Blutspur hinter sich herziehend war jener letztendlich im Dunkel des Alptraums untergetaucht. Die daraufhin eingetretene geistige Leere beendete Claudes Martyrium schließlich.

      Zwar wusste er nicht so recht, was er tun sollte, doch spürte er, dass er etwas tun musste. Da er nicht in die von der Polizei versiegelte Wohnung seines Bruders konnte, beschloss er, sich bei den Wohnungsnachbarn umzuhören, möglicherweise erfuhr er dort mehr über den letzten Lebensabschnitt seines Bruders.

      ‚Schröder‘ steht auf dem Namensschild neben der Klingel, die er, da niemand öffnet, ein zweites Mal drückt, woraufhin hinter der Tür schlurfende Schritte hörbar werden. Im sachte geöffneten Spalt der durch eine Sicherheitskette gehaltenen Tür erscheint das schläfrige Gesicht eines etwa fünfundsechzigjährigen Mannes mit Halbglatze, dessen restlichen Haare hinten in kleingeringelten Locken über den Hemdkragen fallen, wie Claude feststellt, als sich jener - noch ehe er sich nach dem Anliegen des vor der Tür Stehenden zu erkundigen vermag - umdreht und etwas Unverständliches auf eine ebenso unverständlich gebliebene Frage aus dem Inneren der Wohnung zu antworten scheint.

      Noch während sich der offenbar aus seinem Mittagsschläfchen Gerissene wieder umwendet, kommt ihm ein noch immer leicht verschlafenes: „Ja, bitte?“ über die Lippen.

      Claude blickt in das freundlich wirkende Antlitz des altersgrauen Herren: „Entschuldigen Sie bitte, mein Name ist Claude Duchamp. Ich bin der Bruder von Philipp.“ Sein rechter Zeigefinger deutet in Richtung Wohnung seines Bruders. „Sicherlich haben Sie gehört, was passiert ist. Ich hätte Sie gerne etwas gefragt, bezüglich meines Bruders, verstehen Sie.“

      Während er - die Sicherheitskette lösend - die Tür öffnet und den rechten Arm einladend ausstreckt, hebt Herr Schröder seine Stimme: „Aber selbstverständlich, kommen Sie nur, Herr Duchamp. Schrecklich, was mit Ihrem Bruder geschehen ist. Wir, meine Frau und ich, wir haben gestern Abend davon erfahren, von Ellers … die wohnen im Parterre. Aber bitte, kommen Sie nur weiter.“ Die Wohnung ist vom Grundriss her ein Spiegelbild derjenigen Philipps, wie Claude registriert, auch wenn dies die völlig anders geartete Einrichtung und Möblierung auf den ersten Blick nicht ohne Weiteres erkennen lässt. Während er vom Wohnungsinhaber ins Wohnzimmer geleitet wird, ruft dieser nach seiner Frau: „Elisabeth, komm doch bitte mal.“ Claude Platz anbietend lässt sich Herr Schröder selbst diesem gegenüber bedächtig in dem anderen der beiden mit hohen Rückenlehnen ausgestatteten, grünlich gemusterten Sessel nieder.

      „Darf ich Ihnen zunächst mein Beileid aussprechen, Herr Duchamp.“ Claudes wortloses Kopfnicken veranlasst ihn fortzufahren: „Wir konnten es gar nicht glauben, als wir es hörten. Ihr Bruder war so ein netter, zuvorkommender Mensch. Wir haben uns zwar nicht so sehr oft gesehen, er war ja viel unterwegs, aber wenn er da war, dann hatte er immer ein paar Minuten Zeit für einen Plausch. Zwei-, dreimal war er sogar bei uns, zu einer Tasse Kaffee. Er war ein wirklich patenter Kerl. Ich begreife nicht, wer so etwas tun kann. Vor allem seine Verlobte tut mir leid!“

      „Seine … Verlobte?“ Ungläubig ob des Vernommenen gerät Claude für einen Moment aus der Fassung. „Aber...“ Weiter kommt er indes nicht.

      „Elisabeth, darf ich dir Herrn Duchamp vorstellen, den Bruder von unserem Nachbarn ... ehemaligen Nachbarn.“

      Claude, der aufgrund seiner Verwunderung über die von seinem Gesprächspartner angedeutete Liaison seines Bruders das Eintreten der älteren Dame nicht bemerkt hat, ergreift mehr automatisch als bewusst die ihm entgegengestreckte Hand, in der er trotz seiner Irritation aufrichtiges