Mund ein leiser, spitzer Schrei. Sie fühlte, wie eine eisige, noch nie dagewesene Furcht in ihr hochkroch und von ihr Besitz nahm. Sie glaubte, ihr Blut würde in den Adern gefrieren, als sich die den gesamten Kristall durchdringende rote Glut blitzschnell in das Zentrum zurückzog und dort zu zwei feurigen, bösartigen Augen verdichtete, die sie höhnisch musterten.
Eine seltsame, teuflische Kraft ging von diesen Augen aus. Hypnotische Wellen der Beeinflussung drangen in ihren Körper. So sehr sie sich auch mit aller Kraft dagegen zu wehren suchte, sie kam mit ihrem Willen nicht gegen den brutalen Angriff an. Sie fühlte noch den Strom einer unbezwingbaren Müdigkeit, der alle Gedanken und jedes Bewusstsein in ihr fortschwemmte, ehe sie ihre Augen so lange verdrehte, bis nur noch das Weiße in ihnen zu sehen war. Wenige Sekunden später pendelte ihr Kopf bereits haltlos hin und her, bis er schließlich mit einem dumpfen Ton vorn auf der Tischplatte aufschlug.
Kaum hatte sie ihr Bewusstsein verloren, kam ein fingerdicker Strahl rötlichen Lichts aus der Kristallkugel geschossen und heftete sich an die rechte Schläfe des wehrlosen Opfers. Für einen kurzen Augenblick geschah nichts, doch dann liefen urplötzlich wellenförmige Zuckungen durch den schlaffen Körper, und gleichzeitig färbte sich die strahlende Verbindung tiefrot ein. Es sah aus wie ein roter Strom, der sich aus ihrem Kopf in den dämonischen Kristall ergoss und von ihm wie ein Schwamm aufgesogen wurde. Fast augenblicklich stellte sich eine Wirkung ein, denn die fürchterlichen Augen in der Kugel wurden größer und größer und gewannen zusehends an Leuchtkraft.
Lauren Pritchards Gesichtshaut hingegen verlor mehr und mehr ihre gesunde Farbe. Zuerst wurde sie blass, dann schmutzig grau, um schließlich den Ton weißen Marmors anzunehmen. Je weiter sich die Hautfarbe veränderte, um so mehr nahmen die konvulsivischen Zuckungen ihres Körpers ab, bis sie völlig verebbten. Immer noch strömte auf geheimnisvolle Weise ihre junge, unverbrauchte Lebenskraft in den Kristall, der sich in der teuflischen Zunahme seines rötlichen Glanzes wie eine aufblühende exotische Pflanze zu entfalten schien. Die satanische Macht war bestrebt, sich auch noch das letzte Quäntchen Lebensenergie einzuverleiben, als sie gestört wurde.
Plötzlich war das Klappern eines Schlüsselbundes zu hören. Ein Schlüssel wurde ins Schloss gesteckt und gleich darauf die Wohnungstür geöffnet.
Kapitel 5
M
argret Pritchard, Laurens Mutter, war nach Hause gekommen. Irgendwie hatte sie sich bei ihrer Freundin an diesem Abend nicht so recht wohl gefühlt und ihren Besuch vorzeitig beendet. Eigentlich konnte sie sich selbst nicht erklären, was sie unbedingt nach Hause getrieben hatte, aber in der kurzen Zeit, die sie mit ihrer Freundin zusammen war, hatte sie ein seltsames, bedrückendes Gefühl gequält, das zunehmend stärker geworden war. Sie hatte es ihr auch gar nicht erklären können, war einfach aufgestanden, hatte ein paar Entschuldigungen gemurmelt und ihre Freundin sprachlos, mit offenem Mund, verlassen.
Jetzt, wo sie im Flur ihrer Wohnung stand, schalt sie sich eine dumme Kuh wegen ihrer dummen Handlungsweise. Sie war sicher, ihre Freundin würde sie so bald nicht wieder zu sich einladen.
»Lauren, wo steckst du?«, rief sie halblaut nach ihrer Tochter. Sie hatte ihren Mantel an der Garderobe gesehen. »Schläfst du schon, Schatz?«
Sie schloss die Wohnungstür hinter sich und ging mit leisen Schritten auf die Tür zu, die zum Schlafzimmer ihrer Tochter führte. Behutsam drückte sie die Türklinke nach unten, öffnete langsam und blickte in den Raum.
Das Zimmer wurde durch eine kleine Leuchte über dem Frisiertisch nur spärlich erhellt. Auf dem Hocker davor sah sie die zusammengesunkene, nach vorn gebeugte Gestalt ihrer Tochter. Ihr Kopf und der halbe Oberkörper lagen auf der Glasplatte zwischen all den zahlreichen Flakons und kleinen Cremetiegelchen.
»Lauren!«, stieß sie erschrocken aus.
Da war es wieder, dieses dunkle Gefühl, welches sie hatte heimkehren lassen. Ihre Tochter reagierte nicht. Eine tiefe Unruhe bemächtigte sich ihrer als sie nähertrat.
»Schatz! Liebling! Was ist mit dir?«, fragte sie mit zitternder Stimme.
Forschend beugte sie sich zum Kopf ihrer Tochter hinunter, und im gleichen Moment rieselte ein Schauer des Entsetzens über ihren Körper. Die Augen ihrer Tochter waren weit aufgerissen. In ihnen zeigte sich kein Ausdruck von Leben mehr. Reflexartig griff sie nach Laurens Hand und fühlte den Puls. Sie musste sich konzentrieren, um ihn überhaupt wahrnehmen zu können. Er war derart schwach und zögernd, als ob er jedem Augenblick vollends versagen würde.
Ein oder zwei Sekunden war sie wie erstarrt, doch dann setzte sich der energische, zielgerichtete Teil ihres Wesens durch. Mit hastigen Schritten ging sie zum Telefon und rief den ›Paramedic‹ – den Rettungswagen.
Nur eine gute Stunde später lag Lauren Pritchard bereits in der Intensivstation des ›Royal Edinburgh Hospitals‹, im Bezirk ›Blackford‹. Das ›Royal‹ war wahrhaftig keine architektonische Glanzleistung, und nur die Ehrfurcht vor dem Hauch medizinischer Geschichte, der durch die Hallen wehte, bewahrte den veralteten Bau vor dem Abbruch. Die zahlreichen größeren Gebäude des Krankenhauskomplexes waren Musterbeispiele neugotischen Baustils. In seltsamen Winkeln gab es verschachtelte Mauern aus Abermillionen rotbrauner Ziegelsteine, hohe Fenster und flache Dächer in eintönigem Nebeneinander. Diese Trakte waren angefügt worden, wie es gerade kam, entsprechend dem jeweiligen Bedarf an Betten und den gerade zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln. Alles in allem bot sich dem Blick ein unordentlich wirkendes Nebeneinander hässlicher Steinklötze.
Sie hatte bereits eine erste Bluttransfusion hinter sich. Kurz nach dieser Maßnahme betrat der aufnehmende Arzt das Wartezimmer. Margret Pritchard sprang von ihrem Stuhl auf und lief ihm entgegen. Sorgenvoll und mit einer Spur von Angst sah sie ihn an.
»Wie geht es ihr?«, sprudelte es sofort aus ihr heraus.
Der Mediziner winkte beruhigend ab.
»Wir haben es gerade noch geschafft, Mrs. Pritchard. Sie hat großen Glück gehabt!«, erklärte er ihr mit ruhiger Stimme. »Nur wenige Minuten später, und Ihre Tochter wäre nicht mehr zu retten gewesen. Auch wenn ich zu diesem Zeitpunkt noch keine exakte Prognose abgeben kann, denke ich, dass sie in einigen Tagen, wenn wir sie gründlichst untersucht haben, wieder nach Hause kann.«
»Gott sei Dank!« Sie entspannte sich ein wenig.
»Was ich sonderbar finde und einfach nicht begreifen kann, ist, dass Ihre Tochter kaum noch Blut in ihrem Körper hatte, obgleich keinerlei Verletzung vorliegt«, erklärte der Medikus. Nachdenklich rieb er sich das Kinn. »Ich habe ein paar meiner Kollegen hinzugezogen, aber auch sie haben keine Erklärung dafür. Wir stehen vor einem Rätsel. In meiner Laufbahn ist mir so etwas noch nie untergekommen. Im Grunde handelt es sich um eine klassische Hypovolämie, aber es gibt absolut keinen Anhaltspunkt für Verletzungen, die einen solchen Blutverlust herbeigeführt hätten. Innere Blutungen waren schnell auszuschließen.« Er zuckte ratlos mit den Schultern, schüttelte gleichzeitig den Kopf und fügte resignierend hinzu: »Ich werde einen genauen Bericht anfertigen und ihn unseren Spezialisten vorlegen. Vielleicht bekommen wir dann eine plausible Aussage.«
Nach einem hastigen Blick auf seine Armbanduhr, nickte er ihr noch einmal freundlich zu und ging, ohne eine Antwort abzuwarten, mit eiligen Schritten aus dem Zimmer. Im Flur drehte er sich noch einmal zu ihr herum.
»Entschuldigen Sie, bitte«, sagte er lächelnd. »Wenn Sie wollen, Sie können natürlich zu ihr.«
»Danke.«
Sie suchte das Zimmer auf, in dem man ihre Tochter untergebracht hatte. Nach all der Aufregung herrschte jetzt wieder eine gedämpfte Atmosphäre auf der Intensivstation, und auch die Beleuchtung war auf Dämmerlicht heruntergedreht worden. Nachdem