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Katharina Johanson
Volker Bruck
oder Die Reise in den Osten
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Inhaltsverzeichnis
Prolog
Volker Bruck und Maria saßen sich am Küchentisch gegenüber. Sie plauderte während des Essens ungezwungen. Er aß schweigend und hörte mit halbem Ohr zu. Ab und an hob Maria die Stimme. Mit „Haben Sie gehört?“ oder „Ist doch wahr!“ versicherte sie sich seiner Aufmerksamkeit. Gewohnheitsmäßig quittierte Bruck an dieser Stelle mit „Aber ja“ oder „Ist ja interessant“, obwohl er wenig Anteil nahm. Die Mahlzeit dehnte sich in die Länge. Den Mann und die Frau drängten nichts und niemand.
Bruck schaute auf den Kalender am Schrank. Es war der 4. September 1990. Seit Monaten wartete Maria mit Episoden über die Entwicklung im Osten auf. Bruck reagierte mürrisch. Was gingen ihn die dortigen Ereignisse an? Ob die friedlich demonstrierten, irgendwelche Vereinbarungen trafen oder sich die Köpfe einschlugen, war ihm gleichgültig. Man lebte hier in München, hatte sich eingerichtet. Man lebte gut. Das Kapitel Osten war für ihn seit Jahrzehnten abgeschlossen. Bruck knurrte: „Lassen Sie doch bitte die Politik und den Osten sowieso.“ Maria schwieg pikiert, um wenig später unbekümmert auf ein anderes Thema einzugehen. Sie wollte ihn nicht verärgern. Sie kannte ihn gut und schätze seine ansonsten so friedfertige Art.
Des Mannes heutige Einstellungen resultierten aus seinem Lebensüberdruss, ja einer sich allmählich eingeschlichenen Müdigkeit. Der jetzt fast Fünfzigjährige war auch in jungen Jahren niemals drängend oder stürmisch gewesen. Er neigte eher zu Zurückhaltung und Bedachtsamkeit. Er fühlte sich nie berufen, die Welt zu verändern. Er lobte sich die bescheidene Karriere eines Kunsthistorikers, strebte selbst im universitären Alltag niemals die hohen Ziele einer ordentlichen Professur an. Er mochte nicht im Rampenlicht stehen. Er blieb nach seiner Promotion Privatdozent. Ihm genügten seine Forschungen, gelegentliche Veröffentlichungen und die Arbeit mit wenigen, sehr begabten Studenten. Er richtete sich maßvoll, anspruchslos in der Mitte der Gesellschaft ein. Gerade diese Bescheidenheit beförderte seinen stetigen beruflichen Aufstieg und seine Beliebtheit im Umfeld. Da hätte er sich glücklich schätzen können. Allein, es war ihm nicht vergönnt, seinen kleinen Traum vom Glück fest- und lebendig zu erhalten. Das machte ihn schwermütig.
Brucks Traum vom Glück war die junge, schöne Helena gewesen. Helena hatte bei ihm einige Semester Kunstgeschichte des frühen, abendländischen Mittelalters belegt, sich nicht nur als ausgesprochen talentiert für das Fach, sondern sich gleichfalls als sensibel für die Forschungsintentionen ihres Lehrers erwiesen. So kam es zu gemeinsamen Arbeiten, über diese zu intimer Vertrautheit und schließlich gingen sie den Bund fürs Leben ein. Die Vermählten hatten niemals materielle Sorgen. Sie schöpfte aus einer reichen Erbschaft, er aus den gut fließenden Tantiemen seiner Veröffentlichungen. Da leisteten sich die jungen Brucks das schöne Haus, beschäftigten ein paar Dienstleute, unternahmen Reisen, betrieben ihre wissenschaftliche Arbeit, pflegten einen auserwählten Freundeskreis. Bis zu dem Unglück! Helena starb an einem Fieber. Der Bund hatte gerade mal zehn Jahre Bestand gehabt. Bruck blieb verzweifelt und resigniert zurück.
Nach Helenas Tod entließ Bruck den Gärtner und den Hausmeister mit der Begründung, man könne Dienstleistungen preiswert extern einkaufen. Nicht notwendige Sparsamkeit trieb den Witwer an, sondern der Wunsch nach völliger Ruhe. Helenas Räume durften nicht verändert werden, Altäre mit Porträts der geliebten Frau, mit Blumenschmuck und mit Kerzen wurden errichtet, Erinnerung und Trauer nahmen den Mann vollständig ein. Seine Haushaltshilfe Maria fortzuschicken, dazu kam er nicht, denn sie sah deutlich, wie sehr er im Begriff war, dieses Haus in ein Mausoleum zu verwandeln und sich selbst zu zerstören. Sie drängte sich dem Hausherrn förmlich auf. Sie riss konventionelle Schranken nieder und wendete sich ihm wie eine Mutter ihrem unmündigen Sohn zu: bestimmend und lebensbejahend. Brucks Lebensquell sprudelte neu, nun ja nicht gerade üppig, aber immerhin soweit, dass er seiner Biografie einige gute Schaffensjahre anfügen konnte.
Diese Gedanken ließ Bruck Revue passieren, während sie speisten. Maria war heute für ihn weniger Hausangestellte als viel mehr Vertraute, auch wenn eine imaginäre Grenze immer bestand. Diese Grenze war kaum räumlich auszumachen. Sie war durch die unterschiedlichen Lebenssphären der beiden bedingt. Bruck glaubte zu wissen, dass sie nur dem Haushalt und ihren flüchtigen Unterhaltungen lebt, während er selbst sich tiefschürfenden wissenschaftlichen Analysen hingab.
Kürzlich kam Maria mit folgender Neuigkeit: „Ich habe gelesen.“ Aha, wieder eins ihrer bunten Blättchen, vermerkte Bruck amüsiert und hörte weiter: „Ich las also, dass im Kaukasus Leute mit hundertzehn und noch älter leben. Wie kommt das?“, mit Seitenblick versicherte sie sich seiner Aufmerksamkeit, „die Kaukasier trinken täglich ihren Wodka, die Engländer ihren Whisky und die Franzosen ihren Rotwein.“ Bruck war da im Zweifel. Er sagte nichts. Maria ergänzte nunmehr jeden Tag das Mittagessen mit einem Glas Rotwein. Er rührte den Wein nicht an.
Maria hob demonstrativ ihr Glas in Brucks Nähe, prostete ihm zu und trank von dem schweren, roten Traubensaft. Ihr Mitteilungsbedürfnis wurde inzwischen vom gefüllten Magen gedämpft. Sie gähnte hinter vorgehaltener Hand. Bruck nahm dies als Aufforderung, sich zurückzuziehen. Er erhob sich, schob seine Brille zurecht, dankte und verabschiedete sich in die Bibliothek. Maria räumte das Geschirr in die Spüle, goss den vom Tischgenossen unberührten Wein zurück in die Karaffe. Sie überwand ihre Müdigkeit, nahm die Putzmittel zur Hand, stieg die Treppe hoch und begann im letzten Zimmer die Fenster zu polieren.
Soeben hatte Bruck sich an seinem Schreibtisch in der Bibliothek niederlassen wollen, als draußen heftig geschellt wurde. Bruck lauschte. Würde die Maria öffnen gehen? Sie schien nicht gehört zu haben. Bruck bemühte sich selbst. In der Tür