beiden Schwarzweißserien, die kleinformatigere von beiden, links vom Eingang, bestehend aus fünf Aufnahmen, ist partiell handkoloriert, zur Steigerung und Akzentuierung eines jeden dieser eigenwilligen Porträts, so die Vermutung des in der Betrachtung und Analyse Versunkenen. Ebenso wie aus den Bildern auf der anderen Flurseite blickt ihn aus jeder dieser zirka vierzig Zentimeter breiten Aufnahmen ein Augenpaar an, herausgeschnitten aus den Gesichtern verschiedenster Menschen. Zwei Augen und ein Stück des Nasenbeins, das ist alles, und doch hinterlassen sie durch diese Komprimierung beim Betrachter einen nicht für möglich gehaltenen Eindruck. Die bildhafte Verdichtung, Herauslösung lässt Philipps These auf gar eindringliche Weise spürbar, erlebbar, nachvollziehbar werden. Ob in den mit überaus feinen Farbakzenten überarbeiteten Bildern oder in den reinen Schwarzweißaufnahmen auf der gegenüberliegenden Seite, in jedem einzelnen von ihnen steckt jener unverwechselbare, einmalige Ausdruck, der Charaktere formt.
Nicht nur als Beobachter fühlt sich Claude angesichts der Augenpaare rings um ihn herum, vielmehr fühlt er sich zusehends in die Rolle des Beobachteten versetzt, zur Selbstreflexion aufgefordert. Selbstbeobachtung, Selbstprüfung, sich selbst korrigieren, Fehler unumwunden eingestehen können, Maximen, an denen er und Philipp sich ausrichteten, es zumindest versuchten. Im stillen Zwiegespräch mit den eigenwilligen Aufnahmen seines Bruders werden diese gleichsam zu Mahnbildern an die eigene Person, Aufrufe zur kritischen Reflexion des Ichs, zur Zurücknahme des in westlichen Kulturkreisen weitverbreiteten überzogenen Egoismus, der zur Zersplitterung von auf lange Sicht überlebenswichtigen Gesellschaftsstrukturen geführt hat, Irritation und Kulturpessimismus, wenn nicht gar Kulturlosigkeit hinterlassend.
Ein von dem geheimnisvollen Licht Asiens durchflutetes Augenpaar umhüllt Claudes Gedanken mit der ihm so vertrauten Atmosphäre fernöstlicher Regionen, lässt ihn mental eintauchen in jene Welt, die ihn seit seiner Schulzeit fasziniert, ihm seither Halt gewährt, in der er sich wiederfindet, die durch zahlreiche Reisen ein Teil seines Ichs geworden ist, der dominanteste Teil seines Ichs. In diesen Ländern, bei diesen Menschen hat er sein Ego als das begreifen gelernt, was es wirklich ist, nämlich ein winziger Teil des Ganzen, hin und wieder ein mehr oder weniger bedeutsamer, insgesamt aber einer, der gleichberechtigt, gleichwertig neben unzähligen anderen steht, dabei nicht weniger als sie ist, aber auch nicht mehr. Seine Fähigkeiten und Möglichkeiten im Rahmen sozialer Gerechtigkeit einzuschätzen, sich zu bescheiden, seine Person nicht allzu wichtig zu nehmen, den anderen uneingeschränkt zu respektieren, in jeder Lebenslage, in jeder Lebensform, all diese Erfahrungen verdankt er zum größten Teil dem Umgang mit Menschen, hinter deren materieller Armut und Not oftmals mehr Würde und Menschlichkeit erlebbar waren als hinter den prunkvollen Fassaden und Roben genusssüchtiger Wohlstandsgesellschaften, deren gedankliche und lebensphilosophische Tiefenlosigkeit ihn in zunehmendem Maße erschreckt, Schlimmes befürchten lässt in Bezug auf das globale Miteinander.
Sind dies die Augen jener Schönen, deren Bilder lebensgroß im Wohnzimmer hängen, die mit ihrer Sinnlichkeit dem Wort ‚Eros‘ neuen Gehalt geben? Philipps Geliebte?
Daneben das Augenporträt eines energisch, entschlossen dreinblickenden Mannes, den Claude aufgrund der um die Augenwinkel spielenden Falten und sich andeutenden Tränensäcke auf fünfzig bis fünfundfünfzig schätzt. Von dicken Augenbrauen überwölbt, versinken die Augen in tiefen Höhlen, zwischen denen sich der scharfkantige Nasenansatz deutlich heraushebt. Die kleinen Pupillen vermitteln den Eindruck leicht entfachbarer Aggressivität. Philipp schien den scharfen Kontrast zwischen den beiden nebeneinander aufgehängten Bildern bewusst gewählt zu haben, um so den Ausdruck eines jeden von beiden noch zu verstärken. Hier das Harte, Rohe, Ich-Bezogene, dort das Weiche, Fügsame, Mitleidvolle - zwei Welten, festgehalten in zwei brillanten Aufnahmen, die die gegensätzlichen Pole menschlicher Natur für Claude auf bislang ungesehene Art und Weise sichtbar, spürbar machen. Ein fröstelnder Schauer läuft ihm angesichts dieser geballten Aussagekraft den Rücken hinunter.
Noch in anderen Paaren versuchte der Ermordete ganz offensichtlich Gegensätze menschlichen Lebens, menschlicher Erscheinungsformen einzufangen. Der tief zerfurchte Greis - oder ist es eine Frau? - hängt neben dem unschuldig in die Welt schauenden Neugeborenen, dessen Fragen an das ihm noch bevorstehende Leben der daneben hängende altersweise Blick zu beantworten scheint, oder es zumindest versucht. Am Ende des Ganges, neben der Wohnzimmertür, durch die die Sonne, gedämpft von den noch immer gesperrt heruntergelassenen Rouleaus, nachmittäglich warm Einlass in die Wohnung begehrt, der Versuch, eine Brücke zwischen Schwarz und Weiß zu schlagen: Ein Streifen fast kontrastlosen Schwarzes, in dem klares Augenweiß ebenso dunkle Pupillen einfängt, behauptet sich neben der fast genauso kontrastarmen Blässe der Aufnahme daneben, aus der zwei dunkle Pupillen hervorstechen.
Unwillkürlich tritt Claude in das vom Eingang aus rechts gelegene Zimmer, dessen Tür sperrangelweit offen steht. Spurensuche auch hier. Er erkennt in einem der beiden den Raum Inspizierenden den von Hauptkommissar Krüger Roland Genannten. Geradezu gleisend das Licht, das von keinem Rollladen am Einfall gehindert das Zimmer überflutet. Fotokoffer und -taschen, Studioleuchten, Reflexschirme und weiteres fotografisches Equipment füllen den vorderen Teil des Raumes, an der Wand rechts des Eingangs, durch deren Türdurchbruch Claude im Lichte einer Neonlampe das eigentliche Labor erkennt, Stahlschränke: Philipps Archiv. Unter dem Fenster auf der gegenüberliegenden Seite ein Leuchttisch mit danebengerücktem Arbeits- und Schneidetisch einschließlich darunter geschobenem Drehstuhl. Der ihm mit Namen bislang unbekannte der beiden im Raum sich aufhaltenden Kriminalbeamten verschwindet in Richtung Labor, wohin ihm Claude langsamen Schrittes folgt.
Der schwere schwarze Samtvorhang hinter der Tür, der vor unbeabsichtigtem Lichteinfall während der Laborarbeit zusätzlich Schutz bieten soll, ist zurückgeschoben. Gleich neben der Tür jene an einen Feuermelder erinnernde Warnleuchte, die den Eintretenden signalisieren soll, ob im Labor gearbeitet wird oder nicht. Claude kennt diese bereits aus Mailand, wo Philipp sie sich hatte installieren lassen, nachdem ihm Freunde ein paar Mal unbeabsichtigt die Früchte stundenlanger Arbeit zunichte gemacht hatten. ‚Erloschen dies Licht, wie dasjenige meines Bruders’, sinniert der ins Fotolabor Tretende.
Neonlicht erhellt den nach außen hermetisch abgedunkelten Raum, dessen Fenster Philipp durch einen schwarzen, lichtundurchlässigen Bretterverschlag verbaut hat. Ein großes Waschbecken aus Edelstahl und Regalbretter voller Fotochemikalien, ein fast zwei Meter langer Arbeitstisch, darauf Vergrößerer und Belichtungsmesser, der Schrank, in dem Philipp seine Fotopapiere aufzubewahren pflegte. ‚Philipps Hexenküche’ hatten sie sein Labor immer genannt, denn in ihm wurde der Ermordete zum Magier, zauberte er jene erstaunlichen, sich in den Köpfen der Betrachter festsetzenden Bilder hervor, die zu seinem Markenzeichen geworden waren, ohne dabei in Klischees abzudriften. Wohl eines seiner letzten Zauberkunststücke waren die im Flur hängenden Augenpaare, die Claude hier zum ersten Mal sieht, in der sein Bruder eine völlig neue Ausdrucksform, Aussageform gefunden hatte.
„Haben Sie schon irgendetwas gefunden?“, wendet er sich an die beiden Fahnder, deren Verneinung ihn nicht überrascht.
„Ist Ihnen mittlerweile etwas aufgefallen, selbst wenn Sie es für unwichtig, unbedeutend halten mögen. Uns hilft alles“, suchen die Befragten ihrerseits neue Erkenntnisse zu gewinnen.
Auch Claude bleibt lediglich eine negative Antwort, was ihn verstimmt, zu gerne möchte er helfen Licht in die für ihn völlig unverständliche Tat zu bringen, allerdings geht ihm jegliche Ahnung ab, wo er seine Nachforschungen ansetzen könnte. Beklommen von der Abgeschlossenheit des Raumes zieht es ihn wieder in Richtung Wohnzimmer, in dem zwischenzeitlich die Rouleaus hochgezogen worden sind, die wärmenden frühnachmittäglichen Sonnenstrahlen die beklemmende Szenerie in eine als unwahr, unpassend empfundene Geruhsamkeit hüllen. Müdigkeit überfällt Claude, ursächlich bedingt durch die Zeitverschiebung, ausgelöst von der so unvermutet anbrandenden sonnendurchfluteten Nachmittagsatmosphäre, in der von der Härte, Brutalität des Lebens abgeklärte Menschen emotionslos ihrem Job nachgehen. Erschöpft lässt er sich in einen der Sessel fallen, die zu viert um einen großen, runden Glastisch gruppiert sind. Sich zurücklehnend, dämpft der ihn überwältigende Wunsch nach Schlaf die Geräusche aus dem nebenan liegenden Schlafzimmer und vom Balkon, auf dem er den Kommissar und dessen Assistenten - sich in der geöffneten Glastür widerspiegelnd - hantieren sieht. Von unsichtbaren Kräften gelenkt, sinken die Augenlider nieder,