Adrienne Träger

Kommissar Handerson - Sammelband


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auszugeben und konnte mehr von dem Geld, das sie verdienen würde, sparen, um es an ihre Familie in Kontuba zu schicken.

      Es hatte alles auch exakt so funktioniert. Nachdem sie ihren Koffer abgeholt hatte, war sie ohne weitere Probleme zum Ausgang des Flughafens gelangt und dort wartete ein Mann mit einem Schild, auf dem ihr Name stand. Das musste wohl dieser Michel sein. Sie ging zu ihm hin und sagte, wer sie sei. Er fragte sie, ob sie sich ausweisen könne. Sie gab ihm den Pass. Er sah kurz hinein und steckte ihn dann in seine Hemdtasche. Bei ihm sei der Pass besser aufgehoben, erklärte er ihr. Er würde ihn in einem Schließfach deponieren, dann könne er nicht verloren gehen. Das klang für sie ganz logisch. Außerdem machte sie sich auch nicht wirklich viel aus dem Pass. So ein Dokument hatte sie vorher nie besessen und war auch nie danach gefragt worden. Also würde sie vermutlich auch jetzt nie einer danach fragen. Michel nahm ihr ihren Koffer ab und brachte sie zu einem Auto.

      Die Autofahrt dauerte etwas über eine halbe Stunde. Carlshaven war so anders als Kontuba. So sauber und so schön. Sie hätte nie zu träumen gewagt, einmal in einer solch schönen Stadt leben zu dürfen. Dann hielten sie vor dem größten und schönsten Haus, das sie je gesehen hatte. Dieses Ehepaar, für das sie arbeiten sollte, musste wirklich sehr reich sein, dass sie sich eine solche Residenz leisten konnten. Michel öffnete ihr die Autotür und bat sie, ihm zu folgen.

      Carlshaven, Polizeirevier, 10. September 2014

      „Und? Was hat Weidmann gesagt?“, fragte Anna ihre Kollegen, die gerade von der Gerichtsmedizin zurückkehrten.

      „Sie wurde möglicherweise brutal vergewaltigt. Dabei stand sie vermutlich auch unter dem Einfluss von Betäubungsmitteln, aber als sie sich von der Brücke stürzte, muss die betäubende Wirkung kaum noch spürbar gewesen sein. Und Weidmann hat an ihren Händen Hautschäden festgestellt, die darauf hindeuten, dass sie entweder sehr viel oder mit sehr aggressiven Mitteln geputzt hat. Hier hast du den Bericht“, antwortete Handerson.

      „Mh. Aber wirklich weiter sind wir jetzt immer noch nicht, oder? Hat er euch ein brauchbares Foto gegeben?“

      „Ja“, antwortete Peter. „Aber bevor wir eine Fahndung einleiten, sollten wir noch einmal die Vermisstenmeldungen durchgehen, ob eine junge Frau um die zwanzig mit afrikanischen Wurzeln irgendwo als vermisst gemeldet ist.“

      „Wie schön politisch korrekt du das formulierst“, stichelte Handerson. „‚Junge Frau mit afrikanischen Wurzeln‘.“

      „Na, Afrikanerin kann ich ja wohl schlecht sagen. Wer weiß, vielleicht ist sie ja hier geboren. Denk doch mal daran, was die anhatte. Das waren richtig teure Sachen.“

      „Ja, ja, hast ja recht.“

      Anna rief die Vermisstendatenbank im Computer auf und gab die Daten ein.

      „Nein, laut Datenbank ist keine junge Frau als vermisst gemeldet, auf die diese Beschreibung passt. Sehr schade, da werden wir wohl oder übel kreativ werden müssen, um die Identität unserer großen Unbekannten klären zu können.“

      „Tja, dann werdet ihr mal kreativ“, meinte Peter. „Ich muss mit Hektor zum Training.“

      „Das tut dir jetzt vermutlich auch gar nicht leid“, grummelte Handerson.

      „In der Tat nicht. Ihr könnt mir ja dann morgen berichten, was ihr herausgefunden habt. Viel Spaß noch.“

      Peter griff seine Jacke und die Autoschlüssel und ging. Eigentlich war es nicht üblich, dass ein Polizeibeamter in seiner Position einen Diensthund führte, aber es war immer sein großer Traum gewesen, einen Spürhund zu haben. Seine Frau war lange Zeit Rettungshundeführerin gewesen und es hatte ihn immer fasziniert, was die Tiere leisteten, aber ein Rettungshund kam für ihn nicht in Frage. Er hatte so lange auf die Revierleiterin eingeredet, bis sie nachgegeben hatte. Den Hund durfte er sich sogar selber aussuchen. Er hatte sich für einen Groenendael entschieden. Die tiefschwarzen belgischen Schäferhunde hatten es ihm schon lange angetan. Hektor war jetzt sechs Monate alt und musste noch viel lernen. Wenn Peter mit Handerson oder Anna unterwegs war, dann passte derzeit noch seine Frau auf das Tier auf. Helga arbeitete als Sekretärin bei der Polizei und hatte ihr Büro auf demselben Gang wie die Mordkommission. Peter fand dieses Arrangement äußerst praktisch. Er holte Hektor ab und verschwand danach mit ihm auf den Trainingsplatz, wo er, wie jeder gute Polizeihund, zunächst als Schutzhund ausgebildet wurde. Später sollte Hektor noch eine Ausbildung zum Leichenspürhund bekommen – was auch sonst, wenn Herrchen bei der Mordkommission arbeitete?

      „Oh, da fällt mir ein, ich habe gleich noch ein Meeting mit den anderen Abteilungsleitern. Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, aber vermutlich lange, da wir den Haushaltsplan für nächstes Jahr diskutieren müssen. Du wirst also alleine weiter machen müssen“, sagte Handerson und setzte einen Blick auf, von dem er dachte, dass er tiefstes Mitgefühl ausdrückte.

      „Na, das war ja wieder mal klar…“

      ~

      Eine Stunde später war Anna alleine im Büro. Sie war immer noch wenig begeistert davon, dass die Herren der Schöpfung sie mit der Arbeit einfach so alleine gelassen hatten. Nachdem Handerson gegangen war, hatte sie sich erst mal einen Kaffee und ein Stück Kuchen aus der Cafeteria geholt. Kaffee und Zucker halfen ihr immer beim Denken. Jetzt saß sie wieder am Computer. Auch eine nochmalige Datenbankabfrage hatte sie nicht weitergebracht. Sie hatte zur Sicherheit noch den Kollegen bei der Vermisstenstelle angerufen und gefragt, ob er vielleicht in der Zwischenzeit eine Meldung hereinbekommen habe. Aber auch das war nicht der Fall. Der Kollege dort war aber sehr hilfsbereit und versprach, sich umgehend bei ihr zu melden, wenn eine Meldung hereinkäme, die auf die unbekannte Tote passte.

      Nun überlegte sie, was sie tun könnte. Sie schaute sich noch einmal die Fotos an und da kam ihr eine Idee. Grit von der IT-Abteilung hatte ihr neulich beim Mittagessen erzählt, dass sie ein Programm geschrieben hatte, das das Gesicht auf einem eingescannten Foto mit Fotos verglich, die es im Internet fand. Es hatte irgendetwas mit Suchmaschinen und Algorithmen zu tun. So richtig hatte Anna es nicht verstanden, zumal sie von solchen Dingen eh wenig Ahnung hatte. Grit hatte das Programm geschrieben, weil ihre Freundin wissen wollte, ob es irgendwo peinliche Partyfotos von ihr im Netz gab. Die üblichen Suchmaschinen halfen da nicht weiter, da sie nur Fotos ausspuckten, die irgendwie mit dem Namen der Person oder dem Ort verknüpft waren. Wer erinnerte sich schon an alle peinlichen Partys, auf denen er einmal war? Nun gut, um der Freundin zu helfen, hatte Grit also dieses Programm geschrieben und die Freundin hatte wohl tatsächlich Fotos von sich gefunden, die sie vorher über die Eingabe von Stichwörtern in die Suchmaschine nicht angezeigt bekommen hatte. Vielleicht war das ja die Lösung für Annas Problem. Die Unbekannte war jung und heutzutage waren doch alle irgendwo im Internet zu finden. Einen Versuch war es zumindest wert. Sie griff zum Telefon.

      „Polizei Carlshaven, IT-Abteilung. Grit Seidler am Apparat.“

      „Hallo, Grit, hier ist Anna. Sag mal, hast du noch dieses Programm, von dem du mir neulich erzählt hast?“

      „Ja, wieso?“

      „Na ja, ich habe hier so einen Fall und komme nicht weiter. Vielleicht hilft mir die Software ja herauszufinden, wer die Frau ist.“

      „Ich habe gleich Dienstschluss, dann bringe ich es dir vorbei. Du bist doch im Büro, oder?“

      „Ja, bin ich, bis gleich.“

      Zwanzig Minuten später stand Grit mit einem USB-Stick in Annas Büro.

      „Hier ist es drauf.“

      „Und wie funktioniert das?“

      „Ganz einfach. Zunächst musst du es erst mal auf dem Rechner installieren. Dann scannst du das Foto ein, stellst sicher, dass du mit dem Internet verbunden bist, und klickst auf „OK“. Den Rest macht das Programm von alleine. Es erkennt bestimmte Parameter im Gesicht einer Person und gleicht diese mit Fotos ab, die es im Internet findet. Wenn es etwas findet, zeigt es dir das Ergebnis in einem Fenster an. Da brauchst du dann nur noch auf das Bild klicken und gelangst so zu der Webseite, auf der das Bild drauf ist. Es dauert etwa eine Dreiviertelstunde, bis der Suchlauf beendet ist.“