Katharina Johanson

Volker Bruck


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waren, und betrat die Kerkower Hauptstraße. Rechts und links flankierten Bauernhöfe den Weg. Kerkow war ein lang gestrecktes Straßendorf und praktisch unverändert seit der askanischen Gründung.

      Die Höfe an der Hauptstraße gehörten samt und sonders dem Kerkower Uraltgeschlecht, Bauern, die seit Generationen hier lebten und schafften. Kaum einer von denen blickte nicht auf einen Stammbaum von hundert und mehr Jahren zurück, wobei hier und da sicher Informationen über Abstammung und Verzweigung verloren gegangen waren. Wo Informationen fehlen, werden Legenden gesponnen. Wer vorn an der Straße wohnte, hielt sich für was Besseres und bestimmte im Großen und Ganzen über weite Strecken die öffentliche Meinung von Kerkow. Volker Bruck spürte auch jetzt noch aufdringlich: Hier vorn wohnt die Autorität des Ortes.

      Er bog auf der rechten Straßenseite in die zwischen zwei Altbauernhöfen eingefügte Gasse ein und betrat den schmalen Weg zur Neubauernsiedlung. Die war hinter den Höfen der Altbauern, sozusagen in zweiter Reihe, errichtet worden. Die Neubauern, Ausgewiesene aus Ostpreußen und ein paar Städter aus der damals zerstörten Metropole Berlin, hatten nach fünfundvierzig hier Land zum bewirtschaften erhalten und sich ihr Heim gebaut. Das Vaterhaus des Volker Bruck stand in der zweiten Reihe.

      Als die Brucks sechsundvierzig nach Kerkow kamen, war Volker noch so klein gewesen, dass er der Anfänge nicht erinnerte. Allerdings war der Anfang wohl schwer gewesen, die Alten berichteten mitunter davon, dass ein regelrechter Krieg zwischen Alteingesessenen und Zugezogenen entbrannt war. Doch mit den Jahren schliffen sich Ecken und Kanten ab und die Leute verbreiteten sich in wahren Heldensagen über den siegreichen, für alle zuträglichen Start in eine lichte Zukunft. So erzählte man es den Kindern, so nahmen es dann auch die Geschichtsbücher auf: Man versöhnte sich, stiftete Frieden, vergaß und wirtschaftete schließlich zum Wohlgefallen aller in einer großen Genossenschaft.

      Allein, der alte Zwist erlosch nie gänzlich. Ab und an schossen Widersprüche wie die Lava aus einem ruhig geglaubten Vulkan hervor. Dann geriet einer der Leute ins Feuer und wenn er nicht verbrennen wollte, musste er bei Nacht und Nebel fliehen. War es Flucht gewesen?, fragte sich Volker Bruck. Nun ja, nicht gerade Flucht, schränkte er ein, aber man musste doch zumindest temporär raus aus diesem Wust an Streitereien, um nicht runtergezogen zu werden. Wollte man zurückkehren, wurde man von den eigenen Leuten ausgestoßen! Diese Erinnerung war bitter.

      Volker Bruck fand sein Ziel. Sein Elternhaus war das fünfte Gehöft in einer schnurgeraden Reihe von Bauernhöfen. In dem Moment, als er die Hand zum Klingelknopf an der Pforte hob, verließ ihn der Mut. Er stand draußen und zauderte. Der Mond verschwand hinter den Wolken, der Wind wurde stärker, Regen kam auf. Umkehren war genauso unbehaglich wie sich melden. Er riss sich zusammen und drückte den kleinen Zylinder nieder.

      An der Haustür flammte Licht auf, es wurde geöffnet, man rief: „Wer da?“. Dazu eine zweite Stimme: „Das wird der Volker sein.“ Der Mann durchschritt den Vorgarten, stieg ein paar Stufen hoch und ward augenblicklich im schmalen Hausflur von einer Menschenmenge umringt. Ihn drückten, küssten und tätschelten viele Leiber, Münder und Hände. Sie redeten auf ihn ein. Volker Bruck fühlte sich arg bedrängt. Allmählich unterschied er von erklärenden Worten begleitet: Die Schwägerin Karin, Nachbarn und Nachbars Kinder. Abseits, zusammengedrückt, klein und schrumpelig stand die Mutter. Sie hatte die Hände vor dem Gesicht und schluchzte. Volker drängelte sich durch den Menschenhaufen, legte der Mutter die Arme um die Schultern und tröstete, den Mund dicht an ihrem Ohr: „Ist ja gut. Jetzt bin ich ja da.“ Die Mutter belebte sich und ergriff Volkers Hand. Der schaute sich um. Wo ist der Vater? „Der Vater ist krank“, sagte sie leise. Die anderen nickten mitleidig.

      Sie schoben ihn in die geräumige Wohnküche, nötigten ihn auf einen extra für ihn frei gehaltenen Stuhl und nahmen ihrerseits die angestammten Plätze wieder ein, um die soeben unterbrochene Mahlzeit fortzusetzen. Vor Volker wurde ein Gedeck hingestellt. Er solle sich bedienen, sagten sie ihm. Bruck überblickte den Raum. Es hatte sich nichts verändert, nur schien die Küche damals größer gewesen zu sein. Oder trügt der Schein, weil jetzt hier so viele Menschen dicht bei dicht um den mit Speisen und Getränken reich beladenen Tisch herum saßen? Alle langten gierig zu, aßen, kleckerten, schmatzten auch. Man ließ sich nicht stören, auferlegte sich keine Scheu. Nur Volker Bruck mochte keinen Bissen herunter bringen, und die Mutter saß, das Taschentuch immer wieder zu den Augen führend, still neben dem Sohn und konnte auch nichts essen.

      Das Geklapper des Bestecks und die Kaugeräusche verebbten. Da griff einer zum Glas, hob es an und sprach feierlich: „Nun, lieber Volker, ich bin der Holger, wenn ich mich nochmal vorstellen darf.“ Der Mann erhob sich schwerfällig und fuhr fort: „Dann wollen wir Dich mal herzlich willkommen heißen. Prost, Leute!“ Die anderen Erwachsenen taten es dem Redner nach. Die Kinder leerten ihr Glas Limonade. Nur die Mutter und Volker blieben unbewegt. Schwägerin Karin stand diensteifrig auf, räumte den Tisch ab, begann geräuschvoll zu spülen. Die Kinder trollten sich. Die Erwachsenen rückten um Volker herum zusammen.

      „Nu, erzähl ma‘! Wie war die Reise? Was machst Du so? Wie geht es Dir?“, eröffnete Holger leutselig den gemütlichen Teil des Abends. Volker wusste nicht, was er sagen sollte. Nervös nestelte er an seiner Brille. Höflich wäre es, ein bisschen was von sich zu erzählen und dann seinerseits freundliche Fragen zu stellen. Er fand keinen Anfang. Der fest im Raum stehende Geruch aus fettigem Fleisch und Alkohol machte den Mann schwindlig. Er schaute fragend in die rot geriebenen Augen seiner Mutter. Sie saß gebückt und klein neben ihm. Endlich sagte sie: „Kinder, der Junge wird müde sein. Ich schlage vor, wir vertagen uns.“

      Unwillig brummend, maulend, was von „blöde gelaufen“ murmelnd, verdrückten sich die Gäste aus der Küche, riefen ihre Kinder im Haus zusammen, zogen Jacken über, schlüpften in Schuhe und die Haustür schlug zu. „Wirst müde sein“, wiederholte die Mutter in der eingetretenen Stille. Volker nickte.

      Die Mutter voran stiegen sie die schmale Treppe zum Obergeschoss hinauf und nun redete sie aufgeregt: „Ich habe Dein Zimmer hergerichtet. Wirst alles wie früher vorfinden. Du sollst Dich wohl fühlen. Richte Dich bissel ein, und wenn Du noch was brauchst, ruf mich nur. Auch in der Nacht. Ich habe keinen festen Schlaf mehr.“ Sie standen sich in der Tür gegenüber. Da fragte der Sohn: „Und der Vater?“ - „Ach, Junge, das muss bis morgen Zeit haben. Schlaf gut.“

      Die Alte entfernte sich. Volker lief ihr nach, nahm sie an der Treppe beim Arm und drang auf sie ein: „Mutter, sag doch, was ist mit Vater!“ Die Mutter seufzte auf, wollte nicht erzählen und berichtete dann in kurzen abgehackten Sätzen: „Vor einem halben Jahr, wie der Peter fortging, schlug es den Vater um. Nun liegt er im Pflegeheim und wartet auf den Tod. Ich mag ihn kaum besuchen, der Anblick ist schlimm, und sterben muss ja doch jeder für sich allein.“ Volker Bruck konnte es nicht glauben. Der große, starke Vater sterbend in einem Heim. „Wann darf ich zu ihm?“, fragte er mit belegter Stimme. Die Mutter: „Ist das so wichtig?“ Als sie Volkers Befremden wahrnahm, schob sie versöhnlich nach: „Morgen vielleicht, ja?“ Sie wandte sich ab. Er ging in sein Zimmer zurück.

      Die alte Bruck betrat die Küche. Aufzuräumen war nichts mehr. Das hatte Schwiegertochter Karin anständig und sauber erledigt. Kraftvoll riss die Frau das Fenster auf. „Es stinkt!“, murrte sie halblaut, setzte sich auf einen Stuhl, atmete die frische Luft ein und reflektierte den Abend. Den fand sie misslungen, wenn nicht erbärmlich. Die Idee, Volkers Ankunft, wie die Heimkehr des verlorenen Sohnes zu feiern, war den Nachbarn gekommen. Neugierde war das erste Motiv der Leute gewesen. Dazu kam, dass sie keine Gelegenheit ausließen, sich bei anderen durchzufuttern und bis zum Eichstrich zu saufen. Karin hätte die ganze Geschichte ohne Aufheben abbiegen können. Auf Karin hörte man hier in diesen Kreisen. Sie tat es nicht. „Wer weiß, ob wir die Leute nicht noch brauchen. So eine kleine Feier schadet doch nicht. Der Volker wird sich freuen.“ Also feierten sie. „Dabei war es der Karin doch gar nicht um den Schwager gegangen, sich ihm gut zu stellen“, legte sich die Frau im Selbstgespräch vor, „kein Wort hat sie mit ihm geredet. Es lag der Karin daran, den Volker von Anfang an zu vergraulen. Und ich? Sitze da, heule und krieg‘ auch kein Wort raus.“ Die frische Luft tat gut, förderte nüchterne Überlegungen. Ich werde der Karin morgen ins Gewissen reden, nahm sich die alte Frau vor, schloss das Fenster und ging zu Bett.

      Volker räumte