Reiner W. Netthöfel

Tanja liest


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diesen Augenblicken damals scheibchenweise verlor. Aber dafür müsste er sie erst einmal finden und treffen.

      Roger Wulvsen war kein geborener Unternehmer. Zunächst aus kindlichem Desinteresse, und dann aus Gründen jugendlicher Opposition hatte er sich für die elterliche Firma nicht interessiert. Er liebte die Literatur und interessierte sich für gesellschaftliche Zusammenhänge, die, das erkannte er bald, von wirtschaftlicher Tätigkeit nicht nur wesentlich mitgeprägt werden, sondern deren materielle Grundlage diese ist. Diese Interessen führten dazu, dass er seine akademische Ausbildung in Fakultäten absolvierte, in denen Fabrikantenkinder eher selten anzutreffen waren, was seine Integration in gewisse Kreise, denen er sich zunächst gerne zurechnen wollte, nicht einfach machte. Die Vorbehalte der anderen gegenüber seiner Herkunft indes führten bei Roger Wulvsen nicht zu bestimmten Anpassungsprozessen, sondern dazu, dass er, aus einer Art Metasicht, diese Kreise einer genaueren Beobachtung schon bald unterzog. Das Ergebnis war, dass er zwar prinzipiell weiterhin deren Ziele für erstrebenswert hielt, nicht jedoch die vorgeschlagenen Wege dorthin, und die Erkenntnis, dass es eine ganze Menge Menschen in diesen Kreisen gab, die eher wenig authentisch diese Ziele vertraten.

      Er jedenfalls nahm sich vor, diese von ihm für prinzipiell erstrebenswert gehaltenen Ziele in dem von ihm für den einzig vernünftig befundenen gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Rahmen, und das wäre der aktuelle und über viele Jahrzehnte bewährte, nicht aus den Augen zu verlieren und, wenn möglich, auch umzusetzen, und dabei möglichst authentisch zu bleiben. Zu dieser Zeit konnte er noch nicht wissen, dass ihm dies auch zu großen Teilen gelingen, er selbst jedoch den Blick hierauf zunächst wesentlich verstellen sollte.

      Zum Ende seines Studiums war er also sozial und politisch ein Heimatloser, was jedoch durch ein tragisches Familienunglück sich ändern sollte.

      Durch jene Tragödie nämlich fiel dem jungen Mann von heute auf morgen Verantwortung zu.

      Und Macht.

      Er musste aus dem Stand sich nicht nur um das mittelständische Unternehmen der Eltern kümmern, sondern ebenfalls noch um die ähnlich großen einiger Verwandter, die auch durch das Unglück betroffen worden waren, und bewies dabei soviel Geschick, dass er innerhalb weniger Jahre hieraus einen internationalen Konzern geschmiedet hatte, dem nichts anderes als Erfolg die Zukunft versprach.

      Ob es die familiäre Tragödie, die unerwartet auf ihn zugefallene Herausforderung, die neue gesellschaftliche Stellung, seine bis dahin nicht erfolgte Festlegung der eigenen Verortung in dem sozialen Gefüge, die eigene Bindungslosigkeit, oder alles zusammen und einiges mehr waren, was seinen Charakter in jener Zeit prägte, kann für das weitere Geschehen als nicht erheblich genug gelten, um hier weiter gründlich analysiert werden zu müssen.

      Fest steht, dass er als junger Mann, fast völlig auf sich allein gestellt, Aufgaben zu bewältigen hatte, an die er zuvor nicht einmal im Traum gedacht hatte und er es mit Menschen zu tun bekam, die er vorher bestenfalls namentlich kannte.

      Jedenfalls entschied er sich, sei es aus Selbstschutz, Unsicherheit oder unbedingtem Erfolgswillen, seinen Weg mit einer gewissen Unnachgiebigkeit zu gehen, was ihm nicht immer Freude oder Freunde machte, die er aber, aufgrund fehlender früherer Festlegungen, ohnehin, mit einer späten Ausnahme, nicht hatte; allerdings fehlten sie ihm auch nicht.

      Diese Haltung erfuhr positive Verstärkung durch den Erfolg, den er zunehmend hatte, und der dazu führte, dass nicht nur er selbst sein Handeln als richtig und zielführend empfand, sondern der auch seine Umgebung veranlasste, über manches an seinem Verhalten hinwegzusehen. Die, die das nicht taten, spielten bald keine Rolle mehr, und nach einer Weile war es dann eindeutig zu spät, daran etwas zu ändern.

      Doch es wäre weit gefehlt zu meinen, er spielte eine Rolle in dem Sinne, dass er den unerbittlichen und unnahbaren Unternehmer nur gab. Er musste nichts spielen.

      Ihm war durchaus bewusst, dass sein Regiment mit früheren Verhaltensidealen wenig zu tun hatte, aber er glaubte, und das mit einigem Recht, dass er ein gerechtes Regiment führte, wobei mancher Betroffene hierzu sicher eine andere Meinung hatte.

      Roger Wulvsen, der ehedem Heimatlose, hatte sich selbst eine Heimat geschaffen, eine eigene Welt sozusagen, und die war durchaus in der Lage, der übrigen Welt, der Welt der anderen also, ihren Stempel gehörig aufzudrücken.

      Auf jeden Fall setzte er in seinem Imperium um, was er nach wie vor für richtig hielt, nämlich dass jedem Menschen eine Chance zustehe, die dann aber in eigener Verantwortung und unter Respektierung der anderen zu nutzen sei. Dass er hierbei förderte, war allerdings selten offensichtlich, weil er mit seiner Art der Förderung auch immer eine Forderung verband, da diese beiden Aspekte seiner Meinung nach unbedingt zusammengehörten, denn sein Fordern war durchaus dominant und wurde entsprechend wahrgenommen, so dass der andere Aspekt scheinbar bestenfalls ein Schattendasein führte. Hierbei spielte sicherlich sein Charakter eine Rolle, und der verbat es ihm einfach, sein förderndes Engagement zu kommunizieren, weil er auf Lob durchaus verzichten konnte. Doch diese Klandestinie sollte aufgrund späterer, zunächst zaghafter, dann intensiverer sozialer und zwischenmenschlicher Kontakte von ihm nicht aufrecht erhalten werden können.

      Martha verabschiedete sich von den Erzieherinnen und ihren kleinen Freunden und Freundinnen, dann setzte sie sich vor dem Kindergarten auf eine Bank. Ihre Tante würde in ein paar Minuten kommen und sie abholen.

      Sie hatte sich kaum gesetzt, als sie einen Mann mit einem Streifen Stoff um den Kopf in Sportkleidung auf sich zulaufen kommen sah. Er sah kurz zu ihr und lief weiter.

      Martha hatte sich ein wenig erschrocken, als sie seinen Gesichtsausdruck gesehen hatte. Einen Augenblick hatte sie daran gedacht, noch einmal in die Tagesstätte zurückzugehen, aber als er dann vorbeilief und keine weitere Gefahr von ihm auszugehen schien, änderte sie ihre Pläne.

      Ähnlich wie Martha hätten durchaus auch Erwachsene reagiert, wenn Roger Wulvsen mit grimmiger Miene auf sie zugelaufen gekommen wäre, und so hielt sich die Fünfjährige also ziemlich tapfer, als sie der Gefahr trotzte. Doch die Zeit der Prüfungen hatte erst begonnen.

      Bei gutem Wetter sah sie den Mann, dem sie zu diesem Zeitpunkt eher böse als gute Absichten zu unterstellen bereit gewesen war, nämlich fast jeden Tag, immer sah er kurz zu ihr, mitunter verfinsterte sich seine Miene, so dass sie sich hilfesuchend umsah, aber nie passierte etwas, bis er ihr, nach ein paar Tagen, freundlich zuwinkte, was sie beim dritten Mal zögerlich mit einer entsprechenden Geste beantwortete. In der zweiten Woche setzte er sich kurz zu ihr und sprach ein paar Worte mit ihr, was er dann mit schöner Regelmäßigkeit immer wieder tat. Seine Worte waren gar nicht böse und er hatte eine angenehme Stimme, aber mit Männerstimmen hatte Martha wenig Erfahrung. Und je näher Martha den grimmigen Läufer kennenlernte, desto mehr entzauberte der sich und war dem Kind ein netter Gesprächspartner und Zeitvertreiber. Doch auch er bekam etwas von Martha, ohne es allerdings zunächst zu merken.

      Martha hatte nicht das zweite Gesicht, sie war nicht übernatürlich begabt, oder so etwas. Sie war allerdings sehr intelligent, und sie war sehr interessiert an anderen Menschen, was jedoch nicht mit einer Neugier, die manchmal als unangenehm empfunden wird, verwechselt werden sollte. Ihr reichte es schon, sich mit anderen zu unterhalten, und schon vermochte sie sich ein Bild zu machen, obwohl sie erst fünf Jahre alt war. Später sollte sie diese Gabe durch ein einschlägiges Studium auch auf ein wissenschaftliches Fundament stellen.

      Nachdem Martha nun ihren ersten Schrecken überwunden hatte, begann sie, die Gespräche mit dem fremden Mann zu genießen, denn jedes von ihnen brachte ihr Roger Wulvsen, allerdings auf verschlungenen Umwegen, näher, obwohl ihre Themen von eher kindlicher Belanglosigkeit zunächst waren.

      Ihr Interesse an ihm war schon gerade deshalb geweckt, weil er ihr zunächst einen Schrecken eingejagt hatte, als sie ihn die ersten Male gesehen hatte und weil er sich später in ihren Gesprächen als nett und einfühlsam präsentierte. Und daher legten die ersten Treffen bereits Martha den Gedanken nahe, dass es sich bei dem Fremden um eine - Martha hätte dies damals anders formuliert, denn ihr Wortschatz war der eines Kindes – mindestens ambivalente Persönlichkeit handelte, obwohl sie Themen wie zum Beispiel Charaktereigenschaften überhaupt nicht ansprachen und auch Wulvsen hierzu einem Kind gegenüber