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Er wischte es fort. Warum habe ich eigentlich nie ein Bild für meine Helena gemalt? Sie hätte sich bestimmt gefreut. Sie war so empfänglich für kleine romantische Szenen. Stattdessen schenkte ich Schmuck und Kleider. Vergänglichen Plunder. Schade drum. Ein feines, schmerzhaftes Ziehen ging durch Brucks Brust. Helena ist hier, spürte er. Er schaute sich unwillkürlich um. Keine Menschenseele war zu sehen. Bruck nannte sich einen Narren und zwang sich zurück in die Gedanken über Malerei. Die Nähe der Helena ließ sich jedoch abschütteln. Da nahm er sie bereitwillig an die Hand und schritt mit ihr weit, immer weiter hinaus.

      Der Mann erschöpfte sich angenehm im Laufen. Der Hund folgte seiner Spur. Ein Wassergraben versperrte den Weg. Bruck hielt an. Der Hund war mit einem Satz drüben und lockte winselnd. „Da muss ich passen“, gestand Volker schmunzelnd und rief den Hund: „Wir gehen heim.“ Das Tier gehorchte. Die Siedlung nun im Blickfeld beschritt Bruck den Feldweg. Ein Windstoß blähte ihm den Mantel. Das Bild der Helena vermischte sich mit dem Wind, wurde fortgetragen, entschwand. Der Mann blieb stehen, registrierte verwundert die Erscheinung, und ganz ohne Wehmut fühlte er sich freigegeben.

      Karin und Mutter Bruck bereiteten das Mittagessen zu. Sie wirtschaften gemeinsam. Es lohnte nicht mehr zwei Haushaltungen zu führen. Karin ging nur zum Schlafen rüber in ihr Wohnhaus.

      Sie nahm das morgendliche Gespräch wieder auf: „Es mag gut sein, dass der Volker hier ist.“ So ein Gesinnungswandel?, wunderte sich die Alte. Karin erklärte: „Er kann uns wirklich ein bisschen unter die Arme greifen.“ Die Mutter: „Ich wüsste nicht womit.“ - „Ein Hof ohne Mann, ist schließlich auch nur eine halbe Sache.“ Die alte Bruck entgegnete: „Die Landwirtschaft geben wir auf und alles andere hast Du doch im Griff.“

      Die junge Frau Bruck entwickelte ihre neuesten Einsichten. Sie hatte dem Volker vorhin eine Weile nachgesehen, wie der mit dem Hund loszog. In Anzug und Mantel machte der Mann einen ansehnlichen Eindruck. Wenn der sich aus familiärer Verbundenheit der hiesigen Wirtschaft zuwenden würde, wäre das eigentlich ein Schnäppchen, und könnte folgende Form annehmen: Karin zieht die Autowerkstatt auf, arbeitet mit den Schlossern im Hintergrund. Volker mimt den Chef und stellt sozusagen die Autorität dar. Er treibt das Geld bei den Kunden ein und führt Aufsicht über die Buchhaltung. „Er soll ja gar nicht arbeiten, nur eine gute Figur machen“, beendete Karin ihren Vortrag.

      Wohlwollend vermerkte die alte Bruck, dass Karin bereit war, sich mit Volker zu arrangieren. Aber sie wendete ein: „Ob er hier bleibt oder nicht, ist noch gar nicht raus. Außerdem würde ihn ein Leben, nur so, um eine gute Figur zu machen, gar nicht ausfüllen. Wie Du Dir das denkst! Man stellt sich doch nicht einfach jemanden auf den Hof und schon kuschen alle. Ist doch Quatsch.“ Karin eindringlich: „Du musst Dir das nicht so plakativ vorstellen. Volker kann doch hier leben, meinetwegen kann er sogar mein Haus haben. Ich bleibe dann ganz bei Dir“, Karin lächelte die Alte gewinnend an, „da schreibt er dann seine Bücher, betreibt seine Forschungen und so weiter. Im Großen und Ganzen ist er aber endlich wieder ein Bruck der Herr im Haus.“ Karin strahlte naiv. Die alte Frau registrierte: Jetzt ist der eine Sicherung durchgebrannt! Ich wusste gar nicht, wie sehr die Karin gelitten hat.

      Sie gab vorsichtig zu bedenken: „Mädel, das geht nicht. Vielleicht hat er eine Frau zu Hause und er kann seine Verpflichtungen dort gar nicht auflösen. Der schmeißt doch nicht so einfach alles hin. Der ist doch gewissenhaft und bodenständig.“ - „Sieht man ja! Deshalb ist er damals auch abgehauen“, entgegnete Karin gereizt. „Das kannst Du nicht beurteilen, bist nicht dabei gewesen“, fuhr die Alte dazwischen, mäßigte sich und warb gefühlvoll: „Der Volker ist doch so empfindsam und gar nicht für unser Leben hier abgerichtet. Das wird nichts. Der geht hier ein.“ Karin geiferte gehässig: „Das zarte Jüngelchen.“ Die Alte versöhnlich: „Karin, lass uns nichts überstürzen. Er ist doch gerade erst einen halben Tag hier.“ Die junge Bruck schluckte weitere Widerworte runter. Sie wollte keinen Streit. Sie tröstete sich: Kommt Zeit, kommt Rat.

      Die alte Bruck nahm einen Eimer zur Hand, legte ein paar Kohlen hinein, stapelte Holzscheite darüber, klemmte sich eine Zeitung unter den Arm und gab der Karin Bescheid: „Ich geh‘ mal oben anheizen.“ Sie hörte nicht mehr, wie die andere eifersüchtig maulte: „Verwöhne den nur, das zarte Jüngelchen.“

      Mühsam stieg die Frau die schmale Treppe hinauf. Erinnerungen strömten ihr zu: Es war nicht leicht gewesen, die Heizstellen für die Kinderzimmer durchzusetzen. Unten im Haus heizten sie seit eh und je alle Räume von der Küche aus. Das Ergebnis war, dass in der Küche ewig die bullige Hitze stand, das Wohnzimmer mäßig warm wurde und das Schlafzimmer einer Eishöhle glich. Solange die Kinder klein waren und bei den Eltern schliefen, legte Mutter denen angewärmte Steine zu Füßen, damit die Jungs in den sehr ausgekühlten Betten überhaupt zur Ruhe kommen konnten. Als die Kinder nach oben umzogen, sperrte sich der Vater vehement, hier Öfen aufstellen zu lassen. „Wir hatten früher auch immer nur eine Heizstelle im Haus“, argumentierte der Vater, „so lang ist der Winter doch gar nicht und so kalt auch nicht. Die Jungs werden abgehärtet!“ Was der Vater als Abhärtung bezeichnete, war für die Mutter unnötiger Zwang, und die Zeiten waren ja auch längst vorbei. Man schrieb das Jahr fünfundfünfzig.

      Hatte der Alte denn vergessen? Wie wohnte das Gesinde in den Zwanziger-, Dreißigerjahren? Das Gesindehaus auf dem Gutshof war ein langgestreckter, hoher Bau, ähnlich dem der Getreide-, Holz- oder Futterspeicher. Ein Speicher. Ja, ein Menschenspeicher! Im Erdgeschoss befand sich mittig im Raum ein großer, grob gezimmerter Tisch, darunter Bänke. Hier nahm das Volk, jung und alt alle gemeinsam, seine Mahlzeiten ein. An der Stirnseite des Tisches gab es eine feste Kochstelle, mit der gleichzeitig das ganze Haus beheizt wurde. Seitlich führten Stiegen in die offene zweite Etage zur Galerie. Da oben reihten sich wie Schwalbennester die Schlafnischen aneinander und boten den Leuten eine gewisse Intimität zur Nacht. Im Sommer war‘s zu warm, im Winter war‘s zu kalt. Wenn Vater Bruck im Jahr fünfundfünfzig behauptete, das hätte der Abhärtung gedient, dann hatte er vergessen, dass in den Schwalbennestern die Jungen wie die Fliegen starben. Die meisten Mägde kamen jährlich einmal nieder und es gelang ihnen schließlich nur ganz selten mal, ein Kind bis zum vierzehnten Lebensjahr aufzuziehen.

      Dass der Brucks erstes Kind gedieh, verdankten sie des Vaters Durchsetzungsvermögen. Der hatte sich durch seine gute Arbeit und durch seinen aufgeklärten Sinn eine gewisse Autorität unterm Gesinde und beim Inspektor verschafft. Der Vater verfügte unumwunden: „Meine Frau bleibt im Wochenbett oder ich schmeiße alles hin.“ Nach dem Wochenbett setzte Bruck für seine Frau hausnahe Arbeit durch. Da konnte die junge Mutter ihr Kind pflegen und beaufsichtigen.

      Jetzt wollte der Bruck das alles vergessen haben? Er lobte sich die Härte ihres damaligen Daseins? Er verweigerte den Kindern die Öfen?

      Geschickt musste die Mutter vorgehen, um bei ihrem Mann zum Ziel zu kommen. Sie zeichnete den Fortschritt, jene Erfolge, die er mit seiner schweren, opferbereiten Arbeit auch für die hiesige Gemeinde geschaffen hatte, nach und stellte dann die Frage: „Sollen die Kinder davon nicht profitieren? Sollen ausgerechnet die Kinder des LPG-Vorsitzenden im Kalten sitzen?“ Vater Bruck brabbelte was von „überzogenem Luxus“ und „sinnloser Geldausgabe“, stiefelte zum Ofenbauer und bestellte zwei kleine Öfen. Von da an hatten es die Jungen schön warm in ihren Kinderzimmern.

      Dem Peter mochte das eigentlich egal sein, er war sowieso immer draußen auf den Feldern und in den Ställen bei den Bauern. Der kam selbst im tiefsten Winter noch hoch erhitzt heim und sprudelte förmlich vor Energie. Aber der Volker, Tag und Nacht über den Büchern sitzend, der wäre hier oben erfroren, sinnierte die sorgende Mutter, kehrte die Asche vom Ofenblech, kontrollierte noch einmal das lodernde Feuer und stieg dann zufrieden die Treppe hinab. Auch Frühlingsnächte können empfindlich kühl sein, sagte sie zu sich, und der Volker soll sich doch wohl fühlen, wenn er schon mal zu Hause ist.

      Auf Abend zu gingen die beiden Frauen, Schwägerin Karin und Mutter Bruck, und der Volker zum Vater ins Pflegeheim. Der Hund trottete brav hinterher, schnüffelte hier und da und ließ seine Herrchen nicht aus den Augen. Der Weg zum Pflegeheim war nicht weit. Ein paar Schritte durch die Siedlung und schon sah Volker Bruck das schlichte Gebäude, angrenzend an den um die Kirche liegenden Friedhof.

      „Wie geschmackvoll“, kommentierte der Mann seine Beobachtung,