Die üblichen Geräusche wie Stimmen und Schritte wurden von der schalldämmenden Decke weitgehend geschluckt. Dafür vernahm sie von überall her mechanische und elektronische Laute, wobei das rhythmische Piepsen der Herzmonitore und das Zischen der Respiratoren, der Beatmungsgeräte, alles übertönte.
Mit einem raschen Blick stellte sie fest, dass niemand an Laurens Bett stand. Sie lag in einem Bett mit Seitengitter in einem abgetrennten Alkoven. Über ihr erhoben sich Ständer mit Infusionsflaschen und einem Gewirr herabhängender Schläuche. Dass niemand bei ihrer Tochter war, ließ sie vermuten, dass sich Laurens Zustand stabilisiert hatte und ihr Kreislauf wieder normal funktionierte. Die Krise war überstanden, und doch war ihre Tochter immer noch in einer dumpfen Ewigkeit gefangen.
Wie unter Hypnose trat sie an ihr Krankenlager und ergriff vorsichtig ihr Handgelenk. Sie bemerkte die porzellanartige Blässe der leblos hängenden Hand, die sie liebevoll streichelte, während sie den Versuch unternahm, sich trotz der verwirrenden Eindrücke einen Überblick zu verschaffen. Ratlos betrachtete sie die fluoreszierenden Punkte, die über die Monitore rasten. Ernüchtern stellte sie fest, wie wenig sie mit alldem hier anfangen konnte. Die Vielzahl der Instrumente erschien ihr wie ein undurchdringliches Labyrinth. Ein Gefühl von Hilflosigkeit über kam sie.
»Alles wird gut, Schatz«, murmelte sie leise, in der Hoffnung Lauren würde sie hören.
Kapitel 6
D
r. Robert McIntire hatte sich einen Tee aufgebrüht. Im Gegensatz zum europäischen Festland, besaßen britische Teebeutel nur sehr selten eine angeheftete oder verknotete Schnur mit einem Etikett, und so verwendete er eine spezielle Greifzange, mit der den Filterbeutel nicht nur aus dem Glas entfernen, sondern zugleich auch ausdrücken konnte. Er betrachtete sich als ein passionierter Teetrinker. Den Beutel bereits in eingeschenktes heißes Wasser zu tauchen, kam für ihn nicht in Frage. Eine derartige Vorgehensweise, so hatte er Kollegen schon des Öfteren wissen lassen, sei eine echte Todsünde. Er bevorzugte die traditionelle Mischung eines ›Earl Grey Smoky‹, mit dem speziellen rauchigen Beigeschmack und dem typischen Aroma der Bergamotte-Frucht, die er immer ein wenig länger ziehen ließ. Auf keinen Fall durfte der Tee gesüßt werden und ein Schuss Milch war ohnehin tabu, denn der überlagerte direkt den Zitrusgeschmack.
Entspannt nippte er an dem Glas. Der Tee tat ihm gut, jetzt, nachdem er den letzten Satz seines schriftlichen Berichts über ihren Aufenthalt in Durness getippt und den Datensatz gespeichert hatte. Das mühselige Getippe mit zwei Fingern nach dem Geier-Suchsystem war für ihn wieder einmal ein echtes Unterfangen gewesen. Nach solchen Aktionen ärgerte er sich immer ein wenig darüber, in der Schule nicht am Schreibmaschinenunterricht teilgenommen zu haben. Sicher, er hatte es mal mit einem Online-Kurs versucht, aber schnell wieder aufgegeben. Nun hoffte er auf eine schnelle Genesung von Lauren Pritchard, damit diese wieder ihre Arbeit aufnehmen konnte, denn er brauchte sie dringend für die Katalogisierungstätigkeit.
Leise fluchte er vor sich hin, während er seinen Blick geduldig aus dem Fenster wandern ließ, wo es wenig gab, an dem dieser hängen bleiben konnte – abgesehen vom Uni-Campus. Augenblicklich sah es ziemlich ausgestorben aus. Rundherum war kaum eine Aktivität wahrzunehmen. Es war ja nicht nur Lauren, die fehlte, auch Miss Hogard war ausgefallen – mit einer Erkältung, wie er erfahren hatte.
Warum muss sie ausgerechnet jetzt ihre Auszeit nehmen?, dachte er. Wie oft habe ich Lamondt damit schon in den Ohren gelegen, dass eine Sekretärin am Institut zu wenig ist. Jetzt haben wir die Bescherung.
McIntire ging zu seinem Laptop, zog die Datei auf einen Datenstick und steckte diesen in die Hosentasche. Dann schnappte er sich seine Zigaretten und warf seine Jacke über, um die Raucherecke vor dem Gebäude aufzusuchen. Dort zündete er sich einen der Glimmstängel an und sog genussvoll den Rauch in seine Lungen.
Mittlerweile war es draußen dunkel geworden. Nur noch schwach drangen die Geräusche des zurückflutenden Berufsverkehrs von der nahe gelegenen Straße zu ihm herüber. Nachdem er aufgeraucht hatte, drückte er seine Kippe in den fest einbetonierten metallenen Aschenbecher, rechts neben dem Eingang, und ging zurück in das Büro.
Aus irgendeinem Grund musste er an Lauren und ihre rätselhafte Erkrankung denken. Am Morgen hatte ihn ihre Mutter aufgesucht und ihm aufgeregt erzählt, was vorgefallen war. Er hatte ihr aufmerksam zugehört und versucht ein wenig Trost zuzusprechen, wenngleich das etwas war, was ihm nicht besonders lag. Jedenfalls konnte auch er sich nicht erinnern, jemals von einer solchen Krankheit gehört zu haben.
Na ja, dachte er, was weiß ich schon von Medizin. Die Ärzte werden sich darüber gehörig den Kopf zerbrechen und schon herausfinden was Lauren fehlt.
Was ihn besonders verwundert hatte war der Umstand, dass Mrs. Pritchard ihm auch die von ihm in Durness gefundene Kristallkugel zurückgebracht hatte. Sie hatte sie, wie sie ihm sagte, auf dem Frisiertisch ihrer Tochter gefunden und ihn gefragt, ob der Gegenstand dem Institut gehören würde.
Warum nur, fragte sich McIntire kopfschüttelnd, hat Lauren das Ding bloß mit nach Hause genommen? Ist es denkbar, dass der Kristall und seine geheimnisvolle Herkunft ihr Interesse so stark geweckt hat, dass sie ihn mitnahm, um ihn in Muße zu studieren und nachdenken zu können? Er nickte. Es muss so sein. Sie hätte den seltsamen Fund sonst ganz sicher nicht mit nach Hause genommen.
Nachdenklich saß er an seinem Arbeitsplatz und starrte auf den Kristall, dessen Oberfläche im Licht der Schreibtischlampe irisierend funkelte. Sinnierend fragte er sich, was es mit dieser Kugel wohl für eine Bewandtnis haben mochte. Er stützte seinen Kopf auf die Hände, den Blick auf den Fund gerichtet.
Hast du vor tausenden von Jahren vielleicht einem Seher gedient, der mit dir die Zukunft enträtseln konnte? Oder warst du womöglich ein notwendiger Gegenstand bei Beschwörungszeremonien?
»Wofür nur, hat mich dich benutzt?«, murmelte er dann halblaut in Richtung der Kugel vor sich hin. »Ich bin sicher, dass du irgendeine magische Bedeutung gehabt hast.« Entspannt lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Und das ich dich in einem sonst völlig leeren Grab gefunden habe ... dafür muss es einen speziellen Beweggrund gegeben haben. Aber welchen?«
Gedankenvoll griff er nach der Kristallkugel. Kurz bevor sie seine Hände umschlossen, fühlte er einen eisigen Schauder durch seinen Körper fahren, und sein Unterbewusstsein verkrampfte sich in der Ahnung einer drohenden Gefahr. Automatisch setzte er den Kristall wieder ab und schüttelte diese Regung unwillig von sich ab. Doch dann nahm er sich zusammen, hob die Kugel erneut hoch, stellte sie direkt vor sich auf die Mitte des Schreibtisches und beugte sich darüber, um sie aufmerksam zu betrachten.
Es war das schwache Glühen im Mittelpunkt des Kristalls, das ihn besonders interessierte, und für das selbst Prof. Lamondt noch keine plausible Erklärung gefunden hatte.
»Du kannst unmöglich mineralischen Ursprungs sein«, stellte er leise fest. »Wenn ich nur eine Ahnung hätte, woraus man dich gemacht hat.«
McIntire beugte sich tiefer über die glatte Kugel.
Und dann passierte es!
Jäh und zielgerichtet erfolgte der Angriff der unheimlichen Macht und mit einer unwiderstehlichen Gewalt. Wie gebannt starrte der Archäologe in das Innere des Kristalls. Plötzlich flammten im Zentrum rotleuchtende Augen auf, die ihn mit grausamer Freude musterten. Eine gefühllose unbarmherzige Gesinnung, ohne jede Empathie, sprach aus ihnen.
McIntire glaubte an eine Sinnestäuschung und wollte seinen Blick abwenden. Erschrocken stellte er fest, dass er dazu nicht in der Lage war. Wie fixiert starrte er die Augen an. Auch sein Versuch aufzustehen, um sich von dem dämonischen Anblick zu lösen, schlug fehl. Er war nicht in der Lage sich auch nur einen Zoll zu bewegen und hatte das Gefühl, als wäre er mit eisernen Ketten an seinem Sessel angeschmiedet. Panik kam in ihm auf, und die schrecklichen Augen taten dazu ihr