Reiner W. Netthöfel

Tanja liest


Скачать книгу

abendliche Auseinandersetzung mit seinem Freund hatte Wulvsen nicht kalt gelassen, aber dabei ging es ihm weniger um die von Jürgen betreuten Menschen, sondern um dessen Ansatz. Es war auch nicht die erste derartige Auseinandersetzung gewesen, sie hatten eben zu manchen Themen unterschiedliche Auffassungen. Aus diesem Grunde vertieften sie diese Themen bei ihren Zusammenkünften in der Regel auch nicht, aber eben manchmal schon, und dann machten sie sich gegenseitig ihre Standpunkte klar. Da beide keine missionarischen Eiferer waren, hinterließen diese Auseinandersetzungen keine bleibenden Schäden, so dass sie sich danach noch immer in die Augen schauen konnten, dennoch sah sich Wulvsen bemüßigt, seinem Freund seinen Standpunkt noch einmal schriftlich nahezubringen, ohne damit eine Entschuldigung oder Rechtfertigung zu verbinden, denn dazu sah er keinerlei Veranlassung.

      Wulvsen setzte sich also an seinen heimischen Schreibtisch, zog einen Bogen Briefpapier aus einer Schublade, denn er wollte dem Freund handschriftliche Mitteilungen machen, nahm einen teuren Füllfederhalter und begann schwungvoll, Buchstaben zu Wörtern und Worte zu Sätzen zusammenzufügen, die insgesamt einen inhaltsreichen Text ergaben.

      Er warnte Jürgen ausführlich vor den Gefahren der Sozialromantik, Schwerpunkt Romantik, und bot zum Schluss beiläufig an, mal darüber nachdenken zu wollen, ob er nicht in Zukunft darüber nachdenken könnte, Jürgens Projekte zu unterstützen, die dann aber strengstens subsidiär angelegt sein müssten.

      Wulvsen ahnte nicht, wie bald und wie sehr er in solche Projekte verstrickt werden sollte.

      Mit einem Image ist es so eine Sache. Ein Image kann etwas Zutreffendes über einen Menschen aussagen, oder den Menschen verzerren. Ein Mensch kann wesentlich selbst zu der Ausgestaltung seines Images beitragen oder es seinen Mitmenschen überlassen, sich ein solches Bild zu machen. Auf jeden Fall muss ein Image nicht in jedem Fall mit der Realität übereinstimmen, muss nicht alle Facetten eines Menschen berücksichtigen; es kann vorurteilsbehaftet sein, es kann schönfärberisch sein, es kann diskreditieren, es kann überhöhen. Kurz: der Übereinstimmungsgrad eines Image mit dem ihm zugrundeliegenden realen Charakter kann höher oder niedriger sein.

      Bei Roger Wulvsen war dieser Grad sehr hoch.

      Er galt als durchsetzungsstark bis zur Brutalität.

      Er galt als streng bis zur Menschenverachtung.

      Seine strategischen Schachzüge hatten manchmal etwas Intrigantes.

      Seine Unfreundlichkeit nannten manche Verachtung.

      Sein Beharrungsvermögen Sturheit.

      Seine Ausdauer maschinenhaft.

      Seine Ahnungen Hexerei.

      Seine Entscheidungen genial.

      Seine Kompromisslosigkeit autistisch.

      Seine Umgangsformen rücksichtslos.

      Seine Launen cholerisch.

      Seine Art der Unternehmensführung rüpelhaft zu nennen, wäre keine Übertreibung gewesen.

      Roger Wulvsen wusste das alles, und er fand, dass es hinreichend passte, ihn zu charakterisieren. Er war nämlich tatsächlich so, und er dachte gar nicht daran, etwas daran zu ändern, denn sein Erfolg bestätigte ihm jeden Tag, dass er richtig handelte, und er wusste, dass er gewissen Prinzipien folgte, und Ungerechtigkeit konnte man ihm schwerlich vorwerfen, was ihm überaus bewusst war. Den Vorwurf, ein Misanthrop zu sein, hätte Wulvsen energisch und weit von sich gewiesen.

      Ein enorm wichtiger Aspekt, den er selbst nur zu gern verdrängte und an den er nach der ersten Zeit des Erfolgs schon gar nicht mehr dachte, spielte nämlich bei einer solchen Betrachtungsweise, die er sich sehr gerne zu eigen machte, keine Rolle. Dieser Aspekt war der, dass nämlich, als der Erfolg sich einstellte, und Wulvsen auch deshalb seine Verhaltensmuster, denen er eine entscheidende Rolle in seiner Erfolgsgeschichte zuzumessen bereit war, für nicht überdenkenswert hielt, jeglicher Widerspruch langsam aber sicher erstarb. Zunächst in der Firma, dann aber auch darüber hinaus, in der Politik, der Wirtschaft und Gesellschaft, verstummten die, die zu widersprechen anfangs gewagt hatten, dann entweder durch sein robustes Verhalten oder die Tatsache, dass er fast immer Recht behielt, seinen unbedingten Erfolg, oder wegen all dieser Dinge zusammen, entweder resignierten, oder aufgaben, oder einfach begannen, ihn zu bewundern. Seine leitenden Angestellten funktionierten, sie erfüllten die ihnen übertragenen Aufgaben, was wiederum dem Erfolg des Konzerns nicht abträglich war, und das war die Hauptsache. Punktum. Widerspruch wagten sie nicht, was aber den Bilanzen nicht schadete.

      Ihm fehlte also, beruflich wie privat, das Korrektiv, wenn man von gelegentlichem Widerspruch seines Freundes Jürgen und seiner Sekretärin einmal absah; darüber hinaus hatte er schließlich kaum noch ähnlich tiefe soziale Kontakte.

      Ihn störte also nicht, dass er als, um es euphemistisch auszudrücken, schwieriger Charakter wahrgenommen wurde, denn er war ein schwieriger Charakter, und er glaubte, ohne wirklich darüber nachgedacht zu haben, dass Ereignisse in seiner Vergangenheit ursächlich dafür verantwortlich gewesen sein könnten und er dadurch den grundsätzlichen Glauben an das Gute im Menschen verloren hatte. Seit dieser Zeit nämlich, so dachte er, ohne das wirklich zu reflektieren, war er seiner Umgebung und seinen Mitmenschen nicht mehr unvoreingenommen gegenübergetreten, war nicht mehr die Blaupause gewesen, auf die jeder seinen Stempel drücken konnte. Seitdem hatte er alles und jeden einer kritischen Betrachtung zunächst unterzogen. So dachte er, und so könnte es tatsächlich gewesen sein.

      Der Kopfmensch Wulvsen fand das alles in Ordnung, und nach seiner Auffassung hätte das auch so weiter gehen können. Doch selbst die souveränsten Machtmenschen sind nicht immer in der Lage, alle Geschehnisse zu steuern. Manchmal merkt selbst diese Spezies nicht, dass ihr Dinge entgleiten, die sie voll im Griff zu haben wähnen.

      Dass er von manchen für einen Unmenschen gehalten wurde, störte ihn zunächst nicht, dann aber, ab einem gewissen Zeitpunkt, schleichend und von ihm selbst fast unbemerkt, immer mehr, so dass er Kompensation darin suchte, zunächst heimlich etwas zu tun, was gemeinhin Gutes genannt wird, und daran war ein kleines Mädchen nicht ganz unschuldig.

      Roger Wulvsen jedenfalls merkte es nicht, und als er es merkte, war es bereits zu spät, aber das machte ihm dann nichts mehr aus.

      „Rück mal, ich lege mich noch zu dir, bis du eingeschlafen bist.“ Martha machte Platz in dem für sie ohnehin zu großen Bett und Tanja legte sich neben sie. Tanja wusste, dass sie mit ihrer Nichte recht komplizierte Sachverhalte besprechen konnte; Sachverhalte, die selbst für Erwachsene nicht leicht zu durchdringen waren. Martha war zwar erst fünf, aber bei den Elternabenden der Tagesstätte hatten ihr die Erzieherinnen immer wieder versichert, wie intelligent Martha wäre. Und darüber hinaus, wie eine sich mal ausgedrückt hatte. Tanja wusste das. Sie wusste um die Intelligenz ihrer Nichte und sie wusste um das ‚darüber hinaus‘. Martha hatte manchmal etwas Magisches. Den gut gemeinten Rat, Martha auch zu Hause zu fördern, hatte sie schweigend und mit einem Lächeln entgegengenommen, hatte dann versichert, alles zu tun, was sie könnte. Aber das war eben nicht das Optimale. Bei weitem nicht.

      Martha schmiegte sich an ihre Tante.

      „Schade, dass du mir nicht vorlesen kannst.“

      „Du wirst bald selbst lesen lernen, in der Schule. Ab dem nächsten Jahr.“, sah Tanja in die Zukunft.

      „Schon, dann kann ich dir vorlesen.“, schlug Martha vor.

      Die Zeiten, in denen sie sich geschämt hatte, Ausreden erfunden hatte, weil sie ihrer Nichte nicht vorlesen konnte, waren vorüber, was fast ausschließlich der Intelligenz und dem Einfühlungsvermögen Marthas zuzuschreiben war. Es waren bittere Momente gewesen, aber eines Tages hatte Martha gesagt: „Ich verstehe schon. Du musst nicht immer traurig sein deswegen.“ Und hatte sich an sie gekuschelt.

      „Ja, so machen wir es.“ Eine Weile schwiegen sie. Dann meinte Martha:

      „Du hast doch was.“ Tanja sah an die Zimmerdecke, dann auf ihre Hände, die auf der Bettdecke lagen.

      „Ich muss eine neue Arbeitsstelle annehmen.“, nuschelte sie.

      „Warum?“