Adrienne Träger

Kommissar Handerson - Sammelband


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der Kühleinheit und zog die Leiche hervor. Er deckte sanft das Gesicht der wie schlafend aussehenden jungen Frau auf. Handerson dachte, dass es gut war, dass der Rest unter dem Leichentuch verborgen blieb. Die Mitarbeiter der Gerichtsmedizin hatten die abgetrennten Gliedmaßen so hingelegt, dass sie unter dem Tuch so wirkten, als sei der Körper ganz. Es war schwer genug für Angehörige, eine Leiche zu identifizieren, aber fehlten Teile, das wusste Handerson aus Erfahrung, wurde es für die Angehörigen nur umso schwerer.

      Maria warf einen kurzen Blick auf die Leiche und schmiss sich David dann weinend in die Arme. Sie schluchzte etwas in seine breite Schulter. Handerson wusste genau, was diese Reaktion bedeutete. Er hatte sie in seiner Karriere schon oft genug miterlebt, aber er musste trotzdem fragen.

      „Es ist ihre Schwester, nicht wahr?“, fragte Handerson.

      „Ja“, antwortete David.

      „Was hat sie gesagt?“

      „‚Ich habe es gewusst. Ich habe es geahnt‘“, übersetzte David.

      „Kommen Sie. Wir müssen hier nicht länger herumstehen, als nötig. Tschüss, Weidmann.“

      Sie verabschiedeten sich von dem sonst so grummeligen Gerichtsmediziner und brachten die schluchzende Maria nach draußen. Handerson führte die beiden in den Park des gerichtsmedizinischen Instituts, wo sie sich auf eine Bank setzten und Maria eine Weile leise vor sich hin weinte. Handerson sah sich um. Es war irgendwie pervers. Dieser sonnige Herbsttag und dieser gepflegte Park auf der einen Seite und die Leichen im Keller des schönen, weißen Hauses auf der anderen.

      Er war tief in den Gedanken versunken, wie nah doch Leben und Tod beieinander lagen, als Maria irgendetwas sagte. Er schreckte hoch und sah David fragend an.

      „Was sagt sie?“

      „Sie möchte wissen, was mit ihrer Schwester passiert ist. Dass sie tot sei, hatte sie sich gedacht, aber sie hatte angenommen, dass irgendjemand Nana umgebracht hätte. Sie sagt, Nana hätte niemals Selbstmord begangen.“

      „Wieso nicht?“

      „Die Menschen in Mabunte sind sehr arm. Was man ihnen aber nicht nehmen kann, ist ihr Glauben. Viele Menschen in Mabunte sind Anhänger einer sehr konservativen Form des Christentums. Die Familie Makame auch. Die Selbsttötung ist verpönt und ein sehr gläubiger Mensch, wie es Nana anscheinend war, würde sich nicht selber umbringen“, erklärte David.

      „Aber trotzdem hat sie es getan“, sagte Handerson. „Es gibt einen Augenzeugen, der sie hat springen sehen. Es war niemand auf der Eisenbahnbrücke, der sie hätte stoßen können.“

      David übersetzte Maria Handersons Worte. Sie senkte den Blick Richtung Boden und schüttelte entschieden den Kopf. Dann schaute sie Handerson in die Augen und sagte etwas.

      „‚Dann muss ihr hier etwas wirklich Schreckliches widerfahren sein, das sie dazu getrieben hat, diesen Weg zu wählen. Ich will wissen, was es ist‘“, übersetzte David.

      „Eine Frage muss ich Ihnen noch stellen, Maria. Hat Ihre Schwester jemals mit Drogen zu tun gehabt?“

      Nachdem David die Frage übersetzt hatte, sah Maria Handerson entsetzt an. Sie schüttelte vehement den Kopf und sagte etwas.

      „‚Nein, wie kommen Sie darauf?‘“, übersetzte David.

      „Weil man ein Betäubungsmittel in ihrem Blut gefunden hat.“

      David übersetzte und hörte sich Marias Antwort an.

      „‚Nana war immer der Ansicht, Drogen seien Teufelszeug. Sie war ein anständiges Mädchen. Nie hätte sie so etwas freiwillig genommen. Was auch immer passiert ist, man muss sie damit regelrecht in den Tod getrieben haben‘.“

      Carlshaven, 06. Dezember 2013

      Nana hatte einen Blick in den Kalender geworfen. Es war der sechste Dezember – Nikolaustag. Das war immer einer ihrer Lieblingstage gewesen. In Mabunte war Nikolaus ein offizieller Feiertag und fast wichtiger als Weihnachten. Das Nikolausfest wurde überall groß gefeiert. Und es sah so aus, als ob es heute auch ein Festtag werden würde.

      Sie hatte heute zum ersten Mal seit sie hier angekommen war, das Haus verlassen dürfen. Der Monsieur hatte ihr morgens erklärt, dass sie abends alle auf eine Party gehen würden und sie, Nana, etwas Schickes zum Anziehen bräuchte. Sie würden daher später gemeinsam einkaufen gehen. Nana freute sich riesig, als sie das hörte. In den letzten Wochen hatte sie nicht wirklich viel anzuziehen gehabt. Nur das bisschen, das sie aus Mabunte mitgebracht hatte. Und die meisten dieser Sachen waren mittlerweile an einigen Stellen fadenscheinig, weil sie den ganzen Tag arbeitete.

      Mittags waren sie dann in die Stadt gefahren. Es war das erste Mal, dass sie dieses Carlshaven wirklich sah. Eine schöne Stadt. Die Menschen hier mussten wirklich reich sein. Der Monsieur ging zuerst mit ihr in ein Geschäft, wo er mit der Verkäuferin in Deutsch sprach. Sie holte einige Kleider, die zu den schönsten zählten, die Nana je gesehen hatte. Sie entschied sich für ein schwarz-gelbes Abendkleid, das an ihr wirklich zauberhaft aussah. Sie bekam auch ein Paar passende schwarze Schuhe mit hohen Absätzen dazu, an die sie sich erst noch gewöhnen musste, denn sie war noch nie auf hohen Absätzen gelaufen. Sie fühlte sich wie Aschenputtel auf dem Weg zum Prinzenball.

      Anschließend ging der Monsieur noch mit ihr zu einem Miederwarengeschäft. In so einem Laden, der nur Strümpfe und Unterwäsche verkaufte, war sie noch nie gewesen. Die Verkäuferin hatte genau den richtigen Blick, und die Sachen passten auf Anhieb. Allerdings war es ihr etwas peinlich, als der Monsieur den Vorhang zur Umkleidekabine zur Seite zog und sie so in der Unterwäsche begaffte. Ihr lief wieder der Schauer über den Rücken, den sie immer empfand, wenn sie an die vergangenen Nächte dachte, an seinen heißen Atem an ihrem Ohr, sein Gestöhne und Gegrunze, wenn er in sie eindrang und sich in ihr bewegte. Aber heute würde alles anders sein. Das spürte sie. Heute war ein ganz besonderer Tag.

      Carlshaven, Handersons Wohnung, 22. September 2014, abends

      Was Maria gesagt hatte, ging Handerson nicht mehr aus dem Kopf. Geistesabwesend kraulte er seine zwei Norwegischen Waldkatzen.

      „Natürlich hat sie irgendwo recht“, sagte er zu Morse und Poirot, die schnurrend auf dem Sofa neben ihm lagen und die Streicheleinheiten sichtlich genossen.

      „Man springt nicht einfach so von einer Brücke. Es muss einen Grund geben. Was ist dieser Nana nur passiert, dass sie das als einzigen Ausweg sah?“

      Morse sah ihn durchdringend an und miaute.

      „Ja, du hast recht. Wir müssen herausfinden, wo Nana im letzten Jahr war. Nur so finden wir eine Antwort.“

      Er stand auf und ging zur Garderobe. Die Katzen folgten ihm und sahen ihm interessiert zu. David hatte ihm seine Karte gegeben und er meinte, sie in sein Portemonnaie gesteckt zu haben. Ah, ja, da war sie. Handerson nahm das Handteil des schnurlosen Telefons mit zum Sofa und rief David an.

      „Kame.“

      „Handerson hier. David, könnte ich Sie treffen? Ich möchte gerne mehr über Mabunte und diese Mädchenhändler erfahren. Es hilft mir vielleicht bei den Ermittlungen und möglicherweise verstehe ich dann auch, was mit dieser jungen Frau geschehen ist.“

      „Ja, natürlich. Kennen Sie das kleine Kaffeehaus in der Fischerstraße?“

      „Ja, das kenne ich sehr gut.“

      „In einer halben Stunde?“

      „Bis dann.“

      ~

      Eine halbe Stunde später betrat Handerson das kleine Kaffeehaus. David saß in einer Ecke und winkte ihm zu. Er ging zu ihm.

      „Wo ist Maria?“

      „Sie ist bei mir zu Hause. Meine Schwester kümmert sich um sie.“

      „Wie lange wird Maria hier bleiben?“

      „Ihr Touristenvisum erlaubt ihr einen vierwöchigen Aufenthalt.