Reiner W. Netthöfel

Tanja liest


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soll er für Zeitvergeudung halten, sein Leben führt er eher bescheiden, denn er protzt nicht mit auffälligen Immobilien, Yachten oder dergleichen mehr, obwohl er das durchaus könnte.

      Alles weitere ist reine Spekulation.

      Es ist anzunehmen, dass er nicht verheiratet ist und keine Kinder hat. Seine sexuellen Präferenzen sind unbekannt. Die in die Redaktionskonferenz gestellte Mutmaßung, dass die Firma sein Hobby sei, blieb unwidersprochen. Unwidersprochen blieb auch die gar nicht mal flapsig gemeinte Bemerkung, er ginge zum Lachen in seinen Keller. Über seinen Gesundheitszustand gibt es noch nicht einmal Gerüchte.

      Das Einzige, was als fast gesicherte Erkenntnis gelten kann, ist, dass er gerne gut isst.

      Doch das beantwortet die Frage nicht:

      Wer ist Roger Wulvsen?

      Wulvsen ließ die Zeitung sinken. In seinem Kopf spielte sich nun dreierlei ab:

      Zufriedenheit darüber, dass eine Frage nicht hatte abschließend beantwortet werden können.

      Unzufriedenheit darüber, dass der Artikel keinen Anlass für juristische Schritte seinerseits bot. Und Schadenfreude über die Unfähigkeit von Journalisten.

      Das mit den juristischen Schritten würde er allerdings prüfen lassen.

      Die Frau wurde von ihrem Wecker geweckt, worüber sie sehr froh war, denn die Nächte endeten für sie, seit das Kind bei ihr war, nicht mehr so oft mit einem Albtraum. Sie träumte zwar noch diesen schrecklichen Traum, aber es war längst nicht mehr so schlimm wie vorher, vorbei waren die Schreie und die Tränen. Sie ging im Traum einfach souveräner mit den Vorhaltungen der Lehrerin um und das heißt, dass sie sie zunehmend einfach ignorierte. Das Kind schlief noch in seinem Bettchen und die Frau streichelte zärtlich über sein Köpfchen. Sie war sich ziemlich sicher, dass die Kleine maßgeblich damit zu tun hatte, dass sie die Vergangenheit langsam, aber sicher in den Griff bekam; zumindest nachts in ihren Träumen. Möglicherweise lag das an der Erziehungsverantwortung, die ihr zugefallen war, aber sie fand, dass es das nicht alleine war; für sie hing das mit dem Charakter des Kleinkindes zusammen, so seltsam sie das auch finden mochte. Vielleicht würde sie ihr Trauma eines Tages sogar ganz überwinden können. Und vielleicht würde sie sogar dessen eigentliche Ursache beseitigen können. Bei der allmählichen Überwindung des Traumas war ihr ihre Nichte schon jetzt eine unbewusste Hilfe, das wollte sie glauben. Was die Ursachenbeseitigung anlangte, würde das Mädchen in nächster Zeit jedoch keine Hilfe sein können, dafür war es noch zu jung.

      Der Ärger eines ereignisreichen Arbeitstages, an dem er seinen südamerikanischen Leitern erst ihre Bilanzen und dann die Leviten gelesen hatte, der eine unschöne, aber für ihn erfolgreiche Konfrontation mit dem niederländischen Wirtschaftsminister mit sich gebracht hatte, und der konsternierte bis zitternde Abteilungsleiter nach der morgendlichen Lage hinterlassen hatte, musste heraus, und so schlüpfte Wulvsen, sobald er zu Hause war, in seine Laufsachen und lief los. Seine Runde führte ihn an einem Kinderspielplatz vorbei, der menschenleer war, bis auf ein kleines Mädchen mit dunklem, lockigem Haar, das konzentriert etwas im Sand eines Sandplatzes baute. Komisch, dachte Wulvsen, keine Aufsicht weit und breit. Er schüttelte den Kopf über die Nachlässigkeit mancher Eltern, warf dem Kind noch einen letzten Blick zu, erinnerte sich, dass er es schon einmal gesehen hatte und lief seines Weges.

      Dass die Zeit der Routine bald der Vergangenheit angehören würde, deutete sich Wulvsen am nächsten Morgen zart an, denn beim Zähneputzen rekapitulierte er, dass er seit seinem gestrigen Lauf das Bild des einsamen Mädchens einfach nicht mehr aus seinem Kopf bekam.

      Dass seine Gedanken sich verselbständigten, kam so gut wie gar nicht vor, und er glaubte, selbst sein Unterbewusstsein gut im Griff zu haben, so dass das Ergebnis seiner morgendlichen Rekapitulation ihn zu Gegenmaßnahmen im Normalfall veranlasst hätten, und die hätten seinen Denkapparat betroffen. Doch diesmal fasste er einen anderen, und wie sich im Verlauf zeigen sollte, viel weitergehenden Entschluss, und das hatte damit zu tun, dass sich zu dem Bild des einsamen, gelockten Mädchens eines aus seiner eigenen Vergangenheit zuweilen gesellte, das Bild nämlich eines weinenden Mädchens, das lange, glatte schwarze Haare hatte.

      Die Klassenlehrerin verteilte die Arbeiten. Die anfängliche Stille im Klassenraum wich immer mehr einem allgemeinen Geraune, je mehr der kleinen Hefte an die Schüler verteilt wurden. Obwohl Roger Wulvsen sein Heft bereits erhalten hatte, legte die Lehrerin zum Schluss noch ein weiteres Heft vor ihn auf den Tisch. ‚Tanja Kiel‘ stand in ungelenken Lettern auf dem Etikett.

      „Lies uns doch einmal Tanjas Aufsatz vor, Roger.“, forderte die Lehrerin ihren besten Schüler auf und grinste hämisch. Roger schlug das Heft auf und erschrak. Wie sollte er das vorlesen? Groß- und Kleinbuchstaben schienen wahllos aneinandergereiht und teilweise verkehrt herum geschrieben. Manche Buchstabenfolge ergab gar keinen Sinn, Sätze waren kaum zu erkennen. ‚Chinesisch‘ nannten sie das.

      Schweißgebadet und mit hochrotem Kopf beendete Roger seine Lesung unter dem Gejohle der Klasse. Außer der Unleserlichkeit dessen, was da auf dem Papier stand, hatte das Gefeixe und das Gelächter, in das er schließlich befreit einfiel, dazu geführt, dass er am Ende kaum noch lesen konnte. Frau Steyer nickte zufrieden, was soviel bedeuten sollte, dass dies ein schlechtes Beispiel für einen Aufsatz war, ein ganz schlechtes, dem nachzueifern sie dringend abriet.

      Ein Mädchen hatte den Kopf in den auf dem Tisch liegenden Armen vergraben und weinte bitterlich.

      Nicht viel anders war es, wenn es darum ging, aus dem Lesebuch vorzulesen. Die Lehrerin wusste, wie sie die Stimmung heben konnte.

      „So, nun zu den Hausaufgaben. Ihr solltet die Geschichte auf Seite 8 lesen. Wer möchte vorlesen?“ Einige Kinder meldeten sich heftig. Die Lehrerin lächelte süffisant. „Nein Roger, nicht du.“ Sie wendete sich einem schwarzhaarigen Mädchen zu, das sich jetzt wünschte, nicht anwesend zu sein. „Tanja wird uns vorlesen.“

      Nach fünf Minuten grölte die Klasse und das Mädchen weinte hemmungslos.

      Er hasste diesen kleinen Wichtigtuer, diesen Studiendirektor, der sich dazu berufen fühlte, zukünftige Lehrer auszubilden, und in seinen Seminaren nichts anderes tat, als Fachliteratur zu referieren und bei Unterrichtsbesuchen es nicht wagte, den jeweiligen Schulleitern in die Augen zu sehen. Doch nun wurde es interessant.

      Der kleine Studiendirektor war ernst geworden und sah eindringlich in sein Auditorium.

      „Niemals, meine Damen und Herren, niemals dürfen Sie eine Schwäche eines Schülers vor der Klasse öffentlich machen. Niemals. Sie dürfen niemals einen Schüler bloßstellen. Vor allem nicht vor seinen Mitschülern. Sie glauben gar nicht, was Sie damit anrichten können.“

      Eine Hand flog in die Höhe.

      „Ja bitte, Herr Doktor Wulvsen.“ Der kleine Studiendirektor wurde noch ein wenig kleiner, denn er hatte hohen Respekt vor dem Fabrikantensohn mit dem Doktortitel und das lag im wesentlichen an diesem Titel, aber auch an dem an Arroganz grenzenden Selbstbewusstsein des Doktors.

      „Seit wann ist das pädagogische Erkenntnis?“, lautete die knappe Anschlussfrage. Der Studiendirektor sammelte sich kurz.

      „Seit Comenius dürfte das einhellige Meinung sein. Zumindest in der pädagogischen Lehre und Forschung. Das können Sie bei Muth nachlesen.“ Der Kursteilnehmer nickte. „Gibt es einen besonderen Grund für Ihre Frage, Herr Doktor Wulvsen?“, wagte der Kursleiter eine Frage.

      „Nein.“, behauptete der Doktor.

      Erst sehr viel später, und zwar während seiner Ausbildung, wurde ihm also wirklich bewusst, hatte er aus berufenem Munde gehört, was er getan hatte; wobei er mitgewirkt hatte, und dass das steyersche ein ganz übles Beispiel für missverstandene Pädagogik gewesen war, und er fühlte sich schuldig, eine Rolle dabei gespielt zu haben, und dazu noch keine löbliche. Doch was hätte er tun sollen mit seinen acht, neun Jahren? Hätte er sich geweigert, hätte jemand anderes gelesen und die Schmach wäre für Tanja die gleiche gewesen. Das Einzige, was er machen könnte, wäre, sich bei Tanja zu entschuldigen.