Katharina Johanson

Volker Bruck


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Tages hielt Maria dem Bruck ein Papier hin und verlangte fest: „Unterschreiben, bitte!“

      Bruck las und glaubte nicht, was da stand. Maria mutete ihm tatsächlich zu, einen ordinären Arbeitsvertrag mit ihr abzuschließen. Mehr noch: Ein zweites Papier, welches ihm Maria jetzt zuschob, sollte die Frau auf Lebenszeit ermächtigen, die Einliegerwohnung zu einer festen Miete zu nutzen. „Was habe ich Ihnen getan?“, brüllte der Mann fassungslos und fegte die Papiere auf den Boden. Maria redete unbeeindruckt sachlich: „Herr Bruck, Sie sind es gewohnt, die Dinge so laufen zu lassen, wie sie eben laufen. Und genau das geht so nicht!“ Bruck erwiderte bestürzt: „Es war doch alles gut so.“ - „Nein, es war nicht gut!“, setzte Maria dagegen und stellte das Ultimatum: „Entweder Sie unterschreiben oder ich bin weg!“

      Bruck unterschrieb. Was sollte er denn machen? Er war auf Maria angewiesen und in gewisser Weise hing er auch emotional an ihr. Er hatte keine Alternative.

      Maria richtete sich in ihrer Wohnung ein, trällerte über den Tag, stellte Blumen ans Fenster, kochte für sich in der eigenen Küche, sortierte ihre Bücher ins eigene Regal, und beendete nach acht Stunden ihre Arbeit im bruckschen Haus. Sie hielten keine gemeinsamen Mahlzeiten mehr ab. Maria war für Gespräche nicht mehr zu haben. Wenn Bruck mit der Absicht, das strenge Reglement aufzuweichen, leutselig auf sie zukam, wich Maria mit der Begründung aus, sie wolle die wertvolle Arbeitszeit nicht verschleudern. Distanziert fügte sie hinzu: „Zeit ist Geld. Es ist schließlich auch Ihr Geld, Chef!“

      Volker Bruck sank ins Bodenlose. Seine Welt löste sich auf. Mit Mühe erledigte er seine beruflichen Aufgaben, aber auch das lieblos, ohne Schwung.

      So vergingen Wochen. Das neue Jahr kam. Bruck begrüßte das Jahr 1991 mutlos und traurig. Er prostete sich selber zu und verfluchte sein missgestaltetes Leben.

      Eines Mittags, Ende Februar erschien Maria in der Bibliothek. Der einsame Mann war froh, als er sie sah. Nahm sie sich Zeit für ein Gespräch? Maria setzte sich in einen Besuchersessel und begann generös: „Ich mache gerade Pause, die soll heute Ihnen gehören, lieber Bruck.“ Bruck erhob sich, ging diensteifrig zur Hausbar und nahm eine Flasche roten Weines heraus. Maria herrschte ihn an: „Das sollten Sie mal schön bleiben lassen!“ Bruck ließ die Flasche stehen und setzte sich der Frau gegenüber.

      „Nun, wie fühlen Sie sich?“, examinierte die Haushälterin ihren Dienstherren. „Schlecht“, gab der zu, „ich kann das gar mit Worten beschreiben.“ - „Versuchen Sie es, bitte“, verlangte Maria sehr lieb. Bruck war den Tränen nahe. Er schob seine Brille zurecht. Die warme Stimme, die Mütterlichkeit, die Fürsorge lockerten ihm die Zunge und er sagte: „Mir ist, als wäre mein Leben im Strudel, immer abwärts, nichts regelt sich, alles entgleitet mir.“ Er weinte.

      Maria nahm seinen Kopf zwischen ihre breiten, abgearbeiteten Hände, tupfte die Tränen fort und sprach behutsam: „Lieber Bruck, wenn alles über einem zusammenstürzt, nichts mehr gilt, was vordem gut und heilig war, dann brauchen wir am meisten einen Menschen an unserer Seite.“ Der verzweifelte Mann schaute hoffnungsvoll. Maria ließ seinen Kopf los und belehrte: „Man kann so tief unten sein, dass man Worte nicht mehr findet. Ihre Mutter schweigt. Warum denn?“ - „Wir haben uns nichts mehr zu sagen“, stammelte Volker Bruck, „was soll ich denn machen?“

      Die Frau bestimmte: „Ganz einfach. Sie nehmen ein paar Tage Urlaub und fahren hin.“ Er schüttelte den Kopf. „Doch, doch“, erklärte Maria freimütig, „das geht gut. Sehen Sie, ein Historiker recherchiert doch immer am besten vor Ort.“

      Die Haushälterin schaute demonstrativ auf die Uhr. „Meine Pause ist zu Ende. Ich habe zu tun.“ Sie verließ die Bibliothek. Bruck blieb zurück. Es lag ihm nicht, einer verlorenen Sache nachzulaufen. Allerdings gestand er zu, dass Maria recht haben konnte. Was verlor er denn, wenn er zur Mutter fuhr? Der Mann raffte sich auf.

      Er regelte seine beruflichen Belange, packte eigenhändig seinen Koffer, informierte sich über die Bahnverbindung von München nach Kerkow bei Berlin. Als alles erledigt war, wählte er die bekannte Nummer und hatte die Mutter am Apparat. „Junge, Du?“, Pause, „Wie geht es Dir?“, Pause, Volker Bruck sagte: „Ich komme am Freitag, den ersten Dritten, gegen zwanzig Uhr bei Euch an.“ - „Dann ist ja gut“, hörte er und spürte Erleichterung.

      1. März 1991

      Auf der Zugfahrt zwischen München und Berlin überkam den Volker Bruck eine nicht zu unterdrückende Unruhe. Was wird, wenn sie mich gar nicht sehen wollen? Ein weitere Enttäuschung würde er nicht verkraften. Noch besser, hielt er sich mit grimmigem Humor vor, wenn sie mich auf der Straße stehen lassen, und ich nächtens gottverlassen in der Gegend herumirre und nichts mit mir anzufangen weiß. Was dann? Je weiter er sich von der Heimat entfernte, umso klarer wurde ihm die Abenteuerlichkeit seiner Unternehmung. Er sagte sich: In gewisser Weise flüchte ich vor Maria und dränge mich Leuten auf, die nichts mehr mit mir zu tun haben wollen. Dass er ein lädiertes Nervenkostüm hatte, fiel ihm gar nicht ein.

      Da war die Ruhe, die den Mann umgab, als er in Kerkow aus der S-Bahn stieg, eine wahre Wohltat. Bruck schaute sich um. Der alte Bahnhof, von wenigen Lampen sparsam beleuchtet, löchriges Mauerwerk, ein schief hängendes, blechernes Ortsschild, darunter eine verwitterte Holzbank, alles ganz genauso, wie er es erinnerte, nur eben viel, viel älter. Der Zug fuhr mit leisem Summen aus der Station, der Bahnaufseher steckte den Fahrtrichtungsanzeiger zurecht und verschwand in seiner Bude. Volker Bruck war allein. Leicht ging der Abendwind, ein blasser Mond schob sich durch die Wolken, der würzige Duft aufbrechender Erde verbreitete sich. Bruck stieg die hohe Bahnhofstreppe hinab, bog links in die Bahnhofsstraße ein und lief seinen Weg zum Dorf. Die Straße lag grauschwarz vor ihm, der Mann folgte diesem Band, rechts und links wusste er Wassergräben und Felder, ganz hinten sah man winzig klein das fahle Licht der Bauernhäuser.

      Bruck stolperte. Der Koffer zerrte schmerzhaft am Handgelenk. Er fing sich und fluchte: „So was nennt sich Straße! Seit eh und je nichts verbessert.“ Dabei wusste er genau, dass die Kerkower Bauern sich immer sehr um diese Straße bemüht hatten. Schwere Regengüsse unterspülten permanent den dünnen Straßenbelag, im Winter sprengte das Eis in die wenigen ebenen Abschnitte erbarmungslos tiefe Löcher, und, was das Wetter nicht anrichtete, pflügten die schweren, von einem zum anderen Feld über wechselnden Landmaschinen um. In Gruppen zogen die Kerkower immer wieder hinaus um ihre Straße instand zu setzen. Diese einzige, lebenswichtige Verbindung zu den Nachbarorten und zum Bahnhof blieb Sorgenkind. Volker Bruck begnügte sich mit beißendem Zynismus: „Nun ja, es mag schon gut sein, dass es diesen Weg überhaupt noch gibt.“

      Er wusste auch, dass dieses Band zwischen Bahnhof und Ort zugleich Prozessionsstraße war. Auf dieser Straße begrüßten und bewunderten die Kerkower Bauern ihre ersten Traktoren und geleiteten sie feierlich ins Dorf. Volker war als Kind dabei gewesen, wie die russischen Zugmaschinen Einzug hielten und hatte wie alle anderen Kinder spontan beschlossen, Traktorist zu werden. Über die Bahnhofstraße wurde unter fröhlicher Begleitung von Jung und Alt die Rinderherde, die dann den Wohlstand der Genossenschaft begründete, nach Kerkow getrieben.

      Ja, diese Straße hatte so einiges gesehen: Wenn die Kerkower ihr Soll ablieferten, zottelten die hochbeladenen Fuhrwerke Korn, Gemüse, Kartoffeln über diese Trasse zu den bereitstehenden Güterwagen. Zufrieden verfolgten die einen den Abtransport der Früchte ihrer Arbeit. Es war an ihnen, die Städter zu ernähren. Darauf waren sie stolz. Vereinzelte maulten herum, weil sie sich übervorteilt fühlten. Das Ablieferungsprozedere beschloss gewöhnlich ein Erntefest, bei dem sowohl die Zufriedenen als auch die Nörgler reichlich dem Freibier zusprachen und sich schließlich brüderlich in den Armen lagen. Bruck lief seinen Weg.

      Er kam am westlichen Dorfrand an. Rechts lag die alte Schule. Ein kleines Licht markierte den Eingang. Neben der Schule erkannte Bruck wie ehedem die Gastwirtschaft. Über der Tür funzelte in müder Leuchtschrift das Wort „Hotel“. Volker Bruck konnte sich nicht vorstellen, dass in der schmierigen Spelunke jemals ein Reisender abgestiegen sein könnte. An das Hotel grenzte die Pfarrei. Einige Fenster glänzten einladend. Bruck erinnerte die von ihm häufig besuchte Bibliothek des Pfarrers, verweilte einen Moment träumend vor dem Grundstück und machte