und sie endete mitten im Kalyaland an dem einzigen größeren Waldstück, das die Bakalya nie unter Kultur genommen hatten. Es war eine Halbinsel, die sich in den nördlichen der beiden Schwarzwasserseen hineinzog. Nur diese Halbinsel hatte die Regierung zur Anlage einer Plantage freigegeben; das Eingeborenenland durfte ja, wie gesagt, nicht mehr veräußert werden. Aber die Prospekteure einer franko-belgischen Gesellschaft hatten auch den Boden auf der Halbinsel für gut befunden, um darauf eine weitere Pflanzung von Ölpalmen und Kautschukbäumen anzulegen.
Für die Bakalya freilich war dieser Wald der Wohnsitz von Geistern, die in den Mannbarkeitsriten zu ihren Söhnen sprachen. Seit ihr Volk ins Land gekommen war, hatte es in diesem Wald Jugendlager abgehalten, in denen die Ältesten jedes Clans die Fünfzehnjährigen beschnitten, um sie in den Stamm aufnehmen zu können. Das schien den weißen Administratoren kein Argument zu sein, soweit sie davon überhaupt Kenntnis nahmen. Sie mochten bedacht sein, die Belange der einheimischen Bewohner des Landes zu berücksichtigen und zu schützen, aber nur der menschlichen. Je schneller die Afrikaner von ihrer Geisterfurcht befreit würden, meinten sie außerdem, desto besser. Hatte das nicht auch schon Albert Schweitzer in seinem Buch über Lambarene gesagt?
Aber kein Mokalya war bereit, diesen Wald für die Weißen zu schlagen. Niemand wollte sich mit den Geistern anlegen, die mild zu stimmen und zu den Jungen reden zu lassen bislang ohnehin so viele und umständliche Riten verlangt hatte. Die franko-belgische Gesellschaft warb also beim übernächsten Stamm, der das Kalyaland nur vom Hörensagen kannte, Holzfäller an, und bald zogen sich schnurgerade Fahrwege über zwei Drittel der Halbinsel. Auf den Rodungsquadraten standen die jungen Pälmchen und Kautschukbäume in Reih und Glied. Ein Schuppen entstand, um den Kessel zum Eindicken der Kautschukmasse unterzubringen, ein zweiter für Palmölpresse, eine kleine Autowerkstatt und eine Siedlung für die eingeborenen Arbeiter, die sogar einen Wasserhahn und eine Toilette für je acht Häuschen erhielt, mehr als die Kolonialverwaltung vorschrieb. Zuletzt ließ die Kompanie noch drei Häuser für ihre europäischen Angestellten ans Seeufer setzen, weitläufige Steinbauten mit überdachten Veranden, von denen man weit über's Wasser hinüber ins Land der Bantika sehen konnte, die jetzt keine Bakalya mehr essen durften.
Nach und nach fanden sich nun auch Bakalya auf der Halbinsel ein, um für die Weißen zu arbeiten, die sich in der Konkurrenz mit den Waldgeistern als die stärkeren erwiesen hatten; andere Pflanzungen lagen so weit fort, und man konnte die Familie nicht dorthin mitnehmen. Kolonialbeamte erschienen in diesen Jahren immer häufiger auf ihren regelmäßigen Touren auch im Kalyaland. Mit ihnen kamen als Schreiber und Übersetzer die ersten Missionsschüler unter den Bakalya aus der Stadt zurück. Die Großen des Reichs und manchmal auch Mochwabe selbst mussten sie bitten, ihre Fürsprecher bei den Weißen zu sein. So rangen sie sich durch, jetzt eben doch auch die eigenen Kinder zu den Missionaren zu schicken, und Mochwabe verlangte, daß auch Moana zu ihnen in die Schule gehe, der der älteste unter den Söhnen seiner Schwestern war und ihm deshalb auf dem Thronschemel folgen würde. Moana ging; aber er kam nicht mit dem zurecht, was die Missionare ihm beibringen wollten. Seine Familie war offenbar nicht darauf gezüchtet, fremde Laute nachzuahmen und alles Mögliche auswendig zu lernen, dessen Sinn und Zweck allen Schülern, auch den sogenannten guten, verborgen blieb.
Zwei Jahre lang litt er unter den Patres und sie unter ihm. Dann erklärten sie, es sei Hopfen und Malz verloren mit ihm, und schickten ihn wieder fort. Mochwabe besprach sich lange mit seiner Schwester, wie man Moana auf andere Weise etwas von den Weißen lernen lassen könne; selbst für einen zukünftigen König schien das beiden inzwischen leider unentbehrlich zu sein. Sie machten miteinander aus, daß Moana in den Dienst des höchsten Europäers treten solle, den es im Kalyaland gab. Das war Monsieur Delvaux, der Leiter der Plantage auf der Halbinsel.
Delvaux war über dieses Ansinnen nicht besonders glücklich. Er hatte sich immer Mühe gegeben, mit den traditionellen Häuptlingen gut zu stehen, wo er auch in Zentralafrika gearbeitet hatte; aber was sollte er mit diesen jungen Mann anfangen? Er kam ihm nicht besonders intelligent vor. Nicht um alles in der Welt hätte er ihn etwa an Ölpresse und Einkochkessel anlernen lassen, von der Autowerkstatt ganz zu schweigen; es ging sowieso soviel kaputt, und Ersatzteile waren teuer und umständlich zu beschaffen. In die Pflanzungen konnte er einen Königsneffen nicht gut stecken; auch sah Moana nicht gerade sehr kräftig aus. Wahrscheinlich hatte seit Ewigkeiten niemand in seiner Familie mehr eine Hacke in der Hand gehabt, höchstens die Könige unter seinen Vorfahren und die nur einmal im Jahr, nämlich wenn sie mit zwei, drei Hackenschlägen die Pflanzzeit zu eröffnen hatten; Delvaux hatte Mochwabe einmal dabei fotografiert.
Jetzt sann er hin und her und ging schließlich zu seiner Frau hinüber. Er fragte sie, ob sie denn nicht noch einen zusätzlichen Hausboy nehmen könne, und so musste Moana vom nächsten Morgen an die Betten der Familie Delvaux machen, auf der Veranda die Wanderameisenmännchen zusammenfegen, die sich über Nacht an den Lampen verbrannt hatten, und den braunen Staub des Waldlands von den Möbeln wischen - da lernte er nicht viel von den Geheimnissen der weißen Rasse.
Alle zwei Jahre durfte Delvaux Urlaub machen und mit seiner Familie nach Hause fahren. Das war der Vorteil davon, nur Angestellter zu sein, und manche selbständigen Pflanzer, deren Kasse nie solche Extravaganzen erlaubte, beneideten ihn heftig darum. Aber die Delvaux' flogen je öfter, desto weniger gern in ihre Heimatstadt, wo sich niemand mehr für sie und ihre Probleme zu interessieren schien, sondern jeder sie nur einlud, mit ihm fernzusehen, und in Moanas Hausboyzeit verbrachten sie ihre freien Wochen zum ersten Mal woanders, nämlich an der Küste von Kenya zwischen Mombasa und Malindi. Über fünfzig Kilometer zogen sich da die Palmen am Strand entlang - nun, die hatten sie auch auf ihrer Halbinsel im Kalyaland. Aber das Meer war voller Korallenfische, Muränen und knallbunter Garnelen, und die Kinder konnten sich aufs Muschelsammeln werfen. Was sie nicht selber fanden, kaufte ihnen der Vater bei einem arabischen Händler.
Moana hütete unterdessen das Haus. Als die Delvaux' zurückkehrten, stand er vor der Garage, um die Koffer aus dem Wagen zu laden. Am Nachmittag ging er. Als er am nächsten Morgen zurückkam, fand er den Boden der Veranda von Mitbringseln bedeckt, und da lag sie!
Unverhüllt und der Sonne ausgesetzt lag da die Schneckenschale der Kalyaherrscher. Jeder Plantagenarbeiter, der vorbeigekommen wäre, hätte sie sehen können, wo doch er, der Neffe des Königs und sein Erbe, sie nur ein einziges Mal in seinem Leben von den beiden Pygmäen gezeigt bekommen hatte, denen es oblag, sie zu hüten. Nein, da lag nicht eine, da lagen zwei, drei, vier solcher Schneckenhäuser, und eins davon war größer und langdorniger als das, aus dem sein Land und sein Volk ihre Kraft bezogen. Ohne sich zu besinnen, riss Moana die Decke vom Esstisch und warf sie über die vier Schneckenschalen.
Madame Delvaux gefiel das wenig. Ihre Kinder hatten allerhand andere Muscheln und Schneckenhäuser im flachen Wasser gesammelt, und in denen faulten die ursprünglichen Bewohner immer noch vor sich hin. Schon unterwegs hatte es endlose Debatten über den Gestank gegeben, und jetzt warf dieser Boy noch die Tischdecke auf dieses Zeug, von der man nachher wieder essen sollte! Madame Delvaux gab ihrem entrüsteten Ekel unverblümt Ausdruck, sogar lauter und länger, als es ihr selbst gut schien. Aber dieser Boy schien sie gar nicht zu hören.
Von dieser Stunde an war mit Moana nichts Rechtes mehr anzufangen. Bis dahin hatten die Delvaux' ihn für etwas dümmlich, aber doch guten Willens gehalten; jetzt blieb mehr und mehr liegen, was sie ihm aufgetragen hatten. Während fünf Kilometer weiter ins Land hinein runzelige Pygmäenhände seinem Onkel das tausendjährige Schneckenhaus tief ins Fleisch drückten und die Frau unter ihm leise aufstöhnte, fand Madame Delvaux ihren Boy, wie er die Kommode im Wohnzimmer anstarrte, auf der die vier rezenten Purpurschneckenschalen jetzt ihren Platz gefunden hatten. Die Kinder nahmen sie herunter, versuchten sie sich gegenseitig wegzureißen und hielten sie sich an Ohr, um 'das Meer' zu hören.
So vieles von dem, was seinem Volk teuer und wert gewesen war, hatten die Weißen schon zu nichts werden lassen, einfach, indem sie mehr davon besaßen, auch Größeres und Bunteres, und es selbst für nichts ansahen. Noch sein Vater hatte jeder seiner Anverlobten vor der Hochzeit ein Holzbüchschen schicken müssen, auf deren Deckel der Schnitzer Sprichwörter in kleinen Szenen dargestellt hatte. Das Sprichwort war jeweils eine ernste Devise für das Zusammenleben von Mann und Frau gewesen; aber was für ein armseliges Ding war so ein braunes Holzfigürchen gegen all die Puppen und