Ankömmling die Arme aus und sagte: „Lass Dich ans Herz drücken, Bruder.“ Der kleine, graue Bruck fühlte sich an eine muskulöse Brust herangezogen, von kräftigen Armen umschlungen und von derben Händen getätschelt. Erst jetzt realisierte er: Das ist Peter! Das ist mein Bruder Peter. Den hatte Bruck vor mehr als dreißig Jahren das letzte Mal gesehen, und damals war Peter noch ein Kind gewesen. Was will der denn hier?
„Nun, dann komm rein“, lud Volker Bruck den Bruder ein, eilte voraus zur Bibliothek und bot Platz an. „Was führt Dich in mein bescheidenes Heim?“, überbrückte Volker seine Verlegenheit. „Bescheiden?“, höhnte Peter, ließ sich schwer in den großen Sessel einer Sitzgruppe fallen und stellte mit ausholender Geste fest: „Wenn Du das hier bescheiden nennst, dann muss ich ja der ärmste Bettel sein.“ Der Hausherr, unschlüssig rumstehend, stammelte fassungslos: „Also, was führt Dich zu mir?“ Gezwungen setzte er hinzu: „Und sei mir willkommen.“ - „Prima“, kommentierte Peter die Höflichkeit, „so soll’s gehen! - Frag‘ nach meinem Pläsier. Aber vorher einen Drink, bitte.“ Er lümmelte im Sessel. Volker ging zur kleinen Bar, entnahm ihr ein Glas und eine Flasche Cognac. Seine Hände zitterten und waren nur mühsam zu beherrschen. Er bediente den Bruder und stellte die Flasche wieder zurück. Peter heftig: „Lass die Flasche hier!“ Volker gehorchte, setzte sich dem Bruder gegenüber, rückte die Brille zurecht und wartete auf einen neuen Anfang.
Peter lehrte das Glas gierig, goss sich nach und holte dann aus: „Ich will’s kurz machen: Unsere Leute sind reene verrückt geworden. Jahrelang haben wir ihnen den Himmel auf Erden nicht nur versprochen, sondern auch hingebastelt. Dann kommt der Kohl, verspricht blühende Landschaften, und alles geht den Bach runter ...“ Volker hatte sich inzwischen gefasst und dachte: Ist ja irre! Der Maria verbiete ich über diese ganze Ostpolitik zu reden, ich will nicht behelligt werden, da fällt dieser Kerl über mich her. Ich setze ihn in mein Haus, biete zu Trinken an, höre zu, statt ihm gleich an der Tür den rechten Weg zu weisen. Ist ja irre!
Bruck musste zuhören. „Für mich sieht es jetzt ganz blöd aus“, erklärte Peter, „ich bin jetzt sozusagen der Verlierer, wenn nicht ein Verfolgter, wenn man so will. Aber soweit lasse ich es nicht kommen. Ich bin weg.“ Er legte eine Pause in seine Rede, schaukelte die goldgelbe Flüssigkeit im Glas und gab dem Bruder Zeit zum Nachdenken. Der erinnerte sich: Der Peter, drei Jahre jünger als ich, hatte sich zum Landwirt ausbilden lassen und war dann zur Armee gegangen. Mehr wusste Volker nicht und mehr wollte auch gar nicht wissen.
Peter kippte das Getränk runter, goss sich erneut das Glas voll und nahm den Faden wieder auf: „Da also die Siegerjustiz jetzt über unser Wohl und Wehe entscheidet, mein Lieber, suche ich das Weite. Und jetzt kommst Du ins Spiel: Da Du Dir jahrelang einen schönen Tag gemacht hast. Und ich betone: Dich verdrückt hast! -“ Volker hob abwehrend die schmalen Hände. Peter bekräftige: „Ja, verdrückt hast! - Jetzt bist Du also dran, Dich um Mutter und Vater zu kümmern.“ Volker Bruck saß wie mit einer Keule erschlagen im Sessel und hatte keinen Plan.
Was soll das? Seine Gedanken irrten ab und noch ehe er etwas erwidern konnte, erhob sich der ihn um Haupteslänge überragende Peter, legte ein paar Zettel auf den Tisch und befahl: „Hier zur Auffrischung: Adresse, Telefonnummer und paar Daten, die Du brauchen könntest. Sieh‘ zu, dass Du den alten Herrschaften unter die Arme greifst!“ Schließlich log er: „Und glaube ja nicht, ich würde das nicht aus der Ferne überwachen können. Ich bin stets gut informiert und weiß Dich zu stellen.“ Volker Bruck blieb wie angewurzelt im Sessel sitzen. Peter Bruck verschwand wie von Geisterhand.
Der Mann saß noch immer unverwandt vor sich hin starrend im Sessel, als die Maria gegen Abend in die Bibliothek lugte, um ihm zu bestellen, dass das Essen aufgetragen sei. „Um Himmels Willen, was ist Ihnen denn geschehen?“, barmte Maria, schlug die Hände vorm Gesicht zusammen, eilte hinaus, kam mit einem kalt gewässerten Tuch und einem Glas Tee zurück. Vorsichtig balancierte sie die belebenden Mittel auf einem Tablett, stellte alles ab, befeuchtete Schläfen und Wangen des Mannes, und riet, langsam ein paar Schlucke Tee zu sich zu nehmen. Bruck erwachte aus seiner Erstarrung. „Es geht schon“, versicherte er der sorgenvoll bemühten Maria. Die fragte wieder: „Um Himmels Willen, was ist denn geschehen? Sie sehen aus, als wäre Ihnen der Leibhaftige erschienen.“ - „Ist er auch“, erklärte Bruck trocken, erhob sich und folgte der Frau in die Küche.
Maria bereitete dem schweigend am Tisch hockenden Bruck ein Abendbrot aus mundgerechten Häppchen und wies streng an: „Es wird gegessen, Herr Doktor! Das fangen wir gar nicht erst wieder an.“ Volker Bruck würgte brav an den Happen. Mit Tee spülte er nach. Ist ja irre, resümierte er immer neu und wälzte seine Gedanken. Es lag ihm völlig fern, der Aufforderung des Bruders nachzukommen. Das zog er gar nicht in Betracht. Auch Drohungen konnten ihn nicht erschrecken. Brucks Ratlosigkeit und Betroffenheit resultierten allein aus der überwältigenden Macht, die von dem Bruder ausging. Binnen des Bruchteils einer Sekunde, hatte der andere ihn nachhaltig völlig aus der Bahn geworfen. Der mühsam über Jahre geschaffene Schutzwall war gebrochen.
„Was ist passiert?“, kam Maria unerbittlich auf ihre Frage zurück. Bruck gab betonungslos Auskunft: „Mein Bruder war da. Ich soll mich um die Eltern kümmern.“ Die Frau kannte seine Geschichte und ahnte, was in ihm vorging. Sie ließ ihm Zeit. Mochte er nachdenken. Er folgte ergeben den sich unweigerlich einstellenden Erinnerungen.
Volker Bruck war in dem kleinen Ort Kerkow bei Berlin aufgewachsen. Zur Familie gehörten Vater, Mutter und Bruder Peter. Sie lebten von Landwirtschaft. Die Knaben wuchsen heran, besuchten die Schule, hatten Spielkameraden und ihre Hobbys. Die Welt war in Ordnung. Während der jüngste Sohn, der Peter, von Anbeginn eine große Affinität zur Arbeit auf dem Feld und im Stall hatte, war Volker eher den schönen Künsten zugetan. Er betätigte sich in einer Arbeitsgemeinschaft schreibender Pioniere, spann sich kleine Märchen aus, gewann auch Preise mit seiner Kunst, er malte und er las kunsttheoretische Abhandlungen. Volker war so gar nicht Bauer und wollte auch nie Bauer werden. Er erfüllte seine Pflichten im Haus und auf dem Hof so gut wie möglich und halbherzig. Die Eltern waren stolz auf die außergewöhnliche, feinsinnige, intellektuelle Begabung ihres Sohnes, ließen ihm so manche Nachlässigkeit bei der praktischen Arbeit durchgehen. Der Bruder nörgelte an Volker herum und machte dessen Ungeschicklichkeit zum Ziel von Spott und Hohn. Die Brüder lebten sich auseinander und gingen getrennte Wege.
Volkers schulische Leistungen vermittelten ihm ein hohes Ansehen zu Hause, bei den Nachbarn, bei den Klassenkameraden und den Lehrern. Volker war was Besonderes. Er legte die Hochschulreife ab, und durfte dann doch sein Lieblingsfach, die Kunstgeschichte, nicht studieren. Ein Bruck müsse Landwirt werden, wurde ihm beschieden. Für ihn brach eine Welt zusammen. Sollte er ein Leben lang Erde schaufeln, Kuhställe ausmisten, Trecker fahren, eine Arbeit verrichten, die er weder beherrschte noch mochte? Da bot sich ihm ein Schlupfloch aus der Misere an: Schon lange hatte Volker eine freundschaftliche Beziehung zum Pfarrer des Ortes, dem alten Herrn Günzel. Als der das Unmögliche wahrnahm, wie hier eine erfolgversprechende Karriere verbaut werden sollte, engagierte sich der Mann und brachte den jungen Bruck in München an der hiesigen Universität unter. Das war im Herbst des Jahres 1960. Nicht für alle Zeit sollte Volker in den Westen gehen, sondern sich Qualifikation und Ruf erwerben und dann nach Hause zurückkehren. So war es eingefädelt und ging zunächst auch auf. Die Eltern berichteten den Nachbarn stolz von ihrem begabten Sohn, zeigten dessen Briefe herum, erzählten von den Telefonaten, man ließ Liebesgaben hin und her gehen, und die Leute bewunderten den hoffnungsvollen Spross der Bruck-Familie. Eines Tages knirschte es im Gebälk. Volker war vor die Wahl gestellt: Hals über Kopf die Koffer packen und heimfahren, um die Familie zu kitten, oder sich hier einrichten. Ohne Promotion wäre er daheim ein Blatt im Wind. Dazu kam die Frage: Wovon sollte er leben? Kuhställe ausmisten und Trecker fahren? Er blieb hier. Abbruch aller Kontakte. Keine Lebenszeichen mehr. Er richtete sich in der neuen Heimat ein. Er durchlebte Jahre schweren Heimwehs und klammerte sich an die letzten Worte der Mutter: „Versuche in der Fremde unterzukommen, mein Junge. Hier haben wir kein Glück gehabt.“ Diese Worte waren für ihn Rechtfertigung seines Handelns und Auftrag zugleich.
„Eine gewissen Bequemlichkeit hat zur Entscheidung wohl auch beigetragen?“, sagte Maria. Er stutzte ob der Punktlandung. Maria hatte ein bewundernswertes, sehr feines Gespür für sein Befinden. „Mag sein“, gab Volker Bruck zu und bekräftigte: