Reiner W. Netthöfel

Tanja liest


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…“ Wulvsen setzte seine Bierflasche geräuschvoll ab.

      „Was habe ich damit zu tun?“, fragte er scharf. Link sah ihm in die Augen, die lauernd und eiskalt blickten.

      „Du hast sie entlassen.“ Wulvsen lehnte sich mit versteinerter Miene zurück.

      „Bist du hier, um mir deswegen Vorhaltungen zu machen? Wenn ich jemanden entlasse, habe ich meine Gründe, das weißt du. Außerdem ist das rechtlich immer vollkommen sauber, auch das weißt du. Ich entlasse Leute nicht aus Jux.“

      „Ich weiß, aber Herr …“ Wulvsen schnellte vor und näherte sein Gesicht dem seines Freundes.

      „Ich will keine Namen hören, Jürgen. Keine Namen. In meiner Firma gibt es Regeln. Diese Regeln stehen in den Verträgen und in diversen Anweisungen. Außerdem gibt es mich. Wer die Regeln einhält und seine Leistung erbringt, hat nichts zu befürchten …“

      „Du hast manchmal Launen.“, hielt Link dagegen. Wulvsens Augen weiteten sich.

      „Das gebe ich gerne zu.“, rief er. „Das ist ja wohl nur menschlich. Der vorliegende Fall hat aber nichts mit meinen Launen zu tun. Meine Firma ist keine Selbstfindungsgruppe. Ich beschäftige erwachsene Menschen, die in der Regel genug Lebenserfahrung haben, um zu wissen, dass der Chef kein Seelsorger ist. Sein kann. In meinem Fall auch nicht sein will. Das wissen alle, die bei mir arbeiten. Wem das nicht gefällt, der kann gehen; das aber tun erstaunlich wenige, denn ich zahle gut, wie du weißt. Ich entlasse auch verhältnismäßig selten …“

      „Du musst ja auch nicht betriebsbedingt kündigen, weil es deinem Konzern und den Töchtern gut geht.“, ereiferte sich Link. Wulvsen grinste ihn an.

      „Ist doch schön. Wenn es der Firma gut geht, geht es auch den Beschäftigten gut. Jedenfalls materiell. Alles andere ist Privatsache.“

      „Aber diese beiden Männer …“ Wulvsen winkte energisch ab.

      „Ich weiß, wen du meinst. Sie haben Fehler gemacht. Nicht einen, Plural. Ich habe sie warnen lassen. Wenn sie sich ihren Aufgaben nicht gewachsen gefühlt haben, hätten sie um Versetzung bitten können; das hätte ich mitgemacht. Haben sie aber nicht, und deshalb mussten sie gehen.“ Link öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber Wulvsen war noch nicht fertig und hob den Zeigefinger. „Von einem erwachsenen Menschen mit halbwegs vorhandener Intelligenz ist zu erwarten, dass er sich selbstkritisch analysieren und einschätzen kann; ferner ist zu erwarten, dass er für sein privates Handeln eine Risikoabschätzung vornehmen kann. Wer sich überschuldet, ist selbst schuld. Jedenfalls darf er sich dann im Job keine Fehler erlauben, die ihn den Job kosten könnten. Diese Erkenntnisse erwarte ich von erwachsenen, gut ausgebildeten Menschen, und solche beschäftige ich ausnahmslos.“ Link sah seinem Freund in die Augen, nickte traurig und stand auf. Er stützte sich auf dem Küchentisch ab, beugte sich zu Wulvsen und meinte:

      „Manchmal glaube ich, du magst dich noch nicht einmal selbst.“ Wulvsen lachte trocken.

      „Mit Sympathie hat das nichts zu tun. Mit Sympathie kann man keinen Weltkonzern führen, glaube mir, das geht nur mit kühlem Verstand.“ Link nickte und verließ mit dem Hinweis, dass er wisse, wo die Tür sei, das Haus.

      Wer ist Doktor Roger Wulvsen? – Von Alfred Kerr

      Dumme Frage, finden Sie? Sie kennen die Antwort? Klar, jeder weiß, wer Roger Wulvsen ist, schließlich haben wir alle mit ihm zu tun. Von Kindesbeinen an. Von der Wiege bis zur Bahre, sozusagen.

      Stimmt, ein Leben ohne Wulvsen-Produkte ist kaum vorstellbar, es sei denn, man lebt völlig autark, baut sein eigenes Gemüse an, züchtet Vieh, kleidet sich mit Selbstgestricktem aus Wolle von den eigenen Schafen, verzichtet auf Elektrizität und die davon abhängigen Geräte, geht nur zu Fuß, und das nur im eigenen Wald. Aber selbst dann ist nicht sicher, dass Wulvsen Industries nicht doch irgendwo die Finger im Spiel hat.

      Wulvsen bestimmt also unser Leben, mal mehr, mal weniger. Meistens mehr.

      Das, an sich, muss ja noch nichts Schlimmes sein. Zugegeben, Wulvsen ist in manchen Bereichen des Wirtschaftsgeschehens nahe daran, Monopolist zu sein. Wirklich störend ist das bisher nicht gewesen. Nichts deutet darauf hin, dass er seine in manchen Branchen oligarchische Stellung dazu missbraucht, Preise zu diktieren. Noch nicht. Und manches von dem, wo ‚Wulvsen‘ draufsteht, ist ja durchaus nützlich, ja, sogar lebensrettend.

      Aber hier soll es nicht um die Produkte von Wulvsen Industries gehen, sondern um den Mann, der Wulvsen Industries ist.

      Roger Wulvsen ist der einzige Komplementär einer Kommanditgesellschaft ohne Kommanditisten; das heißt, ihm gehört der ganze weltumspannende Laden alleine. Außerdem ist er der einzige Chef; nach seiner Pfeife tanzen alle.

      Und das, das ist mehr Gewissheit als Spekulation, sind nicht nur die Firmenangehörigen.

      Wer hat sich nicht schon einmal über die Körpersprache von Politikern, auch sehr hochgestellten, und anderen Konzernchefs amüsiert, wenn diese in Gegenwart von Roger Wulvsen Fernsehauftritte haben oder sich zum Gruppenfoto aufstellen?

      Ja, Wulvsen versteht es, selbst mit verbundenen Augen und gefesselten Händen, virtuos auf der Klaviatur der Macht zu spielen.

      Bisher allerdings deutet nichts darauf hin, dass er seine Macht missbraucht, und zwar in dem Sinne, dass er dem Volk oder dem Staat schaden würde. Er könnte also vielleicht sogar, wie die Bundeskanzlerin und die Bundesminister, ohne gekreuzte Finger deren Amtseid mitschwören, denn sein Einfluss ist sicher nicht geringer. Vielleicht sollte die Bundesregierung so etwas für Wirtschaftsführer mal in Erwägung ziehen.

      Dass er ein frühkapitalistischer Ausbeuter ist, haben schon viele versucht ihm nachzusagen. Sie sind gescheitert, weil sie dafür keine Belege beibringen konnten. In der Tat lehrt zum Beispiel ein Blick in seine ausländischen Dependancen, gerade die in den Entwicklungsländern, dass sich Wulvsen löblich von der Konkurrenz abhebt. Er zahlt fair und die Arbeitsbedingungen sind ordentlich.

      Andererseits, und auch das ist mehr Gewissheit als Spekulation, beherrscht er seinen Konzern als alleiniger Machthaber im Stil eines autoritären Führers. Manche werfen ihm Diktatur und Tyrannei vor und können allerdings dafür Belege vorweisen.

      Mit oder unter ihm zu arbeiten dürfte also kein Zuckerschlecken sein, aber das kann jeder wissen, der sich auf ihn einlässt; seine Arbeitsverträge sprechen eine deutliche Sprache.

      Vielleicht braucht es einen solchen Charakter, um das zu leisten, was Wulvsen geschafft hat, und das ist ja durchaus anerkennenswert.

      Aus ein paar Familienbetrieben innerhalb weniger Jahre und nahezu ohne Fremdkapital einen Weltkonzern geschmiedet zu haben, ist ohne Beispiel.

      Wir erinnern uns an Entscheidungen von ihm, von denen wir alle annahmen, dass sie das Ende von Wulvsen Industries bedeuteten. Sie haben sämtlich letztlich nur zur Prosperität des Unternehmens beigetragen.

      Wir kommen nicht an Wulvsen vorbei, und damit meine ich nicht nur seine Produkte. Er versteckt sich ja nicht. Er ist zu Gast auf Empfängen, bei Politikern und in den Medien, das aber seltener. Ob er bei den Politikern immer ein gern gesehener Gast ist, kann bezweifelt werden, denn er ist ihnen ja nur zu oft unbequem.

      Roger Wulvsen ist also ein erfolgreicher und mächtiger Unternehmer, der sein Unternehmen, um es euphemistisch auszudrücken, mit harter Hand führt.

      Doch kommen wir zu unserer Ausgangsfrage zurück: wer ist der Privatmann Roger Wulvsen?

      Um einen bekannten Literaturkritiker zu bemühen: wir wissen es nicht. Jedenfalls fast nicht.

      Bis zu seinem Eintritt ins Geschäftsleben finden sich hier und da Spuren des Menschen Roger Wulvsen. Wir finden sein Bild in einer Festschrift seines Abiturjahrgangs, seine Dissertation findet sich in wissenschaftlichen Bibliotheken und als Restexemplare auch noch im Buchhandel. Eine Menge Freunde scheint er jedoch auch als Schüler und Student schon nicht gehabt zu haben, jedenfalls bekennt sich niemand dazu.

      Festzustehen scheint,