Katharina Johanson

Volker Bruck


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und zwei Bücher auf dem kleinen Tisch. Er war nicht müde. Es war gerade mal einundzwanzig Uhr. So zeitig pflegte er niemals schlafen zu gehen. Er zog sich aus, schlüpfte in seinen Schlafanzug, steckte die Füße in weiche Pantoffeln und schlurfte mit dem Waschzeug unterm Arm in den Flur hinaus. Am hinteren Ende des Flurs, gleich neben der Tür zur Nähstube der Mutter, befand sich das Waschbecken. Volker erledigte eine Katzenwäsche und träumte sich in die Vergangenheit zurück.

      Dieses Waschbecken war lange Zeit Streitobjekt zwischen Volker und seinem Bruder gewesen. Die beiden Knaben, die hier oben unterm Dach ihre Stuben hatten, zankten jeden Morgen um den ersten Platz für die Morgentoilette. Die Rangelei artete in eine wilde Schlägerei aus, die Volker regelmäßig verlor, weil der andere eindeutig stärker war. Dann trödelte der solange mit Waschen und Zähneputzen, bis Volker trotz größter Eile zu spät zum Frühstückstisch kam und von den Eltern ob seiner Langsamkeit ermahnt, manchmal sogar des Tisches verwiesen wurde. Bruder Peter heizte die morgendliche Missstimmung mit gehässigen Bemerkungen an. Volker rechtfertigte sich nie, deshalb brauchte es eine Zeit, bis die Mutter das Treiben durchschaute. Mit ihren Appellen an die Vernunft erreichte sie bei Peter gar nichts. Der Vater musste eingreifen. Er befestigte einen Zettel mit rotierenden Benutzungszeiten neben dem Waschbecken und verfügte mit drohender Stimme: „Wer sich nicht an die Regeln hält, wäscht sich künftig unten im Hof an der Pumpe. Und das für alle Zeit!“ Die Autorität des Vaters im Haus war unbestreitbar. Peter unterstellte dem Bruder „Du alte Petze!“ und fügte sich murrend. Volker gewann zwar ein Stück Ruhe und Ordnung im Tagesverlauf, verlor jedoch um ein weiteres Quantum die brüderliche Sympathie.

      Der Mann schlurfte zurück in sein Zimmer, breitete das feuchte Handtuch fein säuberlich über die Stuhllehne und legte sich ins Bett. Die Wäsche knisterte leise und verströmte einen angenehmen Duft. So kannte er es von früher. Der Mutter hoher Ehrgeiz waren ausgiebig gelüftete, strahlend sauber bezogene Betten. In solch einem Bett schlief man wie im Himmel. Später, in den langen Jahren nach der Kindheit, hat Volker nie wieder so ein Einschlafgefühl verspürt. Er schloss die Augen, wollte hinüber dämmern. Allein, der Schlaf stellte sich nicht ein. Er stand missmutig auf, öffnete das Fenster und ließ die Nachtluft herein. Er lauschte. Es war mucksmäuschenstill. Von sehr fern waren schwach Bahn- und Autogeräusche auszumachen. Für den Mann am Fenster verknüpfte sich diese Ruhe nicht mit der Kindheit.

      Damals war im Hof immer noch lange, nachdem die Jungen ins Bett geschickt worden waren, Lärm, Unterhaltung, Bewegung gewesen. Nicht nur bei den Brucks, sondern bei allen Bauern, begann nach dem Abendessen noch eine letzte Schicht auf dem eigenen Hof. Die Geschäftigkeit der Eltern nutzten viele Halbwüchsige aus, ihre Schlafzimmer durchs Fenster zu verlassen, sich mit Gleichgesinnten am Waldrand zu treffen und abenteuerliche Spiele in der hereinbrechenden Nacht zu veranstalten. Manchmal wurden sie entdeckt. Dann gab es einen fürchterlichen Krach. Das konnte die Jungen und Mädchen nicht hindern. Sie wurden nur vorsichtiger.

      Bruder Peter schloss sich oft den kleinen Abenteurern an. Er entwich durchs Fenster, übers Schuppendach ins Freie. Allerdings lag der bequeme Abstieg auf der von Volker bewohnten Hausseite, so dass der unweigerlich Zeuge dieser Ausflüge wurde. Peter pflegte mit der Faust zu drohen und sich zu verabschieden: „Wehe, wenn Du petzt!“ Volker blieb daheim und las mit der Taschenlampe unter der Zudecke. Wurde Peter erwischt, lud er seinen Groll über das Missgeschick handgreiflich auf Volkers Buckel ab. Da halfen keine Beteuerungen. Peter war der Überzeugung, verraten worden zu sein, und fundamentierte damit die gegenseitige Abneigung. Schade, meinte Bruck bei sich, ich hätte gern meinen Bruder als Freund gehabt.

      Volker hatte eigentlich nie richtige Freunde. Er liebte die Bücher, das Lernen, pflegte sein Interesse für die schönen Künste. Damit kam er bei den Gleichaltrigen kaum an, obwohl er dem Theaterklub, dem Lesezirkel, der Gruppe schreibender Pioniere die Treue hielt, waren auch dort seine Bekanntschaften nur flüchtig, denn die anderen Kinder beschränkten ihre Teilnahme an den schöngeistigen Arbeitsgemeinschaften auf ein bis zwei Visiten, um sich rasch und dauerhaft den Naturforschern, den Modellbauern oder den Wanderfreunden anzuschließen. Feste Bindungen zu anderen Kindern waren dem Volker also nicht möglich. Da hielt er sich eher zu den Erwachsenen: Die Mutter sowieso, die Lehrer und der Pfarrer. Von denen fühlte er sich verstanden. Sie lobten den wissbegierigen, zurückhaltenden Knaben.

      Die Mutter hatte alle Male viel zu wenig Zeit für ihre Kinder. Sie schaffte unermüdlich in der Genossenschaft, hier auf dem Hof und im Haus. Ihre Hände rührten sich ständig. Volker kannte sie nicht anders als arbeitend. In der kleinen Kammer am hinteren Ende des oberen Flurs hatte die Mutter ihre Nähstube eingerichtet, und wenn sie dort ihre Flickerei betrieb, huschte der Volker herein, setzte sich auf ein Fußbänkchen und sie redeten von Gott und der Welt. Die angeborene Nähe zwischen Mutter und Sohn blieb nicht nur erhalten, sie verfestigte sich mit den Jahren. Während andere Kinder das Band zur Mutter mit zunehmendem Alter stürmisch lösen, hielten die Seelen der beiden sich fest umschlungen.

      Unschlüssig stand Volker am Fenster.

      Der Regen hatte nachgelassen, frühlingshaft milde Luft wehte herein. Sollte er sich etwas überziehen und einen Spaziergang machen? Lieber nicht, entschied er, denn sein Aufbruch würde Lärm verursachen und die Mutter stören. Er tapste in den schmalen Flur hinaus, öffnete die Tür zu Peters ehemaliger Stube. Alles unverändert und blitzblank geputzt. Unglaublich! Die Eltern, beiden voran wahrscheinlich die Mutter, hüteten die Kinderzimmer wie einen heiligen Gral. Volker wandte sich um. Nun die Nähstube: Er öffnete diese Tür, betätigte den Lichtschalter und schrak zurück.

      Bruck erschrak dermaßen vor dem ungewöhnlichen Anblick, dass er ernsthaft glaubte, einer Wahnvorstellung erlegen zu sein. Er stürzte in sein Zimmer, suchte und fand die Brille, setzte sie auf und lief wieder hinüber zur Kammer. Staunend betrachtete er klaren Blickes den unglaublichen Fund: Vom Boden bis zur Decke, den ganzen Raum ausfüllend sah Volker Bruck Bücher. Ja, Bücher! Nichts als Bücher.

      Das Unfassbare an diesem Fund war, dass der Mann sich nicht daran erinnern konnte, außer eventuell dem Telefonbuch und der Kinder Schulbücher, in diesem Hause jemals ein Buch gesehen zu haben. Wozu hat einer Bücher, wenn er nicht liest? Vorsichtig tastend berührte Volker die Buchrücken, zog einen Band heraus. Er blätterte ihn auf. Ein gebrauchtes Buch. Titel und Verlag sagten ihm nichts. Er legte das Buch zurück und griff ein anderes. Der gleiche Befund. Warum, wenn man sich in seinem Elternhaus nun doch für Bücher interessierte, waren sie hier oben abgelegt und nicht ordentlich in eine kleine Bibliothek einsortiert, wie er es bei sich in München, ja, wie es jeder normale Mensch handhabte? Das hier waren doch wenigstens fünftausend Bände.

      Eine Weile kramte Volker so herum, ohne sich eine Erklärung geben zu können. Dann kam er drauf: Diebesgut! Konnte man mit gebrauchten Büchern Handel treiben? Offenbar ja. Er nahm sich das nächste Buch vor, untersuchte es gewissenhaft und stellte fest, dass es aus einer Bibliothek entwendet war: „Kreisbibliothek Nordstadt“ war vorn eingestempelt. Er drehte das Buch um. Na klar, der typische Bibliothekseinband mit Standortnummer. Er schob Stapel beiseite, verschaffte sich Platz, legte Bücher in den Flur hinaus, kroch in die Tiefe des Raumes und entdeckte, nun schon nicht mehr zu seiner Überraschung, sondern kühl registrierend, ganze Kisten mit druckfrischen Büchern. Nach eingehender Inspektion kam er zu dem Ergebnis: Fast alle Bücher stammten aus Leihbüchereien und einige sind direkt aus der Binderei gestohlen worden.

      Erschöpft ließ sich Volker Bruck zwischen den Bücherstapeln nieder. Er zog ganz grob Bilanz: Das Buch, na sagen wir mal, für zehn Mark, kommt man locker auf an die fünfzigtausend. Wenn das mal langt. - Bruck war in ein Diebesnest geraten! Jetzt erklärte sich ihm so einiges: Das traurige, niedergeschlagene Gebaren der Mutter. Die merkwürdigen Gäste vom Abend. Die Flucht Peters. Und dass der seine Frau, die Karin, hier zurück gelassen hatte. Die soll wohl das Diebesgut bewachen. Und wo war der Vater wirklich? Wer weiß, was sich in Haus und Hof noch so alles abspielte.

      Er stützte die Ellenbogen auf die hochgezogenen Knie und nahm den Kopf zwischen die Hände. Er überschlug alle möglichen Varianten: Er wollte nichts mit deren Verbrechen zu tun haben. Also, morgen augenblicklich alles stehen und liegen lassen und abreisen? Das wäre zu seinem Schutze. Nur, was würde dann aus der Mutter werden? Volkers strapazierte Nerven gaukelten ihm die Mutter als Geisel zwischen halbwilden Räubern vor. Die Mutter entführen und mit nach