Reiner W. Netthöfel

Tanja liest


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entweder brauche ich eine mit einer längeren Arbeitszeit, oder ich muss zwei Stellen annehmen. Ich wäre dann häufiger und länger weg.“

      „Hm. Wenn es sein muss. Hast du denn schon eine neue Stelle?“

      „Bin noch auf der Suche. - Das beste wäre, wenn ich jeden Tag arbeiten könnte, vielleicht auch abends.“

      „Auch Samstag und Sonntag und Ostern und Weihnachten?“, fragte Martha erschrocken.

      „Nein.“, lachte Tanja. „Montags bis freitags, vielleicht auch mal samstags für ein paar Stunden.“

      „Dann würde das Geld reichen?“

      „Es wäre knapp, aber es würde reichen, ja. Ich habe alles durchgerechnet.“ Martha schmunzelte zufrieden, denn rechnen konnte ihre Tante, das wusste sie. Tante Tanja brachte ihr seit einiger Zeit Rechnen bei, so dass sie im Kindergarten hohes Lob erfuhr, wenn es darum ging, spielerisch mathematische Aufgaben zu bearbeiten. Was Martha aber nicht wissen konnte, war, dass Tanja manchmal nicht ganz die Wahrheit sagte. Aber nicht aus Boshaftigkeit, sondern aus einer Not. Denn Tanjas Putzjob war ihr alles andere als sicher und die Stellensuche gestaltete sich mehr als schwierig, und das hatte beides mit ihrem Handicap zu tun, denn schließlich konnte sie nicht von Tür zu Tür gehen und nach Putzstellen fragen.

      „Wie lange hast du noch?“, fragte ihr Mann verschlafen. Rehbein sah ihren Herbert, der im Schlafanzug in der kleinen Küche stand, mitleidig an. Er war schon seit einem Jahr Rentner, stand aber immer noch mit ihr auf. Elke Rehbein schloss die Dose mit den Broten für den Alten. Einmal Käse, einmal Hartwurst, Streichmettwurst und Schokolade, wie fast immer. Manchmal variierte sie aber auch. Damit käme er in der Regel bis zum Abend hin.

      Rehbein schmierte ihm Brote, seit er die Firma übernommen hatte, da waren mütterliche Instinkte durchgekommen, denn in den ersten Tagen war es vorgekommen, dass er bis Feierabend überhaupt nichts gegessen hatte, und so etwas konnte sie nun gar nicht mit ansehen. Sie würde der Neuen sagen müssen, dass er Kaffee verabscheute.

      „Heute kommen meine Nachfolgekandidaten. In sechs Wochen dürfte ich die Dame eingearbeitet haben, dann ist Schluss. Sechs Wochen allerdings nur, wenn er sie in Ruhe lässt. Dagegen aber spricht die Erfahrung.“ Herbert kratzte sich am Kopf, nahm sie kurz in den Arm und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

      „Hast wohl recht. Die wird Monate brauchen, um sich an das raue Klima zu gewöhnen, wenn sie es denn je schafft.“ Elke Rehbein seufzte und wendete sich wieder der Kaffeemaschine zu und konnte natürlich nicht wissen, dass es etwas anders kommen würde, als sie sich das dachte.

      Ella Olsson, Anfang zwanzig, intelligent, strebsam und aus Schweden, fuhr sich mit den Fingern der rechten Hand durch die widerspenstigen rotblonden Locken, während sie in den kleinen Spiegel in dem winzigen Bad des schuhkartongroßen Zimmers im Gästehaus des Konzerns schaute. Die Locken waren nicht zu bändigen, nur eine Kurzhaarfrisur könnte Abhilfe schaffen, gefiel ihr aber nicht. Sie hatte weder die Augenbrauen nachgemalt, noch ihre Wimpern verklebt; auch würde sie keinen Lippenstift benutzen oder gar Rouge auflegen. Sie sollten sie sehen, wie sie war, und dazu gehörte eine bequeme Hose und ein Pulli, kein Rock, kein Kleid, keine Bluse. Ihr einziges Zugeständnis war ein Jackett. Wenn sie mich nicht nehmen, dann nicht, dachte sie. Ich verbiege mich nicht. Sie verließ das Bad und zog sich ihre weichen, bequemen Wildlederschuhe an. Auch Pumps kamen nicht in Frage.

      Ella Olsson hatte sich diesen Schritt wohl überlegt. Es wäre an der Zeit, mal aus Skandinavien herauszukommen, diese Länder kannte sie gut genug. Sie war zwar in ihrem jungen Leben schon verhältnismäßig viel gereist, doch beruflich war sie irgendwie in Schweden hängengeblieben, und bei Wulvsen. Wulvsen Industries, dachte sie, eigentlich ist das eine etwas irreführende Bezeichnung, denn Wulvsen bestand schon lange nicht mehr nur aus Industrie. Die schwedische Niederlassung war noch ziemlich jung gewesen, wie sie selbst, als sie damals dort anfing, und dann war allen fast schwindlig geworden, als weitere Niederlassungen, Werke, Zentralen in den nordischen Ländern wie Pilze aus dem Boden schossen. Aber nicht nur dort. Ella sah ihre Chance, quasi in der Mitte dieses weltweiten Spinnennetzes zu arbeiten, in der Zentrale der Zentralen, am Puls des Konzerns sozusagen. Sie glaubte, das wäre interessant, spannend, und damit sollte sie auf jeden Fall recht behalten.

      In der Etage darunter mühte sich Hubert Kahl mit einer dezent-eleganten Seidenkrawatte ab. Mit nervösen Fingern zog der junge deutsche Mann den Knoten zusammen, prüfte die Länge des Binders, schüttelte missmutig den Kopf und löste wieder alles. Er bekam die richtige Länge einfach nicht hin. Entsetzt stellte er fest, dass der Kragen des neuen weißen Hemdes schon durchgeschwitzt war, und er atmete ein paar Mal tief durch, um ruhig zu werden. Die Haare würde er auch noch einmal kämmen müssen. Gut, dass er sie schwarz gefärbt hatte, denn seine natürliche Haarfarbe war eher nichtssagend. Wenn alles klappte, würde er sich jeden Tag so herausputzen müssen, aber er war bereit, dieses Opfer zu bringen; schließlich war es sehr ungewöhnlich, sich als Mann für eine Vorzimmertätigkeit zu bewerben, aber das betrachtete Hubert lediglich als Episode seines weiteren Karrierewegs.

      Beim nächsten Mal klappte es, der Binder saß; jetzt hieß es nur noch, diese schrecklich unbequemen Schuhe an die Füße zu bringen. Aber: seine Karriere würde es ihm danken.

      In der Etage über Ella prüfte Tonia Esteban mit einem kritischen, aber entspannten Blick den Sitz ihrer Brille, den Effekt ihres Lippenstiftes und die Tönung des Puders auf ihren Wangen. Perfekt. Die schwarzen Haare hatte sie zu einem einfachen Pferdeschwanz zusammengerafft, der von einer eleganten Spange gehalten wurde. Sie zog ihr schwarzes Kostüm zurecht, das wunderbar mit ihrer perlenweißen Bluse kontrastierte. Ein silbernes Kettchen krönte ihren Ausschnitt. Mit Freude schlüpfte sie in die neuen, hochhackigen Schuhe, die etwas über ihre geringe Körpergröße hinwegtäuschten, und ging ein paar Schritte. Am liebsten hätte sie sich noch eine Brosche angesteckt, doch sie wollte nicht übertreiben. Sie würde sich jetzt nicht mehr setzen, weil ihre Kleidung sonst knittern könnte. Sie mochte das nicht. Nicht für andere, sondern für sich. Tonia Esteban war etwa so alt wie ihre Konkurrentin aus Schweden und hatte eine ähnliche berufliche Karriere hinter sich, und zwar ausschließlich bei Wulvsen Industries und fand es an der Zeit, sich geografisch und beruflich zu verändern. Die beiden Frauen unterschieden sich also rein äußerlich und in einem Teil ihres Charakters, aber beide hatten sich für diesen neuen Job beworben, und zwar aus ehrlichem Interesse.

      Esteban war in Mexiko geboren, aufgewachsen und im Grunde bisher aus diesem Land auch noch nicht herausgekommen, wenn man von kurzen Aufenthalten in den Vereinigten Staaten absah. Das sollte jetzt anders werden, sie würde ihr Stupsnäschen mal ganz keck in die große, weite Welt stecken und dabei lernen und sich entwickeln. Wenn sie den Job denn bekäme.

      Die Beamtin schob Tanja ein Formular über den Tisch.

      „Das müssten Sie dann noch unterschreiben.“, meinte sie formell.

      „Wo soll ich unterschreiben?“ Tanja zog die Unterlippe zwischen die Zähne. Nur jetzt nicht nervös werden. Scheinbar interessiert betrachtete sie das Blatt Papier und nahm einen Kuli zur Hand. Die Offizielle wies auf das Papier.

      „Unten rechts.“ Sie tippte mit dem Finger auf die Stelle. Sicherheitshalber machte sie noch ein Kreuz neben die entsprechende Zeile, schließlich kannte sie ihre Kundschaft.

      „Wollen Sie sich das Formular denn nicht erst durchlesen?“, fragte die Beamtin verblüfft.

      „Das ist doch sicher nicht nötig.“, war die staatstragende Antwort. Dann sah sie sehr genau zu, wie Tanja Unleserliches neben das Kreuz malte.

      Die große, schwarze Limousine mit den abgedunkelten hinteren Scheiben näherte sich der Konzernzentrale, wie fast jeden Tag, auf einer Nebenstraße, bog dann auf eine Rampe, die in eine Tiefgarage führte, hielt kurz, bis das Rolltor sich geöffnet hatte, und glitt dann nahezu lautlos hinab. Dieser Teil der Garage war für den Chef und seine persönlichen Besucher reserviert und daher von dem anderen Teil sicht- und blickdicht durch Betonmauern abgetrennt. Die Limousine war das einzige Fahrzeug, außer einer weiteren, identischen, in diesem unterirdischen, großen Raum.

      Der