Reiner W. Netthöfel

Tanja liest


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jammerte der Mann.

      „Zu kurzfristig. Außerdem wäre das unhöflich, und Unhöflichkeit kommt bei Wulvsen gar nicht gut, glaube ich.“, erwiderte sie Frau kühl.

      „Der ist ja selbst wohl kaum die Höflichkeit in Person.“

      „Das ist wohl so, aber er kann sich Unhöflichkeit leisten.“

      „Ich habe Schiss, richtig Schiss.“, schluchzte der Mann und vergrub sein Gesicht in seinen Händen.

      „So ein Kotzbrocken. Er ist ein Rüpel. Und so was will Doktor sein. Wir hätten ihn rauswerfen sollen.“

      „Er ist Wulvsen. Wulvsen wirft man nicht raus, wenn man nicht lebensmüde ist.“

      Der Gewerkschaftsmanager lockerte seinen Krawattenknoten, schlug mit dem Kaffeelöffel gegen ein Wasserglas und ließ sich auf einem Stuhl im Sitzungsraum nieder.

      „Kolleginnen und Kollegen, bitte setzt euch.“, rief er mit gespielter Fröhlichkeit. Das taten die Kolleginnen und Kollegen dann auch gerne, denn die erwarteten mit Spannung die Informationen über den Ausgang der Verhandlungen.

      „Es ist spät geworden, aber das kennen wir ja von Verhandlungen mit Wulvsen. Vier Uhr morgens und der Mann wirkte immer noch so frisch, als sei er gerade erst aufgestanden. Und dabei saß er uns vollkommen alleine gegenüber.“, konnte der leitende Gewerkschafter seine Bewunderung nicht ganz verbergen, lachte dabei aber ziemlich gezwungen. Der Mann atmete einmal tief durch. „Er lässt uns als Organisation allerdings nicht in sein Unternehmen.“ Unruhe machte sich breit, Protestrufe waren zu hören, der Vorsitzende hob beschwichtigend die Hände. „Aber die Räte sind drin, und haben die gleichen Rechte wie in anderen Unternehmen.“, versuchte er, Selbstverständliches als Außergewöhnliches zu verkaufen.

      „Es gibt aber keinen Vorstand oder Aufsichtsrat!“, rief jemand. Der Obergewerkschafter nickte leicht.

      „Ja, aber die Räte sind wenigstens drin. Ich hätte es jedenfalls vor ein paar Stunden noch nicht für möglich gehalten, dass das ohne juristische Auseinandersetzungen geht.“, bemühte der Vorsitzende einen Optimismus.

      „Das ist ja schließlich auch gesetzlich so vorgesehen.“, schallte es ihm empört entgegen, so dass er resigniert seinen Kopf einzog.

      Thomas Winter schämte sich. Er war von der Organisation und ihrem Leitungsgremium ausgewählt worden, um mit dem rasant aufsteigenden Stern am Unternehmerhimmel zu verhandeln. Es sollte um das Verhältnis von Wulvsen Industries zu den Gewerkschaften gehen, um Tariflöhne und Arbeitnehmervertretungen in den Betrieben. Das einzige, was Winter erreicht hatte, war, dass Wulvsen Betriebsräte zulassen würde. Das war zwar ohnehin Gesetz, aber Wulvsen hatte den Eindruck manifest erweckt, dass er darüber eine juristische Auseinandersetzung bis in die letzte Instanz herbeiführen wollte, doch schließlich hatte er sich überzeugen lassen. Das jedenfalls dachte Thomas Winter. Doch in den nächsten Wochen sollte sich herausstellen, dass Wulvsens Weigerung, nicht unbedingt nach Tarif zu bezahlen, sondern, wie er gesagt hatte, nach Leistung, anders gemeint gewesen war, als es verstanden worden war, und genau dieses Missverständnis sorgte im Nachgang dafür, dass Thomas Winter bald zum obersten Gewerkschaftsführer aufsteigen sollte, und das lag im Grunde genommen unter anderem daran, dass Thomas Winter, der Arbeitersohn, dem Konzernherrn bei den Verhandlungen einfach sympathisch geworden war, weil er sich ungekünstelt und geradheraus gegeben hatte und Wulvsen bei der Besprechung mit den Arbeitervertretern fast nostalgische Gefühle beschleichen wollten. Dem Gewerkschafter hatte er das aber natürlich nicht gesagt; weder das mit den Gefühlen noch das mit der Sympathie. Dass Wulvsen es geradezu ein Prinzip war, gute Leistung auch gerecht zu entlohnen, sollte sich jedenfalls erst viel später umfänglich erschließen. Ein Geheimnis blieb hingegen dauerhaft, dass sein Einlenken in der Betriebsratsfrage von ihm kalkuliert, seine diesbezügliche anfängliche Weigerung eine gezielte Finte gewesen war.

      Ein hellbrauner Briefumschlag wechselte seinen Besitzer, indem er über einen Tisch geschoben wurde.

      „Das ist die Anzahlung, zwanzigtausend, wie vereinbart. Lassen Sie sich Zeit, arbeiten Sie gründlich und zuverlässig. Niemand darf Verdacht schöpfen. Sie haben etwa ein Jahr Zeit, dann sollte Wulvsen Industries langsam in ernste Schwierigkeiten geraten.“ Der neue Besitzer eines hellbraunen Briefumschlags schüttelte leise lächelnd den Kopf und flüsterte:

      „Ich weiß schon, was ich zu tun habe. Ich werde einen schleichenden Prozess vermeiden. Zu viele Angriffspunkte über eine relativ lange Zeit, so etwas weckt Misstrauen, und der Alte ist misstrauisch, das können Sie mir glauben. Wulvsen wird mit einem Knall untergehen.“

      Es hatte geklingelt. Eindeutig. Deshalb riss Wulvsen die Augen auf und schaute auf die Uhr auf dem Kaminsims, was aber wenig nutzte, denn in der Bibliothek war es dunkel. Nicht ganz, aber es brannte nur eine kleine Lampe und die Sonne war längst untergegangen. Mürrisch stand der Industrielle aus seinem Nachdenksessel auf und trat an den Kamin. Einundzwanzigvierzig, also fast mitten in der Nacht. Wer würde es wagen, ihn jetzt noch zu stören, und das unangemeldet? Er hasste unangemeldete Besucher. Beruflich und auch privat. Er hatte gerade eine neue Struktur für Mittelamerika ersonnen, danach hatte er es zugelassen, dass sich das Bild seines Vorzimmers ohne Rehbein, seiner bisherigen Sekretärin, skizzenhaft in seinem Hirn entwickelte, und wollte eigentlich jetzt mal ein paar Minuten gar nicht denken. Der Ruhestörer würde sich warm anziehen müssen. Sehr warm. Er machte die Musik aus. Entschlossen schritt Wulvsen zur Haustür und schaltete einen kleinen Monitor ein. Vor dem Tor stand ein Mensch, den Wulvsen als so ungefähr einzigen in die Kategorie Freund einzuordnen bereit war.

      „Jürgen. Was machst du um diese Zeit hier? Waren wir verabredet?“ Die beiden Männer reichten sich die Hände, wobei Jürgen Link seinen Freund unsicher anschaute und Wulvsen sich nicht zu einem Lächeln zwang, schließlich waren er und Jürgen Freunde und kein Liebespaar.

      „Nein, wir sind nicht verabredet, aber ich muss mit dir reden.“, gestand Link. Eine zarte Neugier überdeckte nun Wulvsens Ärger, der ohnehin geschrumpft war, nachdem er gemerkt hatte, dass seinen Freund offenbar etwas bedrückte. Dennoch fand er die Spontaneität und den Zeitpunkt des Besuchs immer noch nicht gut. Sie gingen in die Küche und setzten sich an den leeren Küchentisch.

      „Ein Bier kann ich dir anbieten, aber zu essen ist, glaube ich, nichts da.“ Link winkte ab.

      „Bier reicht.“ Wulvsen holte zwei Flaschen und setzte sich Link gegenüber. Eine Weile schwiegen sie trinkend.

      „Was führt dich also zu mir?“, fragte Wulvsen nach einer Minute, weil er alles andere für Zeitverschwendung hielt. Entschlossen nahm Link noch einen Schluck aus der Pulle, dann legte er seine Hände auf den Tisch und starrte sie an.

      „Wie du weißt, kümmere ich mich seit einiger Zeit um Obdachlose.“, begann er.

      „Hm.“, knurrte Wulvsen, weil er genau dies für eine der vielen überflüssigen sozialen Marotten seines Freundes hielt.

      „Den Leuten geht es wirklich dreckig, besonders in der kalten …“ Wulvsen machte eine unwirsche Geste.

      „Niemand muss bei uns obdachlos werden, und Arbeit gibt es auch genug; ich weiß das, bin schließlich Unternehmer. Du kennst meine Meinung dazu.“, sagte er bestimmt. Link schaute ihm jetzt ins Gesicht.

      „Ja, ich kenne deine Meinung, aber nicht alle sind selbst schuld an ihrer Lage; das ist meine Erfahrung, ich habe dir schon oft davon erzählt.“

      „Hast du.“, gab Wulvsen zu. Link schaute wieder auf seine Hände, die immer noch auf dem Tisch lagen.

      „Letzte Woche sind zwei Neue bei uns aufgetaucht. Zwei Männer. Beide haben vor kurzem gebaut, beide sind entlassen worden, ohne Abfindung. Von dem Arbeitslosengeld konnten sie ihre Kredite nicht mehr bedienen. Ihre Häuser sind weg, ihre Frauen sind weg, mittlerweile auch das Arbeitslosengeld. Weil sie monatelang versucht haben, ihre Verhältnisse zu ordnen, mit den Banken verhandelt haben, um ihre Familien gekämpft haben, haben sie Vermittlungsangebote der Arbeitsverwaltung