Reiner W. Netthöfel

Tanja liest


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der Entschuldigung, dargebotene Zeitungen, Bücher und Ähnliches dankend abzulehnen. Das klappte allerdings nicht immer. Als junger Mensch war sie, wenn sie ertappt worden war, nicht lesen zu können, in Tränen ausgebrochen, war rot geworden und manchmal einfach weggelaufen. Zum Heulen und Laufen war ihr auch als Erwachsener in solchen Situationen zumute, aber sie hatte gelernt sich zu beherrschen und sich schweigend abzuwenden. Niemals jedoch hatte sie zugegeben, was sie zu verbergen suchte.

      Sven Ariel war ein hübscher Junge und später ein gutaussehender Mann. Er war für einen Mann mittelgroß, blond, breitschultrig, hatte blaue Augen, ein kantiges Gesicht und auch im Winter leicht gebräunte Haut. Er trieb gerne Sport und entsprechend war sein Körper geformt. Er war der Schwarm aller Mädchen und Frauen, Typ Schwede. Er war sanft, zurückhaltend, einfühlsam und achtete auf sein Äußeres. Er pflegte sein Haar, seine Fingernägel, rasierte sich penibel, und zwar nicht nur im Gesicht und war musisch interessiert. Er liebte Literatur und Autos.

      Zeitweise litt er unter seinem Nachnamen, der ihn manchmal zum Gespött der Mitschüler machte, besonders in den höheren Klassen, als die Schüler mit dem Namen etwas assoziieren konnten. Aber mehr noch als unter seinem Namen litt er unter seinem Körper. Das Leiden wurde besonders stark, als sein Körper sich endgültig entschieden hatte, ein Mann zu werden, und zwar ein besonders männlicher, gut aussehender Mann. Denn seine Seele, sein Kopf, waren da anders disponiert. Er machte Abitur, wurde später Berufskraftfahrer, und zwar ein guter. So gut, dass er bald die Chefs fuhr. Doch das Unwohlsein wurde stärker und er fürchtete, vor lauter Verwirrung seinen Beruf nicht mehr ausüben zu können. Und so entschloss er sich, das zu werden, wovon er immer geträumt hatte: eine Frau.

      Svenja Ariel war eine gutaussehende, umwerfende Frau. Sie war für eine Frau recht groß, blond, hatte breite Schultern, blaue Augen, ein kantiges Gesicht und auch im Winter gebräunte Haut. Sie trieb Sport und war infolgedessen schlank und durchtrainiert. Sie war ein Typ Frau, auf den manche Männer stehen, Typ Schwedin. Sie war vielleicht ein wenig maskulin und achtete sehr auf ihr Aussehen. Ihren Nachnamen fanden die Leute interessant, genauso wie ihre etwas tiefe Stimme. Bis auf eine entscheidende Kleinigkeit war sie eine begehrenswerte Frau.

      Doch ihre Metamorphose konnte natürlich nicht geheim bleiben, und die Gesellschaft und ihre Umgebung, vor allem die Kollegen, waren nicht so beschaffen, dass sie mit einer derartigen Verwandlung in einer Art und Weise umgingen, umgehen konnten, die für alle, vor allem für die sich Verändernde, befriedigend war.

      So froh Svenja Ariel gewesen war, die ersten Schritte auf dem Weg zu einer richtigen Frau zu tun, so wohl sie sich in der äußeren Hülle einer Frau fühlte, so verzweifelt war sie über ihr Ausgestoßensein. Es gab nicht viele Menschen, die sie vorbehaltlos zu ihren Freunden zählen konnte. Ihre Eltern hatten den Kontakt abgebrochen, sobald sie sie mit ihren Plänen konfrontiert hatte. Freunde und Freundinnen hatten sich abgewendet, die Kollegen verspotteten sie.

      Geblieben war ihr einzig Jürgen Link, der vor etwas mehr als fünfzehn Jahren die Jugendgruppe geleitet hatte, in der sie sich engagiert hatte und den sie ab und zu noch immer traf. Link war der einzige, der in ihr Geheimnis quasi von Anfang an eingeweiht war, denn sie hatte sich nach einer Konfirmandenfreizeit ihm anvertraut. Es war keine Beichte, sondern einfach nur das Ausschütten des Herzens vor einem Menschen gewesen, der ihr vorurteilslos gegenüberzutreten bereit gewesen war.

      Vor Jürgen Links Haustür stand sie nun und drückte mit zittrigem Finger auf den abgenutzten Klingelknopf. Sie hatte gekündigt. Eine super Stelle in einem Ministerium. Sie war Cheffahrerin gewesen und der Minister hatte sich gern mit der attraktiven Frau geschmückt. Der einzigen Ministerfahrerin. Doch es ist nicht alles Gold, was glänzt, das hatte sie rasch gemerkt. Ihre Geschichte hatte sich nämlich herumgesprochen. Mal fand sie Rasierer in ihrem Spind, mal Kondome, die anzüglichen Bemerkungen hatte sie anfangs überhört, aber als dann auch im Vorzimmer des Chefs getuschelt wurde, und schließlich auch der Chef selbst mitgetuschelt hatte, war es genug gewesen.

      „Gut siehst du aus, aber an deinen neuen Namen habe ich mich immer noch nicht gewöhnt, obwohl du ihn ja schon ein paar Jahre führst.“, lachte Jürgen Link die große Blondine an, die ihm gegenüber auf dem abgenutzten Sofa saß.

      „Danke.“, lächelte sie mit dunkler Stimme. Link beobachtete seinen Besuch.

      „Du hast doch was auf dem Herzen.“, stellte er fest. Die Frau sah auf.

      „Woher …“ Link lachte und machte eine Geste.

      „Berufskrankheit.“ Die sonnengebräunte Frau mit dem kantigen Gesicht sah auf einen Punkt auf der Tischplatte.

      „Ich habe gekündigt.“, sagte sie leise. Link ließ sich seine Überraschung nur durch die hochgezogenen Augenbrauen anmerken. „Ich habs nicht mehr ausgehalten.“

      „Kann ich mir vorstellen.“, nickte Link mitfühlend.

      „Aber ich muss was tun, muss unter Leute. Natürlich brauche ich auch das Geld.“ Die Tischplatte war immer noch interessant. Daher also wehte der Wind, Svenja brauchte seine Hilfe. Link dachte an den letzten Besuch eines Freundes zurück, der ihm gegenüber zum ersten Mal ein persönliches Versäumnis zugegeben hatte. Na ja, vielleicht war es ja auch sein erstes persönliches Versäumnis überhaupt gewesen. Erstaunlich war jedenfalls, dass der Freund es zugegeben hatte.

      „Wulvsens Fahrer geht in Pension und er hat noch keinen neuen.“, meinte Link nach einer Weile und sie riss den Blick hoch.

      „Wulvsen? Das soll ein Schwein sein.“, informierte sie vorurteilsbehaftet und sah ihren Gastgeber entgeistert an. Der schüttelte nachsichtig den Kopf.

      „Urteile nicht zu vorschnell.“, riet er ruhig.

      „Wieso, kennst du ihn?“, rief sie entrüstet, denn dass ihr Freund so jemanden kannte, konnte sie sich einfach nicht vorstellen.

      „Ja, ich kenne ihn und ich versichere dir, dass er anders sein kann, als man gemeinhin glaubt. Sicher, er ist etwas speziell …“, sprach Jürgen und hoffte, dass er nicht zu viel versprach. Aber der Brief, den er vor ein paar Tagen von Roger erhalten hatte, stimmte ihn vorsichtig optimistisch.

      „Speziell!“, höhnte sie.

      „Vertrau mir. Bewirb dich. Sei einfach du selbst. Natürlich. Aufgesetztes Verhalten mag er nicht. Spiel mit offenen Karten.“ Sie sah ihn forschend an, dann sagte sie:

      „Okay, ich habe nichts zu verlieren. Aber ich möchte nicht, dass du ein gutes Wort für mich einlegst, ja? Ich möchte das selbst schaffen.“ Link verstand, dass sie gerade jetzt auf ihre eigene Kraft setzen musste und nickte.

      Zum Abschied schenkte Link ihr noch einen kräftigen Händedruck und ein aufmunterndes Lächeln, blickte ihr aber mit gemischten Gefühlen nach, denn er war sich seiner Worte nicht ganz sicher. Hatte er Wulvsen überhöht? Sollte er nicht doch vorher mit Roger reden? Nach einer Minute des Nachdenkens sagte sich Link zweimal Nein. Nein, er würde nicht mit Roger reden, das wäre er Svenja schuldig. Und nein, Roger war tolerant, auch wenn sich das nicht so sehr schnell erschloss. Entschlossen schloss Jürgen Link die Haustür.

      Beim Einschlafen dann ereilte Link noch ein Gedanke daran, dass es schon ungewöhnlich war, dass sein Freund noch keinen neuen Fahrer hatte, denn Wulvsen hatte ihm mehr als einmal dargelegt, dass der Fahrer eine Vertrauensperson sein müsse, da er dem ja schließlich sein Leben anvertraute und oft viele Stunden des Tages mit ihm auf engem Raum zusammen wäre. Wulvsen hatte es versäumt, sich rechtzeitig um eine Nachfolge zu kümmern. Ausgerechnet Roger, der sonst kaum etwas dem Zufall überließ, der fast alles plante, jedenfalls solche Dinge. Aber gut, so hätte Svenja wenigstens eine kleine Chance, dachte Link, denn er konnte sich ungefähr vorstellen, welche Einstellungsvoraussetzungen Roger eingefallen wären, hätte er ordnungsgemäß ausgeschrieben.

      Wulvsen! Sie hatte Hilfe, einen Rat von Jürgen erhofft, und der hatte ihr ausgerechnet Wulvsen als neuen Arbeitgeber vorgeschlagen! Den Mann, der alle brüskierte, Minister, Diplomaten, Bürgermeister, dessen Arbeitsverträge von manchen Gewerkschaftern als besonderes Beispiel für Perfidie hingestellt wurden, der,