März 1991
Nach Stunden erwachte der Mann. Er war völlig zerschlagen und durchgefroren. Von der Küche unten drangen Wirtschaftsgeräusche, Gesprächsfetzen, der Geruch von frischem Backwerk und Kaffeeduft zog zu ihm nach oben. Volker hatte halb liegend, halb sitzend zwischen den Bücherstapeln im Flur genächtigt. Er erhob sich mühsam. Erst aufräumen, alles wieder rein in die Kammer, dann waschen und anziehen, nahm der Mann krampfig seine Gedanken zusammen, dann hinuntergehen und frühstücken. In seinen Därmen wühlte ein Bärenhunger. Später wollte er die Lage sondieren.
Er stapelte die Bücher so zusammen, wie er glaubte, sie gestern vorgefunden zu haben.
Da kam Schwägerin Karin die Treppe hoch und sagte freundlich: „Guten Morgen, Volker. Wollte Dich grade zum Frühstück holen.“ Der Mann hielt erschrocken inne und wendete sich langsam um. Aha, die Diebesbraut!, gaukelten ihm sein übernächtigtes Gehirn vor. Karin die Situation auf ihre Weise deutend: „Ich sehe, Du hast Dir schon was ausgesucht.“ Volker fehlten die Worte bei so viel Unverfrorenheit. Meinte die Frau etwa, er habe sich seinen Anteil an der Beute bereits gesichert und damit freiwillig in ihre Hand begeben? So war es gar nicht!
Karin schaute in sein verdutztes Gesicht und folgerte richtig: Dem fehlen eine Masse Informationen. Sie erklärte anteilnehmend: „Das hätten wir Dir gestern Abend eigentlich gleich noch zeigen sollen. Aber alle waren ja auch irgendwie müde und abgespannt. Es sind nämlich richtig gute Sachen dabei, auch Bildbände, wie Du sie magst. Und was über Kunstgeschichte.“ Sie griff in einen Bücherstapel und zog einen dicken Wälzer heraus, betrachtete ihn, legte ihn enttäuscht wieder weg und sagte entschuldigend: „Schade, ich dachte, da wäre er gleich. Müssen wir dann eben andermal systematisch suchen. Gesehen habe ich ihn aber schon. Ich meine den Hamann.“ Sie lächelte Verständnis erheischend. Dem Volker vermischten sich Misstrauen, Abneigung und Sympathie.
Woher wusste diese ihm völlig unbekannte Frau von seinen literarischen Vorlieben? Sie hatte soeben derart vertraulich das Gespräch eröffnet, als wäre er nie fort gewesen. Woher kam diese plötzliche Nähe? Nähe, die augenblicklich sein Misstrauen nährte. Ach was, schob Volker den Gedanken weg, Schwägerin Karin, mag zufällig den richtigen Nerv getroffen haben. Trotz erzwungener Beruhigung nahm er sich vor, wachsam zu sein.
„Mutter und ich warten in der Küche auf Dich“, sprach sie, wendete sich ab und stieg die Treppe geschwind hinab. Der Mann ließ die Bücher liegen, ging in sein Zimmer und richtete sich für den Tag her.
Während er sich anzog, erinnerte er sich seiner ersten Begegnungen mit Hamann.
Auf der Suche nach brauchbaren kunsttheoretischen Erläuterungen war der junge Bruck auf die „Geschichte der Kunst“ von Richard Hamann gestoßen, hatte sich darin vertieft und das Werk lieben gelernt. Unmöglich konnte Volker die beiden Bände auch käuflich erwerben, so gern er die Bücher auch ständig bei sich gehabt hätte. Hamanns Kunstgeschichte war rasch vergriffen gewesen, und so musste sich der Junge mit der Lektüre in der Privatbibliothek von Pfarrer Günzel zufrieden geben. Volker sog jedes Wort der immerhin zweitausend Seiten umfassenden Abhandlung mit wahrer Gier und größter Lust ein. Und je weiter er vorwärts kam, umso mehr eröffnete sich ihm das Reich der Kunst als Wissens- und Lebensquell.
Einmal sagte der Pfarrer zu dem lerneifrigen Jungen: „Du weißt schon, dass der Hamann an der Berliner Universität zuweilen noch immer liest.“ Nein, das wusste der damals Fünfzehnjährige nicht. Derart angeregt von seiner Lektüre und Günzels Hinweis spionierte der Knabe die Gegebenheiten an der Universität aus und setzte sich still und bescheiden in die letzte Reihe des großen Hörsaals, um dem Meister zu lauschen. Für immerhin neunzig Minuten entrückte Volker der Realität und erlebte eintauchend in die wunderbare Welt von Bildnerei und Architektur die Erhabenheit ästhetischen Schaffens.
Volker tarnte seine Unternehmungen gut, denn für die Ausflüge nach Berlin musste der Junge die Schule schwänzen und die häuslichen Pflichten vernachlässigen, aber irgendein Denunziant findet sich ja immer. So war denn die Kehrseite seiner Visiten in die schöne Welt Stubenarrest und Essensentzug. Das schmerzte nicht sehr, weil die Mutter ihm Essen heimlich zusteckte und Volker das Herumstromern sowieso nicht mochte.
Gern hätte sich der junge Bruck mit dem großen weisen Richard Hamann in kunsttheoretischen Fragen beraten. Ein persönliche Annäherung an den geschätzten Gelehrten wusste er nicht zu bewerkstelligen, also verliebte er sich immer mehr in dessen schriftliche Auslassungen, bis er eines Tages flehend den Pfarrer bat, ihm Hamanns Werk zu überlassen. Der Pfarrer Günzel, lehnte das Anliegen aktuell ab und vertröstete auf später. „Ja, vielleicht in ein paar Jahren, wenn Du wirklich Kunsttheorie studiert haben wirst.“ Er sagte es nicht, doch Volker spürte genau, dass er wie alle anderen dieses Interesse für Kunst als jugendliche Schwärmerei abtat und für vergänglich hielt.
Allein, ich blieb dran, wie man heute sieht, dachte der Mann bei sich, besah seinen Aufzug im Spiegel und stieg die Treppe hinunter.
Volker Bruck erschien in der Küchentür. Das Gespräch der Frauen brach abrupt ab. Auf ihn machte die Küche jetzt den Eindruck wie ehedem: Alles zweckmäßig angeordnet, die frische, duftende Atmosphäre des frühen Morgens, der Tisch verkleinert auf vier Plätze. Das war sein Elternhaus. So mochte er es annehmen. Volker grüßte: „Guten Morgen.“ Die Mutter dankte, Karin nickte. Der Tisch war für drei gedeckt, die Frauen hatten bereits Platz genommen, er setzte sich ebenfalls. Karin eifrig: „Kaffee oder Tee?“ Volker wählte Kaffee, Karin goss ihm ein und rückte Zuckerdose und Sahnekännchen auffordernd in seine Nähe. Sie aßen schweigend.
Als die Servietten zerknüllt auf den Tellern lagen, richtete Karin das Wort an Volker: „Was hast Du vor?“ Er fuhr zusammen. Der Ton! Die Frage! Sind wir hier beim Barras?
Unbeabsichtigt war die Frau in die Diktion der Herrin von Haus und Hof verfallen. Üblicher Weise duldete die Mutter diese Art, jetzt missbilligte sie die Forschheit und beschwor die Schwiegertochter: „Karin! - Karin, das ist doch unser Volker.“ Einwand und Milde förderten Karins Widerwillen. „Man wird doch wohl erfahren dürfen, womit der Herr Doktor gedenkt, seine Tage hier zu gestalten“, rechtfertigte sie sich spitz. Volker Bruck fühlte sich vor den Kopf gestoßen. Ich bin nicht willkommen, registrierte er, welch sinnloses Unterfangen. Kurz entschlossen: Ich werde mich hier nicht lange festsetzen.
Die alte Bruck versuchte zu schlichten. Sie kannte die an Paranoia grenzenden Verlustängste ihrer Schwiegertochter, den unter einer harten Schale verborgenen sehr weichen Kern. Ihr lag aber auch am Sohn, dessen empfindsames Wesen nicht mal eine harte Schale schützte. Begütigend sprach die Alte: „Kinder, vertragt Euch! Es ist nichts Schlimmes passiert und es wird auch nichts Schlimmes passieren. Der Volker macht ein paar Tage Urlaub, nicht wahr? Wir schwatzen ein wenig und lassen es uns gut gehen, nicht wahr?“
Karin riss sich zusammen. An der Schwiegermutter lag ihr, an dem Schwager nichts. Der kam jetzt schlimmsten Falls alle Jubeljahre für ein paar Tage auf Besuch. Sie wollte sich drauf einstellen. „Schwamm drüber!“, verkündete sie burschikos und reichte dem Bruck die Hand über den Tisch. Dem war diese Annäherung unangenehm. Zögernd nahm er die Hand. Die Mutter segnete den Bund: „Recht so, Kinder.“ Gezwungen, nichtssagende Themen berührend näherten die drei Menschen sich vorsichtig einander an.
Karin Brucks raue Art war die Frucht bitterer Enttäuschungen, dabei hatte sie ehedem mutig und talentiert ihren Lebensweg beschritten. Sie beherrschte ihr Handwerk, die Autoschlosserei, konnte sich unter Männern durchsetzen. Mehr noch, sie schaffte in der Gemeinde, war hilfsbereit und entgegenkommend. Allerdings waren ihr die letzten anderthalb Jahre wie ein Alptraum vorgekommen. Die Veränderungen im Land kamen wie ein Gewitter über die junge Bruck, aber anstatt die Dinge zu reinigen, hatte dieses Gewitter undurchsichtigen Nebel hinterlassen, in dem Karin hilflos vorwärts tappte. Das Schlimmste von allem war die gottverfluchte Einsamkeit, die Not, mit allem allein fertig werden zu müssen. Freunde waren da. Ja. Aber Freunde sind eben nur Freunde. Familie war in Karins Augen mehr. Und die war an der Wende zerbrochen. Kaum ein paar Wochen nach der Währungsunion hatten sich Karins drei Kinder, der Arne, die Lea und die Pia, in alle Winde zerstreut. „Mutter, man will doch was von der Welt sehen“, war die Begründung gewesen und es hieß zum Abschied: „Ist doch nicht auf