Peter Kunkel

Afrikanische Geschichten von gestern


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Fische seien ihm auf den Schoß gesprungen, auf dem er die Schneckenschale hielt. So habe er Nahrung gehabt für viele; Leute hätten sich um ihn geschart, und immer wenn die Nahrung ausgegangen sei, habe er nur die Schnecke auf den Schoß nehmen müssen. Die sechs Barden am Hof der Kalyakönige singen noch immer die langen Lobeshymnen der Ältesten mehrerer Clane, mit denen sie sich Molima untertan machten; sie singen aber auch von Movaya, dem fremden Zauberer, der nach dem Tod Molimas der Schnecke einen Teil ihrer Kraft nahm. Fruchtbarkeit spendete sie noch fortan; aber sie zog keine Fische mehr aus dem kristallklaren See auf den Schoß des Königs, und Movaya zwang den Sohn der Schwester Molimas, Mohoto, mit dem ganzen Volk von den Ufern des Sees wegzuziehen, wo es ihnen so gut gegangen war.

      Es war ein Volk auf Wanderschaft geworden, und wenn auch die Hymnen berichten, daß jeder König wieder etwas Neues fand, um seinem Volk Leben und Unterhalt zu sichern, so muß doch mancher Clan unterwegs abgebröckelt sein. Aber die Namen der Abtrünnigen sind für immer in den Liedern gelöscht. Die Barden wissen nur von neuen Clans, die sich auf dem langen Weg um den Mann mit der Purpurschneckenschale sammelten. Die Bakalya zogen von dem kristallklaren See ins Bergland hinauf, von den Bergen wieder herunter in die Savannen nördlich des großen Flusses und zuletzt von den Savannen in das Waldland, in dem sie jetzt noch lebten.

      Hier im Waldland hatten sich kleine, clanlose Leute zu ihnen gesellt. Die Bakalya nahmen sie in ihre Clans auf; aber sie gaben ihnen nicht von ihren Töchtern zu Frauen, noch nahmen sie selbst Mädchen von den Pygmäen; denn diese Leute blieben halbe Tiere, auch wenn sie jetzt denselben Clans angehörten wie die Bakalya. Sie lebten nicht von Feldern und vom Fischfang auf den beiden Seen des Kalyalandes, sondern suchten sich ihre Nahrung im Wald. In kleinen, unordentlichen Behausungen lebten sie am Rand der Kalyadörfer, verachtet und gefürchtet zugleich; denn sie mussten über große Kräfte verfügen, um sich so tief in den Wald hineinzutrauen und oft auch noch allein, und nur Zauberer konnten all das Waldgetier essen, Flughunde, Hamsterratten, Frösche, Mäuse, ohne Schaden zu nehmen. So gewaltige Zauberer waren sie, daß der König die unter ihnen, die seinem Clan angehörten, in seinen Dienst nahm, und sogar das große Schneckenhaus wurde ihnen anvertraut.

      Es wohnte jetzt in einem Korb, der einer Kalyatrommel glich. Kein anderer Korb im Kalyaland durfte die gleiche Form haben, und nur die Mutter des Königs und seine Schwester, die den Thronfolger geboren hatte, durften ihn flechten - ein feineres Geflecht war in keiner Kalyahütte zu finden. Sorgsam wurde die Schneckenschale vor der Sonne geschützt und vor den Blicken der gewöhnlichen Leute; es sollte nicht noch einmal vorkommen, daß jemand ihrer Kraft Schaden tun könnte wie damals am kristallklaren See Movaya, der fremde Zauberer. Es war kompliziert geworden, ihre Kraft dem Land und dem Volk zu übertragen. Der König musste dazu einer seiner vier wirklichen und wahren Gemahlinnen beiliegen, die je einer Provinz seines Reiches und auch einer Himmelsrichtung entsprachen. Ein Großer des Hofes bestimmte die Tage des Beilagers aus der Orakel- schale, und nie durfte der König diese vier Frauen zu einer anderen Stunde berühren als der vorbestimmten, und während des Akts hatten ihm zwei Pygmäenfrauen die Schneckenschale fest auf den Rücken zu pressen, damit sich zugleich mit dem Sperma ihre Kraft ergieße, auf den Feldern der Bakalya Bananen und Maniok wachsen lasse und Söhne im Schoß ihrer Frauen und Fische kommen lasse in die Netze der nächtlichen Fischer auf dem nördlichen und auf dem südlichen See. Die Stacheln des Schneckenhauses schnitten den König oft in den Rücken; das war dann ein böses Omen für das Land. Aber die Narben dort, wo die Schneckenschale den König 'gebissen' hatte, waren doch so sehr Zeichen der Kalyaherrscher, daß die Schnitzer sie auch in die Rücken der Königsbilder schnitten.

      Sonst verließ die große Schnecke ihr geflochtenes Haus nur, wenn die Bakalya in den Kampf zogen. Der König zog nicht mit in den Krieg, sondern ließ sich mit dem Gesicht zum Schlachtfeld auf einem reich beschnitzten Schemel in seiner dunklen Hütte nieder, in der rechten Hand die Lanze, mit der er einst getötet werden sollte, und auf seinem Schoß das Schneckenhaus, dessen Mund ebenfalls nach dem Ort weisen musste, wo die Kalyakrieger wahrscheinlich auf ihre Gegner stießen. Von der Konzentration des Königs hing es nun ab, ob die Kraft der großen Schnecke den Bakalya zu Hilfe kommen würde, weniger um ihnen selber Mut und Stärke zu geben als den Feinden Ohnmacht und Schrecken.

      Immer konnte das den Herrschern des Kalyavolks nicht gelungen sein. Die Hymnen freilich berichteten von keiner Niederlage; immer war es die Weisheit der Könige gewesen, die die Bakalya ihre Wohnsitze verlegen ließ. Aber sie konnte kaum der einzige Grund dafür gewesen sein, daß die Bakalya schließlich die Savanne verlassen und sich in unwegsamem Wald und Sumpf angesiedelt hatten, wo es so unendlich viel mühsamer ist, ein Feld zu roden, als im Grasland. Und selbst zwischen ihren beiden schwarzen Seen waren sie nicht ohne Feind geblieben. Von Norden her waren die Bantika tief in ihr Gebiet eingedrungen, Barbaren ohne Könige, dynastische Gesänge und Bildwerke, die sich in ihren Heldenliedern rühmten, unzählige Bakalya einfach aufgegessen zu haben, samt ihren Pygmäen. Seit dieser Invasion entsprach die königliche Gemahlin des Nordostens eigentlich kaum noch einem Landstrich, über den der König wirklich gebot.

      Ein paar Könige später waren neue Fremdlinge aufgetaucht, bleiche Männer ohne Lippen, deren Haare braun und glatt waren wie das Fell der Waldtiere. Sie besaßen furchtbare Waffen, mit denen sie einen Affen auch noch aus dem höchsten Baumwipfel herunterschießen konnten, und der König hielt es für klug, sie freundlich an seinem Hof aufzunehmen; hatten seine Vorgänger nicht auch die Pygmäenzauberer zu sich geholt, sie sich untertan gemacht und ihre Kraft der Dynastie zu eigen? Erst als die fremden Bleichlinge Tribut von ihm verlangten und ein Viertel aller Männer seines Reichs, um ihre ferne Hauptstadt unten am großen Fluß zu bauen, zogen die Bakalya in den Kampf. Es war schon zu spät. Die Weißen warteten gar nicht erst ab, daß die Kalyakrieger sich vor ihnen aufstellten und sie mit Geschrei und langatmigen Schimpfkanonaden einzuschüchtern versuchten, wie es der Kriegskomment in diesem Teil Afrikas vorsah. Das, was sie einen Aufstand gegen König Leopold den Zweiten nannten, kostete sie ein paar Gewehrkugeln - die meisten davon schossen sie nicht einmal selber ab, sondern ihre Askaris von der Küste -, die Bakalya aber mehr Tote, als die Bantika in Wirklichkeit je von ihnen verzehrt hatten. Den König brachten die Askaris nach Mbandwela, wo er in der Verbannung Selbstmord beging, und die Weißen setzten einen seiner Neffen als Nachfolger ein, der für sie zur Zwangsarbeit aushob, was an Männern in seinem Land übriggeblieben war. Nie wieder nahm ein Kalyaherrscher die Königslanze in die rechte Hand und die große Schnecke auf seinen Schoß. Fortan diente die Schneckenschale nur noch dazu, an den vorbestimmten Tagen dem Land und dem Volk im heiligen Akt Fruchtbarkeit zu sichern.

      Missionare kamen und bauten höhere Häuser, als man je zuvor im Kalyaland gesehen hatte, eine schmucklose, hässliche Backsteinkirche und einen nicht weniger unschönen Konvent, in dem die jungen Bakalya zur Schule gehen konnten. Das taten zunächst nur solche, die wenig geachteten Clans angehörten; vielleicht, so dachten ihre Eltern und Verwandten, würden ihre Kinder mit dem Wissen der Fremden der Niedrigkeit entkommen, in der ihr Blut sie gefangen hielt. Die großen Familien und auch der junge König hielten sich zurück, seit die Patres sie aufgefordert hatten, ihre Königsbilder zu verbrennen und die hölzernen Männer am Kreuz als ihre Herrscher anzuerkennen, die man in jedem Raum des Konvents finden konnte. Einstweilen hatten die vornehmen Bakalya noch einiges Zutrauen zur Kraft ihres Blutes und der Dinge, in denen ihnen die Ahnen Kraft hinterlassen hatten, und das Wohlergehen des Landes vertrauten sie lieber der königlichen Schnecke an als diesen Holzmännchen, die, wenn die Großen der Bakalya richtig verstanden hatten, sich nicht einmal hatten töten lassen, um dem Schwinden ihrer Kräfte zuvorzukommen, wie es die Kalyakönige taten, sondern nur nicht fähig gewesen waren, zu verhindern, daß ihre Feinde sie auf bemerkenswert raffinierte Weise umbrachten; so hatten die Patres schließlich selbst erzählt.

      Fünfzig Jahre später war Moanas Onkel Mochwabe König der Bakalya. Inzwischen hatte die Kolonialverwaltung gewechselt; sie war milder und ihrer eigenen Meinung nach gerechter als die frühere. Niemand tastete mehr das Land der Eingeborenen an, auch wenn es gerade in Brache lag, und es wurden auch keine Männer mehr ausgehoben, um auf den Plantagen und in der Hauptstadt zu arbeiten. Jetzt gingen viele freiwillig fort, um draußen etwas Geld zu verdienen; denn das Kalyaland lag weitab von den Schiffswegen und den wenigen Straßen, die die Weißen hatten bauen lassen, und lange Zeit gab es keine Plantagen dort.

      Erst der Boom der fünfziger Jahre erreichte auch diese abgelegene